Epilog

Better go down dignified…
Robert Frost

Niemand beachtete den schwarzgekleideten Mann, der ruhig an einem Tisch in der Ecke saß. Lonnìl fand das sehr angenehm. In der letzten Zeit hatte er nur wenig Ruhe gehabt. Wo er auch hinkam - überall hatte man von ihm gehört. Die Leute wünschten ihm Glück, und kein Wirt ließ zu, daß er seine Zeche selbst bezahlte. Lonnìl hatte nie ein Held sein wollen. Sein Ziel war nur, daß endlich die Gerechtigkeit ihren Platz in der Welt fand. Es war ihm unangenehm, gefeiert zu werden, und darum war er glücklich, daß man ihn wenigstens hier noch nicht kannte. Fast alle Gäste waren um einen Tisch versammelt, der mitten im Raum stand. Lonnìl lehnte sich vor, um zu erfahren, was dort los war.
»Ihr glaubt jetzt vielleicht, ich sei besonders mutig. Aber das stimmt nicht. In meinem ganzen Leben, und ich bin ziemlich weit herumgekommen, habe ich erst einen einzigen Menschen getroffen, der wirklich mutig war, und das ist Clòn Lonnìl Dhub. Ihr wißt doch, wer das ist? Nein? Ich kann es nicht glauben! Was für ein finsterer Winkel ist dies, daß ihr noch nie von Clòn Lonnìl Dhub, dem großen Helden, gehört habt? Laßt mich von ihm erzählen …«
Diese Stimme hätte Lonnìl unter Tausenden erkannt. Aber er hatte nicht damit gerechnet, Felder noch einmal wiederzutreffen. In den vier Jahren, seit sie am Rand des Elfenwaldes in verschiedene Richtungen gegangen waren, hatte Lonnìl nichts mehr von seinem Gefährten gehört, und irgendwie wunderte es ihn, daß der Thorianer noch am Leben war. Aber dort saß Felder, gesund und ausgesprochen munter, und anscheinend war es ihm zu verdanken, daß Lonnìl eine Legende war. Lonnìl überlegte kurz, ob er hinübergehen sollte. Aber dann beschloß er, erst einmal abzuwarten. Zunächst wollte er zuhören, was Felder über ihn und seine ‘Heldentaten’ erzählte.
»Es ist nicht schwer, mutig zu sein, wenn es darum geht, die eigene Haut zu retten. Jeder von euch kann das. Aber Clòn Lonnìl Dhub ist nicht für sich selbst mutig, sondern für andere. Immer wieder riskiert er sein Leben im Kampf gegen die Ungerechtigkeit, und wenn es ihm gelungen ist, einen Sieg über einen Tyrannen zu erringen, dann zieht er weiter zum nächsten, damit es eines Tages nirgends auf der Welt mehr Unrecht gibt. Er ist der Freund aller einfachen Menschen, und darum ist er auch euer Freund. Vielleicht wird er eines Tages auch hier vorbeikommen auf seiner lebenslangen Suche - dann seid gut zu ihm. Er ist kein Gesetzloser, für den man ein stattliches Kopfgeld kassieren könnte. Hier geht es nicht um Geld. Hier geht es um Freiheit. Wer gerne einen Gesetzlosen ausliefern möchte, kann mit mir Vorlieb nehmen. Auf meinen Kopf ist ein ansehnliches Sümmchen ausgesetzt. Aber wer das versuchen will, muß mich erst mal besiegen. Also, wie ist es - wer will?«
Felder schwieg, und seine Zuhörer begannen, durcheinander zu reden. Aber keiner wollte sich darauf einlassen. Wenn Felder noch so kämpfte wie früher, dann hatten sie eine weise Entscheidung getroffen.
Das Gerede verstummte und wich zustimmendem Gemurmel, als einer der Gäste rief: »Wir wollen nicht deine Prahlereien hören! Erzähl uns mehr von diesem Clonlon!«
»Nicht Clonlon. Clòn Lonnìl Dhub. Bedeutet soviel wie ‘Kleiner Schwarzer … äh … Lonnìl’. Aber davon dürft ihr euch nicht täuschen lassen. Er ist alles andere als klein. Selbst den Größten von euch würde er noch um einen halben Kopf überragen. Aber schwarz, das stimmt. Ich meine nicht ihn selbst. Seine Haare sind nur eine Spur dunkler als meine. Er trägt diesen Namen wegen seiner Kleidung. In meinem ganzen Leben habe ich erst zwei Dinge gesehen, die schwärzer waren als die Kleidung des schwarzen Clòn Lonnìl, und die waren nicht von dieser Welt … Doch dann bemerkt man seine Augen, und die sind strahlender als alle anderen, so blau wie -«
»Du?« schlug einer der Zuhörer vor, und die anderen lachten schallend.
»War das die Ankündigung, daß du mir einen ausgeben willst, wie es sich für eine gute Geschichte gehört?« fragte Felder, als das Lachen etwas verebbte. Der Angesprochene beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen.
»Danke und zum Wohlsein!« sagte Felder und fuhr fort: »Zurück zu diesen Augen. Denkt euch das strahlendste Blau, das ihr euch vorstellen könnt, und macht es noch eine Spur blauer, dann wißt ihr, was ich meine. Große klare Augen, und wer sie sieht, weiß, daß Clòn Lonnìl Dhub nicht nur mutig und stark ist, sondern auch sehr klug. Diesen Augen entgeht nichts. Aber sie sind auch sehr ernst, und niemand hat ihn jemals lächeln gesehen. Es ist immer ein Hauch von Tragik um ihn, ohne daß man sagen kann, warum, denn Clòn Lonnìl Dhub spricht niemals über seine Vergangenheit. Außer mir gibt es keinen, der das Geheimnis seiner Herkunft kennen, und bei mir ist es gut aufgehoben. Solange ich Herr meiner selbst bin, wird kein Laut über meine Lippen kommen. He, das war jetzt keine Aufforderung, mir noch ein Bier zu spendieren! Trotzdem danke. Aber wenn ihr es schaffen wollt, mich unter den Tisch zu befördern, müßtet ihr mir schon was stärkeres bieten. Und selbst dann, zur Information für die unter euch, die auf mein Kopfgeld spitzen - selbst dann bin ich noch der beste Schwertkämpfer der näheren und weiteren Umgebung. Ah, danke. Ich wüßte niemanden, der in der Lage wäre, mich zu besiegen.«
»Nicht einmal dein großer Clòn Lonnìl Dhub?« fragte jemand.
Felder lachte. »Nicht einmal mein großer Clòn Lonnìl Dhub, und ich will dir auch sagen, warum. Lonnìl würde mich nicht besiegen, weil er nicht gegen mich kämpfen würde. Er kämpft nicht aus Vergnügen, sondern nur, wenn es sich nicht anders vermeiden läßt. Er ist stets kühl und besonnen, und vor allem gerecht. Er würde nicht gegen einen Betrunkenen kämpfen, ebenso wie er nicht mal den fiesesten Grafen hinterrücks erschlagen würde. Seine Gegner besiegt er immer in einem fairen Kampf. Abgesehen davon ist er einer der besten Kämpfer der Welt, und ich muß es wissen, denn er war es, der mich lehrte, ein Schwert zu führen.«
Was bezweckte Felder mit diesen Lügen? Warum verdrehte er alle Tatsachen, und worauf wollte er hinaus?
»Ich habe Clòn Lonnìl Dhub mehrmals vorgeschlagen, ihn zu begleiten und meine Klinge in seinen Dienst zu stellen, aber er ist ein einsamer Streiter. Außerdem wußte er, daß ich mein Herz niemals so sehr in diese Mission hängen könnte wie er. Sie erfordert einen ehrlichen Menschen, und was noch mehr ist, einen ehrenwerten Menschen, und ihr werdet mit unbesehen glauben, daß ich beides nicht bin. Also bin ich statt dessen ein gefürchteter Räuber geworden. Aber wann immer ich ihn treffe, gebe ich ihm von dem Geld, das ich den Reichen abgenommen habe, auf daß er es unter der notleidenden Bevölkerung verteilt, die es so nötig braucht.«
Fast wäre Lonnìl nun aufgesprungen und hätte sich zu erkennen gegeben. Diese Lüge war zu unverschämt! Aber im letzten Moment hielt er sich zurück. Solange er nicht wußte, was Felder vorhatte, würde Lonnìl abwarten. Er machte sich Sorgen, was seinen Namen anging. Plötzlich fiel ihm ein, was Keil und Morren damals erzählt hatten: Daß derjenige, der seinen wahren Namen kannte, damit Macht über ihn hatte. Und hier saß Felder und verkündete Lonnìls wahren Namen in aller Welt. Woher kannte er ihn? Lonnìl mußte unbedingt mit Felder sprechen, wenn dieser mit seiner Geschichte fertig war - und sofern Felder dann noch nüchtern genug war, um ihn zu verstehen.
»Jetzt wißt ihr also, daß selbst in so einer schändlichen Brust wie der eines Wegelagerers noch ein Herz schlägt. Ihr seht, ich mache keine Hehl daraus, was ich bin. Ich bin sogar relativ stolz darauf, abgesehen davor, daß es mir so gefällt. Ich denke, euch kann ich da vertrauen. Ihr scheint mir anständige Leute zu sein. Von euch würde ich keinen ausrauben, das wißt ihr ja. Ich könnte euch einiges über mein Leben erzählen, aber abgesehen davon, daß ihr das gar nicht hören wollt, behalte ich es auch lieber für mich. Der einzige Mensch, der mich wirklich kennt, ist mein Freund Lonnìl. Er könnte euch sogar sagen, was mit meinem Auge passiert ist. Falls es euch interessiert … nun, ein besonders mutiger Mensch könnte auch die Idee kommen, diese Binde zu lupfen und selbst nachzusehen. Ein besonders mutiger … und besonders lebensmüder Mensch. Dies bleibt mein kleines Geheimnis, und es ist bei Lonnìl gut untergebracht - ebenso wie seines bei mir. Ich weiß alles über seine Herkunft und über seine unglückliche Liebe, aber ich würde es euch niemals verraten. Nein, wirklich, nicht einmal euch, obwohl ihr feine Kerle seid, das muß ich sagen … Herzlichen Dank auch. Ich verrate euch das Geheimnis trotzdem nicht. Wenn ihr ihn eines Tages trefft, und ihr seid klug, was ihr ja seid, wie ich vermute, dann könntet ihr es sogar selbst herausfinden, wenn ihr euch sein Schwert genauer anschautet. Aber selbst dann würde es euch nur etwas bringen, wenn ihr neben eurer Klugheit auch so etwas wie Bildung besäßet und schon von dem versunkenen Reich gehört hättet … Ihr wißt, wovon ich rede? Nicht? Ihr entsetzt mich. Laßt mich erzählen.
Es ist noch nicht einmal lange her, da gab es nordwestlich von hier ein prächtiges Land, das Königreich Thoria. Es war kein besonders großes Land, aber von überwältigender Schönheit, und die Menschen, die dort lebten, waren sehr glücklich. Es wurde von einem guten und weisen König regiert, der einen Sohn hatte. Diesen Prinzen zog es in die Welt hinaus, denn er wollte wissen, wie die Menschen in den anderen Ländern lebten und was man von ihnen lernen könnte. Tief in seinem Inneren hegte er den Wunsch, alle Völker der Welt zu einem mächtigen zu vereinen. So reiste er einige Jahre umher und lernte viel. Aber eines erfuhr er nicht, denn kein Mensch ahnte, daß die Kräfte der Dunkelheit es auf das Land Thoria abgesehen hatten und es unbedingt besitzen wollten. Und als der alte König starb, nutzten diese finsteren Mächte die Gelegenheit und zogen Thoria hinab in die ewige Finsternis. Kurze Zeit später kehrte der Prinz zurück, denn düstere Träume plagten ihn und kündigten den Tod seines Vaters an. Aber als der Prinz nach Hause kam, war es bereits zu spät. Es gab kein Thoria mehr. Dort, wo einst das blühende, fruchtbare Land lag, ist heute nur mehr eine neblige Ödnis, die man die Moore nennt, obwohl es keine richtigen Moore sind. Was dort ist, möchte niemand wirklich wissen. Diese mutigen und lebensmüden Menschen, die ich vorhin erwähnt habe, können gerne einmal eine Reise dorthin unternehmen. Aber ich würde um nichts in der Welt mitkommen mögen.
Als der Prinz sah, was mit dem Land geschehen war, überfiel ihn Entsetzen, und er machte sich sofort auf, um Thoria aus den Händen der Dunklen zu befreien und sein verlorenes Volk wiederzufinden. Denn die Dunklen nahmen nur das Land und setzten die Bewohner in unsere Welt des Lichtes zurück. Aber selbst, wenn der Prinz sie eines Tages findet, wird er sie nicht mehr retten können, denn ihre Sinne sind verwirrt. Seit jenem Tag irren sie durch die Welt und wissen nicht, was mit ihnen geschieht, und man nennt sie die Thoren …«
An dieser Stelle machte Felder eine dramatische Pause. Lonnìl konnte zwar sein Gesicht nicht sehen, aber er hatte das Gefühl, daß der Thorianer die Spannung genoß, die er aufgebaut hatte. Er erzählte seine eigene Geschichte wie ein Märchen, an das er selbst nicht glaubte. Keiner der Zuhörer sagte etwas oder wagte auch nur, sich zu räuspern. Schließlich lachte Felder vergnügt auf.
»Jetzt habt ihr euch aber mal gegruselt, nicht wahr? Ich kann es immer noch nicht fassen, daß ihr noch nie davon gehört hattet. Aber ihr lebt hier auch ab vom Schuß, ihr Armen. Ich denke nicht, daß ich lange in dieser Gegend bleiben werde. Hier kommt kaum jemand vorbei, den auszurauben sich lohnen würde. So, das war jetzt meine Geschichte. Ihr könnt verschwinden, wenn keiner von euch Lust hat, noch eine Runde auszugeben.«
»Und was wurde aus dem Prinzen?« fragte jemand. »Ist er es, der jetzt unter dem Namen Clòn Lonnìl Dhub für die Gerechtigkeit kämpft?«
»Das habe ich niemals behauptet«, sagte Felder. »Und selbst, wenn dem so wäre, würde ich es dir nicht unter die Nase binden. Es ist ein Geheimnis, verstehst du? Nein, ich verrate euch nur soviel:« Er senkte seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Das Schwert, welches Clòn Lonnìl Dhub an seiner Seite führt, wurde vom besten Schmied des Landes Thoria gefertigt. Und jetzt haut ab.«
Das also war es. Felder war sehr geschickt vorgegangen, das mußte Lonnìl zugeben. Er hatte nicht ein einziges Mal direkt behauptet, Clòn Lonnìl Dhub sei der Prinz von Thoria, und doch glaubten es jetzt alle. Gleichzeitig würde niemand auf die Idee kommen, daß Felder selbst jemand anderes war als der, für den er sich ausgab, und in gewisser Weise war er das tatsächlich nicht. Dieses Märchen würde sich jetzt auch ohne Felders weiteres Zutun verbreiten.
Trotzdem, oder gerade deshalb, war Lonnìl wütend auf Felder. Ihm gefiel sein neues Bild ganz und gar nicht. Berühmt zu sein war unangenehm genug, aber Prinz sein - das war etwas, dessen Lonnìl sich geschämt hätte.
Da Felder nicht bereit war, noch ein weiteres Wort über den Helden zu verlieren - obwohl man ihn drängte, mehr von dieser angedeuteten unglücklichen Liebe zu erzählen - ließen die Leute irgendwann von ihm ab und verteilten sich wieder über die Gaststube. Jetzt saßen sie in Grüppchen zusammen und tranken, und niemand achtete auf Lonnìl, als er seinen Winkel verließ und zu Felder hinüberging.
Wenn er nicht gewußt hätte, daß es Felder war, hätte Lonnìl ihn vermutlich nicht erkannt. Er trug wieder die dunkle Augenbinde, die seine Narbe verbarg, und außerdem hatte er sich einen kurzen Vollbart wachsen lassen, was sein Gesicht sehr veränderte und ihn älter machte. Seine Kleider wirkten, als ob er sie vor einiger Zeit einem reichen Mann abgenommen hatte, auch wenn das pelzbesetzte Wams jetzt fleckig war und verschlissen. Felder war, wie er es sich gewünscht hatte, ein Räuber, und genauso sah er jetzt aus. Das Schwert lag vor ihm auf dem Tisch, griffbereit, aber Felder machte nicht den Eindruck, als ob er noch viel damit anfangen könnte. Er war in sich zusammengesunken, und nur die Tatsache, daß er einen umgefallenen Krug mit den Händen hin und her rollte, zeigte, daß er noch wach war. Lonnìl zog sich trotzdem einen Hocker heran und setzte sich zu ihm an den Tisch. Felder mochte zwar riechen wie eine Destille und keinen Anteil an seiner Umgebung nehmen, aber gerade war er noch munter, und Lonnìl kannte ihn gut genug, um zu wissen, wie gerne er sich verstellte.
»Felder, aufwachen!« sagte er leise und schüttelte ihn vorsichtig an der Schulter, wobei er darauf achtete, daß sein Gegenüber nicht zur Seite kippte. Felder schaute auf und starrte Lonnìl glasig an.
»Wie … wer … was’n los? … Lonnìl?« Immerhin hatte er ihn wiedererkannt. Lonnìl wollte gerade etwas sagen, als er merkte, daß Felder noch nicht fertig war. Er kniff die Augen mehrmals kräftig zusammen und schüttelte kurz den Kopf. Dann blickte er sich verstohlen nach den Seiten um. Als er Lonnìl wieder ansah, grinste er. Seine ganze Haltung hatte sich gestrafft, so daß es nicht mehr aussah, als würde er jeden Moment vom Hocker fallen, und sein Auge war nicht mehr glasig, sondern glänzend. »Es ist mir jedesmal eine Freude, dich wiederzutreffen, auch wenn wir uns seit sieben Jahren nicht mehr gesehen haben.«
»Vier«, sagte Lonnìl. »Es ist erst vier Jahre her.«
»Du hattest vier Jahre, mein Freund. Ich hatte sieben. Vergiß nicht, daß ich schneller bin als du. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin bald fertig. Daher ist es schön, daß du es noch geschafft hast, mich zu treffen. In einen Jahr - deiner Zeit - dürftest du vielleicht weniger Glück haben.«
Er fiel wieder in sich zusammen. Lonnìl sah ihn unschlüssig an.
»Sag mal, wie betrunken bist du wirklich?« fragte er vorsichtig.
Felder lachte und schob langsam seine Augenbinde hoch, um Lonnìl einen Moment lang geheimnisvoll anzublicken. Dann zog er sie wieder herunter. »Rate!«
»Nicht halb so sehr, wie du die Leute hier glauben machen willst«, vermutete Lonnìl und hoffte, daß er richtig lag, »auch wenn ich lieber nicht wissen möchte, wieviel du heute schon getrunken hast.«
»Du bist fürwahr ein kluger Mensch. Von dem, was ich heute getrunken habe, lägest du vermutlich dreimal unter dem Tisch. Was mich betrifft - ich bin kaum betrunken. Noch weitaus weniger als halb so sehr. Gerade genug, um mich wohlzufühlen. So, wie ich es schon immer gemocht habe. Aber ich warte darauf, daß einer von den Kerlen hier mich für soweit hinüber hält, daß er mich angreift, wegen des Kopfgelds, du weißt schon, und sein blaues Wunder erlebt. Ich brauche etwas körperliche Ertüchtigung. Meine letzten Opfer waren derartige Jammerlappen, daß sie beim Anblick meines Schwertes schon tot umfielen. Du hättest nicht zufällig Lust …«
»Clòn Lonnìl Dhub kämpft nur, wenn es unbedingt sein muß, und niemals gegen Betrunkene«, sagte Lonnìl.
»Im Vergleich zu dir ist jeder betrunken«, erwiderte Felder. Dann erst erkannte er die Worte als seine eigenen wieder. »Du hast also zugehört? Gute Idee, nicht war? Du brauchst mir nicht zu danken. Es hat mir Spaß gemacht.«
»Das glaube ich dir aufs Wort. Aber mir hat es keinen Spaß gemacht, und du müßtest eigentlich wissen, daß ich Lügen nicht ausstehen kann.«
»Oh, es war nicht direkt gelogen - außer natürlich, wo ich behauptet habe, du wärst immer kühl und besonnen und hättest mir das Schwertkämpfen beigebracht, aber ich fand, so macht es sich irgendwie besser.«
»Und was ist mit dem Geld? Was ist mit dem Geld, das du mir angeblich gibst, wann immer wir uns treffen? Ich würde dich am liebsten verprügeln!«
»Das wolltest du schon immer. Das Geld ist hier. Ich habe nicht gelogen. Wann immer ich dich treffe, gebe ich dir Geld. Ich kann doch nichts dafür, daß ich dich vorher nicht getroffen habe. Jetzt bist du hier, und ich gebe dir das Geld. Das mache ich freiwillig. Niemand zwingt mich dazu. Ich will dir helfen.«
Er nestelte einen Beutel vom Gürtel los, und gab ihn Lonnìl in die Hand. Aber dieser schob ihn sofort wieder zurück.
»Ich will dein schmutziges Geld nicht. Ich bin nicht auf die Hilfe von Räubern angewiesen. Mach damit, was du willst, aber laß mich in Frieden.«
Felder nahm das Geld, aber er war sichtlich enttäuscht. Nein, mehr noch - er wirkte traurig. Dann zuckte er die Schultern.
»Ich kann dich nicht zwingen. Aber ich hatte gedacht, ich bringe einmal noch etwas Nützliches zustande. Irgendwie ist es ein blödes Gefühl, wenn sich dein Leben dem Ende zuneigt, und du plötzlich merkst, daß du die ganze Zeit noch nie etwas Gutes getan hast. Ich raube nur die Reichen aus und würde gerne alles den Armen geben, aber es ist, wenn sie es von dir bekommen. Sie haben Angst vor mir, fürchte ich. Willst du es jetzt?«
Lonnìl zögerte noch immer. Natürlich war es ein verständlicher Gedanke, daß ein Mensch im Leben zumindest etwas Gutes getan haben wollte. Aber er paßte nicht so recht zu Felder. Und überhaupt - Ende des Lebens?
»Was soll das heißen, dein Leben neigt sich dem Ende zu? Du bist noch keine dreißig, wenn ich das richtig im Kopf habe.«
Es war schwer zu glauben. Felder sah aus wie weit über vierzig.
»Ich bin neunundzwanzig, aber du weißt, daß die Jahre nicht zählen. Ihr konntet mich damals nicht oft genug darauf hinweisen, daß ich mich zugrunde richte, und genau tue ich. Schau mich doch an! Ich bin ein berüchtigter Wegelagerer. Auf meinen Kopf ist eine Stange Geld ausgesetzt. Ich gerate fast täglich in Gefechte mit Leuten, die meinen Tod wollen. Es laufen genug Ehemänner herum, die sich an mir rächen wollen für etwas, das nur bedingt mit Wegelagerei zu tun hat. Und zusätzlich trinke ich jeden Tag Mengen, die andere Leute umbringen würden, und das nicht einmal, um mich besinnungslos zu besaufen, sondern nur, um mich wohl zu fühlen. Ich bin am Ende, verstehst du? Ich schaffe das vielleicht noch ein Jahr lang. Dann ist Sense.«
»Dann hör auf damit!« sagte Lonnìl. »Noch bist du nicht tot. Noch kannst du dein Leben ändern. Niemand zwingt dich, so weiterzumachen.«
»Es ist interessant, wie sich die Vorzeichen mit der Zeit ändern. Früher habt ihr gesagt ‘Du machst dich kaputt’, und ich habe gesagt ‘Nichts da’. Jetzt sage ich ‘Ich bin kaputt’, und du sagst ‘Nichts da’. Ich könnte nicht aufhören, selbst wenn ich wollte. Und ich will immer noch nicht. Es ist abwechslungsreich genug, um mir Spaß zu machen. Ich bin ein weitaus besserer Räuber als König, das kannst du mir glauben. Ich bin kaputt, aber glücklich, wenn du verstehst. Ich habe es nie anders haben wollen. Ich bin ein Schiff, das mit vollen Segeln über den Rand der Welt hinaus schießt - hat Morren einmal gesagt. Weißt du, was er jetzt macht?«
Das mußte Lonnìl verneinen. Und er wollte es auch nicht wissen. Er war froh, daß er an diesem Tag nicht den Zauberer getroffen hatte. Felder bot zwar ein Bild des Jammers, aber irgendwie waren sie Freunde gewesen, und sie waren es noch immer. Morren tat Lonnìl nicht leid. Aber um Felder war es schade. Er hatte ein vielversprechendes Leben weggeworfen, und nur, weil unter seinen Begabungen nicht die war, ein Land zu regieren.
Felder betrachtete ihn interessiert, dann begann er zu lachen. »Mach dir nichts vor. Ich brauche dir nicht leid zu tun. Ich hatte mein Leben, und auf meine Art bin ich fast so alt wie Morren. Jetzt nimm das Geld. Es ist von den Reichen, und die Armen können es brauchen und scheren sich nicht darum, was mit den Vorbesitzern passiert ist. Ich kann es eh nur vertrinken. Morgen besorge ich mir neues. Nimm es oder laß es, ich werde es heute nacht so oder so los. Wenn du schon keine Armen retten willst, dann rette zumindest mich.«
Als Lonnìl das Geld, wenn auch zögerlich, nahm, begann Felder zu lachen, und Lonnìl merkte zu spät, daß er schon wieder auf ihn hereingefallen war.
»He, Wirt!« rief Felder. »Bring mir und meinem Freund noch einen Krug Wein!« Er warf ein paar Münzen auf den Tisch - offenbar hatte er doch noch genug für sich selbst behalten.
Lonnìl machte eine abwehrende Handbewegung. »Danke - aber ich will nichts!«
Wieder umschattete Enttäuschung Felders Augen. »Wir sehen uns wieder, nach so vielen Jahren, und du willst nichts mit mir trinken? Ich erwarte nicht, daß du dich mit mir besäufst. Ich habe keine Probleme damit, das allein zu tun. Aber einen Becher kannst du nicht ablehnen!«
Dagegen wußte Lonnìl nichts zu sagen. Der Wein kam, und Felder hob seinen Becher. »Auf unsere Freundschaft!« Noch bevor Lonnìl den ersten Schluck trinken konnte, schenkte Felder sich nach. »Ein scheußliches Zeug, nicht mit dem zu vergleichen, was es früher bei uns gab. Aber besser als nichts. Schmeckt er dir?« Lonnìl nickte aus Höflichkeit. »Gut. Trink viel davon, wenn du mich retten willst. Alles, was du trinkst, kann mir nicht mehr schaden.« Er lachte ein wenig lauter, als Lonnìl, der nicht auffallen wollte, lieb war. »Ich sehe das schon - du die ganzen Jahre über nur Dünnbier getrunken, stimmt’s?«
Lonnìl schwieg. Er hatte gehofft, dieses Wiedersehen wäre ein Grund für Felder, einen Abend lang leidlich nüchtern zu bleiben. Aber das Gegenteil war der Fall. Einen Krug nach dem anderen ließ Felder kommen, und Lonnìl hatte alle Hände voll damit zu tun, sich nicht mehr als ein paar Becher davon aufschwatzen zu lassen. Er trank sonst soviel Wein, und bald begann er auch, seine Wirkung zu spüren. Kein unangenehmes Gefühl, das mußte Lonnìl zugeben, und er ahnte, was Felder mit Wohlfühlen meinte. Aber er begriff auch, daß es an der Zeit war, aufzuhören. Den nächsten Becher, den Felder ihm einschenkte, rührte er nicht an. Felder zuckte die Schultern und trank allein weiter. Bald war es nicht mehr nötig, daß er irgend jemandem etwas vorspielte.
Sie saßen trotzdem noch bis tief in die Nacht hinein zusammen und unterhielten sich. Felder war begierig zu hören, was Lonnìl in den letzten Jahren gemacht hatte, und zeigte sich eine Spur zu begeistert, um ihn wirklich ernst zu nehmen. Aber wenn selbst das Schicksal Thorias für ihn jetzt nicht mehr als eine Gruselgeschichte war, so war das nicht weiter verwunderlich.
Felder redete gerade wieder munter vom Sterben, als Lonnìl noch etwas einfiel. »Mein Name!« unterbrach er ihn. »Woher kennst du meinen Namen?«
Felder stierte ihn an. »Weil du ihn mir gesagt hast?«
»Da hast mich Clòn Lonnìl Dhub genannt!«
»Ach, das!« Felder gluckste. »Hab ich mir ausgedacht. Klingt doch gut, nicht wahr? Dachte, es lenkt vielleicht davon ab, daß Lonnìl Hase bedeutet. Clòn Lonnìl Dhub - das ist ein guter Witz, nicht wahr?« Er versuchte ihn zu knuffen und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Lonnìl schloß die Augen. Sein Name wurde in aller Welt verbreitet, und es war zu spät, dem Einhalt zu gebieten. Damit mußte er leben. Außerdem konnte es kein Zufall sein. Lonnìl glaubte nicht mehr an Zufälle.
Später wurde das, was Felder redete, immer unzusammenhängender, und Lonnìl hatte große Probleme, seinen Sprüngen zu folgen. Zwar kreisten Felders Gedanken auch jetzt immer noch in erster Linie um seinen bevorstehenden Tod, aber es war nicht ganz klar, in welcher Hinsicht. Manchmal brach er mitten im Satz ab oder fing an zu singen, Teile eines Trinklieds, an das Lonnìl sich noch gut erinnern konnte. Aber nun bekam es einen völlig neuen Sinn.

Mit all dem Geld, das ich gehabt,
lud ich nur gute Freunde ein.
Den Schaden all, den ich gebracht,
den bracht ich doch nur mir allein.
Und das, was ich aus Spaß getan,
das hat mir auch viel Spaß gemacht.
So füllt mir noch den letzten Krug,
euch allen eine gute Nacht.

Den Freunden all, die ich gekannt
tut nun mein Abschied bitter leid.
Und all die Mädchen so charmant
wärn froh, hätt ich doch noch mehr Zeit.
Doch ist es für mich Zeit zu gehn,
und hätt ich gern noch mehr gelacht:
Bleibt sitzen, Freunde, ich muß fort.
Euch allen eine gute Nacht.

Seine Stimme war noch genauso kraftvoll wie früher, und wenn er auch schon ziemlich betrunken war, sang er doch immer noch gut - vor allem aber laut. Doch außer Lonnìl schien niemand auf ihn zu achten.
Felder nötigte ihm auch das Versprechen ab, sich in genau einem Jahr am selben Ort wiederzutreffen. Lonnìl stimmte zu, aber er war sich nicht sicher, ob er sich auf dieses Wiedersehen freuen würde.
»Und wenn ich nicht komme«, sagte Felder, »dann kümmer dich ab und zu um meinen Sohn.«
»Was für einen Sohn?« fragte Lonnìl verwirrt.
»Ach, irgendeinen. Welcher dir am besten gefällt. Wenn sie Glück haben, kommen sie nach ihren Müttern. Aber wenn nicht - dann paß auf ihn auf, ja? Versprichst du es mir? Du bist der beste Freund, den ich jemals hatte und der kein Geld dafür haben wollte. Ich habe noch nie einem Menschen so sehr vertraut wie dir. Bitte.«
Lonnìl zögerte, bevor er darauf einging. Wenn Felder sich so sicher war, daß er innerhalb des nächsten Jahres sterben würde, dann würde ihm das auch gelingen. Er legte es zu sehr darauf an, umgebracht zu werden, wenn er überall herumerzählte, wie hoch sein Kopfgeld war. So, wie er jetzt auf dem Tisch hing, würde er seinem Mörder keine Probleme mehr bereiten. Vermutlich war es wieder eins seiner Spiele: Er setzte sich selbst als Köder aus, und wer zu früh am Abend anbiß, hatte Pech gehabt. Ansonsten war das Pech eben auf Felders Seite.
Aber zumindest in dieser Nacht würde ihn niemand umbringen. Lonnìl mietete für sie beide ein Kammer, und es gelang ihm sogar, Felder zum Schlafengehen zu bewegen.
»Traurig, sowas«, meinte der Wirt, als er Lonnìl half, Felder die steile Treppe hinaufzuschaffen. »Kenne ihn schon seit einigen Jahren, auch wenn er dich vorher noch nie erwähnt hat. Netter Junge, meine Tochter mag ihn auch. Er hätte sicher mal was Besseres werden können. Aber es ist halt nicht jeder ein Prinz wie du.«
Vor Überraschung und Entrüstung hätte Lonnìl fast seinen Freund fallen lassen, aber er fing sich schnell wieder und fragte nur: »Wie kommst du denn darauf?«
Der Wirt gab nur ein glucksendes Lachen von sich und zwinkerte ihm zu. Auch er hatte Felders Erzählung gelauscht und wußte jetzt, wen er vor sich hatte. Lonnìl wünschte sich ein weniger auffälliges Aussehen, aber er konnte weder seine Größe, noch seine blauen Augen verbergen, und er war dazu verdammt, immer nur schwarze Kleidung zu tragen - ein letztes ‘Abschiedsgeschenk’ von Morren, bevor er ihm das schreckliche Geheimnis enthüllt hatte. Aber selbst wenn Lonnìls Familie von umherstreunenden Räubern getötet worden war - Räubern wie Felder? -, so hatte Graf Oban doch genug verbrochen, um den Tod zu verdienen.
Am nächsten Morgen trennten sich ihre Wege. Lonnìl wußte, daß er einen weiteren Tag mit Felder nicht ausgehalten hätte, und so verließ er den Gasthof am Vormittag, noch bevor sein Freund aufgewacht war. Der Wirt wünschte ihm noch viel Glück auf seiner Reise und bei seiner Arbeit und war entrüstet, als Lonnìl ihm für die Übernachtung Geld geben wollte - er wußte, was er einem ‘großen Helden’ schuldig war.
Bald wußte es auch jeder andere. Es war nicht mehr nötig, daß Felder die Geschichten verbreitete. Sie trugen sich von selbst, und bald hatte Clòn Lonnìl Dhub zumindest in den Erzählungen der Leute mehr Abenteuer erlebt als irgendein Sterblicher vor ihm. Lonnìl war zu dem Helden geworden, der er nie hatte sein wollen.

Etwas mehr als ein Jahr nach diesem Treffen reiste Clòn Lonnìl Dhub zum zweiten Mal in seinem Leben in die Moore von Thoria. In seiner Hand hielt er das Schwert, welches einmal der beste Schmied des versunkenen Landes hergestellt hatte. Er wanderte tief in den Nebel hinein und stieß das Schwert bis zum Heft in die tote Erde.
Dann ging er davon.

Es gibt kein glückliches Ende
weil nichts endet.

Die Navigation fixieren ·  nicht fixieren (erfordert aktiviertes Javascript)
Diese Website wertet Statistiken aus mit Piwik.
© 2005 - 2010 by Maja Ilisch. All Rights Reserved.