Heard melodies are sweet, but
those unheard are sweeter
John Keats
Hier waren Drachen.
Natürlich waren sie vor langer Zeit gegangen, aber ihre
Anwesenheit war immer noch spürbar, kaum daß die
mächtigen roten Felsen in Sichtweite kamen. Und je mehr sich
die drei Suchenden ihnen näherten, desto stärker wurde
das Gefühl, etwas Altes, Mächtiges mitzuerleben. Solche
Berge hatte Keil noch nie gesehen. Normale Gebirge pflegten sich
anzukündigen: Das Land wurde zuerst wellig, dann hügelig,
bis es schließlich in immer höheren Bergen gipfelte.
Aber die Landschaft, die vor den Glühenden Höhen lag, war
vollkommen flach, so daß die abrupt daraus aufragenden Felsen
nur noch größer und sehr bedrohlich wirkten. Im Osten
grenzten sie direkt an das Meer. Keil fragte sich, was wohl hinter
ihnen liegen mochte. Sie waren zu hoch, um sie zu übersteigen,
und es gab auch keinen Weg, der zwischen ihnen hindurch
führte. Einige der steinernen Kolosse stießen fast
zusammen, andere lagen mit einigem Anstand zueinander. Ihre
zackigen Kämme waren unüberwindbar.
Aus leicht verständlichen Gründen mieden die Menschen
dieses Gebiet. Es war schon einige Tage her, seit sie die letzte
Siedlung hinter sich gelassen hatten. Aber in direkter Nähe
der Höhen gab es auch keine anderen Tiere, keine Bäume,
kein Gesträuch. Und doch war es anders als in Thoria. Dieses
Land war nicht tot. Das Leben lag in den Bergen selbst. Nach all
der Zeit gehörte dieser Teil der Welt noch immer den
Drachen.
Die Glühenden Höhen glühten nicht wirklich,
zumindest jetzt nicht mehr. Aber es stimmte, daß sie eine
eigene Wärme verbreiteten. Als Keil eine Hand auf das
rötlich schimmernde Gestein legte, konnte er es genau
fühlen. Dies war kein kalter, toter Stein. In ihm wohnte
Leben, für immer dort eingeschlossen seit einer Zeit, die
unvorstellbar weit zurücklag. Und dennoch waren es eindeutig
Felsen.
»Viele Jahre sind vergangen, seit ich zum letzten Mal hier
gewesen bin«, sagte Morren, und es klang ein wenig
wehmütig, so als ob er sich manchmal die alten Epochen
zurücksehnte. »Die Welt hat in der Tat etwas
Großes verloren, als die Drachen gingen.«
Alle gingen einfach fort: Die Drachen, die Hohen …
Bedeutete ihnen die Welt denn gar nicht?
»Aber wohin gingen die Drachen?« fragte Keil.
»Du mußt es doch wissen! Du bist
dabeigewesen!«
»Ich war kein Drache mehr, als die Drachen gingen«,
antwortete Morren. »Ihre Zeit war abgelaufen. Aber du hast
Recht. Ich weiß es. Sie kamen hierher.«
Sonderbare Felsen von seltsam roter Farbe mit scharfen, gezackten
Kämmen … Als Keil sie jetzt noch einmal ansah, waren
sie keine Berge mehr. Er konnte ihre mächtigen Schwingen
sehen, im Schlaf dicht an den Körper angelegt. Ihre Köpfe
hielten sie mit den langen, schlanken Hälsen darunter
verborgen … Und es waren so viele! Alle Drachen, die jemals
gelebt hatten, waren hierhergekommen, um zu schlafen. Sie
würden nie wieder aufwachen. Mit der Zeit waren ihre
Körper zu Stein erstarrt. Doch in ihrem Innersten waren sie
noch heiß.
»Sie sind nicht tot, nicht wahr?« fragte Keil. Dann
bemerkte er Schwinges Gesichtsausdruck. Sie hatte es ebenfalls
erkannt. Ebenso wie Keil vermochte sie Leben zu erkennen, und als
Jägerin hatte sie ein Auge dafür, welches Ding in der
Natur in Wirklichkeit ein Tier war - welches Blatt eine
Heuschrecke, welcher Stein eine Erdkröte, welcher Fels ein
Drachen. Sie sagte nichts, aber ihre Augen waren
überwältigt von diesem tödlich schönen
Anblick.
»Warum hast du es uns noch nicht vorher gesagt,
unterwegs?« wollte Keil wissen. »Du hattest so viel
Zeit, es uns zu erzählen.«
»Ich wollte, daß ihr es selbst herausfindet«,
sagte Morren. »Und so wie euch ergeht es vielen. Selbst die
Menschen spüren, daß dies keine wirklichen Berge sind,
auch wenn sie nicht wissen, was sie sind. Diese Anwesenheit
von fremden Leben macht ihnen Angst. Darum meiden sie diese Gegend.
Aus gutem Grund, wenn ich sagen darf. Die Drachen schlafen zwar
für alle Ewigkeit. Aber manchmal … träumen
sie.«
»Und was passiert dann?« fragte Schwinge.
»Dann speien sie Feuer.«
Unwillkürlich trat Keil einen Schritt zurück, obwohl
sich keiner der Drachenberge zu rühren drohte, und selbst
wenn, so hätte ihn dieser eine Schritt wohl kaum in Sicherheit
gebracht.
Schwinge dagegen ging noch näher auf den Felsen zu und legte
beide Handflächen fest auf die wärmende Oberfläche.
»Aber das ist nicht alles«, sagte sie.
Der Zauberer blickte sie erstaunt an. »Wie bitte?«
»Warum sind die Drachen gegangen? Warum haben sie sich
schlafen gelegt, um nie wieder aufzuwachen?«
»Es wundert mich, daß plötzlich auch du solche
Fragen stellst. Von Keil bin ich sie gewohnt. Aber die Antwort ist
einfach: Die Hohen kamen, und die Zeit der Drachen war
vorbei.«
»Warum sind die Drachen gegangen?« fragte Schwinge
noch einmal. »Warum haben sie nicht gekämpft? Warum
haben sie aufgegeben?«
»Jetzt begreife ich, warum diese Frage von dir gekommen
ist«, sagte der Zauberer, aber er gab immer noch keine klare
Antwort, bis Schwinge ihre Frage zum dritten Mal wiederholte.
»Woher wußten die Drachen, daß ihre Zeit
wirklich vorbei war?«
»Die Zauberer waren die ersten, die es bemerkten«,
erzählte Morren schließlich. »Und wir, die wir
damals noch das Aussehen der Drachen hatten, veränderten uns
und nahmen die Gestalt der Hohen an. Dies bemerkten die Drachen,
und sie begriffen, daß sich die Zeiten geändert hatten.
Deswegen kamen sie hierher und legten sich schlafen.«
»Und jetzt«, sagte Schwinge bitter, »haben die
Zauberer das Aussehen der Menschen angenommen, und die Alifwin sind
es, die gehen.«
»Wir gehen nicht wirklich«, entgegnete Keil.
»Wir bleiben wach und lebendig und ein Teil dieser Welt. Nur
die Menschen werden denken, wir wären gegangen.«
»Das ist dasselbe«, sagte Schwinge. »Es war
richtig von dir, Morren, uns hierher zu bringen, selbst wenn die
Flöte nicht hier sein sollte. Ich glaube, wir haben hier etwas
Wichtiges gelernt.«
»Möglicherweise«, meinte Morren. »Alles,
was wir jetzt noch tun müssen ist, die Flöte zu finden -
wenn sie hier ist.«
Keil blickte wieder hinauf zu den roten Steinzacken. Vielleicht
wäre es besser gewesen, wenn Felder bei ihnen geblieben
wäre. Er hätte sicher eine Idee gehabt, wo man in diesen
Bergen eine Flöte verstecken konnte. Denn Keil wußte es
nicht. Wohin er auch blickte, war nur Felswand - keine Ritzen,
keine Höhlen, nichts.
»Sie könnte in einer Spalte stecken«, schlug
Schwinge vor, die an etwas ähnliches gedacht haben
mußte.
»Sie könnte an ziemlich vielen Orten sein«, gab
Morren zur Antwort. »Und nicht einmal zwangsläufig hier.
Wir sind hier aus reiner Vermutung. Aber ich weiß, daß
es hier ein oder zwei Höhlen gibt, deren Eingänge
geöffnet sind und die tief in den Stein hineinreichen. Dort
könnte sie sein. Wartet hier. Ich werde mich einmal in der
Gegend umsehen.«
»Warum können wir nicht mitkommen?« fragte
Keil.
»Weil ich das Gebirge überfliegen
werde.«
»Du kannst fliegen?« staunten Keil und Schwinge wie
aus einem Munde und starrten den Zauberer fasziniert an.
»Ich habe mir immer wieder gewünscht, es noch einmal zu
tun«, sagte Morren. »Schaut ruhig zu … wenn ihr
es aushaltet.«
Keil hielt die Luft an. Der Zauberer wurde … undeutlich.
Seine Formen schienen zu zerfließen, und Keil hatte das
Gefühl, nichts mehr sehen zu können als einen wirbelnden
schwarzen Nebel, in dem rote Schlieren immer schneller und
schneller wirbelten. Ein Schwindelgefühl kam in Keil auf. Ihm
war, als wäre er selbst es, der sich drehte. Vor seinen Augen
erschien ein silbernes Funkeln und schwarze Flecken, die immer
größer wurden und alles andere verschlangen. Er taumelte
zwei Schritte rückwärts und fiel hin, barg das Gesicht in
den Händen, bis der Schwindel langsam nachließ. Dann
hörte er Schwinges leisen Aufschrei. Noch bevor er aufsah,
wußte er, daß sich etwas in seiner Umgebung
verändert hatte. Es war noch wärmer geworden, und Keil
spürte die Anwesenheit von etwas Großem, das keiner der
Berge war.
»Ich hatte befürchtet, daß dies mit dir geschehen
würde«, bemerkte Morren ruhig. Seine Stimme war so, wie
sie immer gewesen war, aber sie paßte zu der Gestalt des
Drachen fast noch besser als zu der menschlichen, und durch die
Größe wirkte sie noch mächtiger und
durchdringender. Schwarz und rot waren die Farben des Zauberers,
aber während sich das Bild, das die Alifwin bis dahin von ihm
gekannt hatten, sich auf die Betonung der Farbe schwarz
beschränkte, war er als Drache über und über rot,
bis auf seine Augen, natürlich. Er schwenkte seinen Hals
langsam herum und brachte seinen Kopf auf eine Höhe mit dem
von Keil. »Ich nahm an, daß ihr gerne einmal einen
Drachen sehen würdet.«
Schwinge nickte ehrfürchtig. »So also sahen sie
aus«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete Morren. »Sie waren viel, viel
größer als ich im Moment. Schau dir doch die Berge an.
Und ihre Augen waren nicht schwarz, sondern golden. Jeder von ihnen
hatte eine andere Farbe, auch wenn sie jetzt alle rötlicher
erscheinen, von der alten Hitze in ihnen. Aber im Moment halte ich
es für praktischer, euch einen verkleinerten Drachen zu
präsentieren. Jeder von uns trug seine Farbe. Mein Bruder
Galfas war ein dunkelblauer Drache und ich so rot, wie ich jetzt
vor euch stehe. Gefällt es euch?«
»Es ist wunderschön«, flüsterte Keil. Der
Drache ragte majestätisch vor ihm auf, mit vier schlanken
Beinen und einem langen, gebogenen Hals, auf dem ein im
Verhältnis zur Länge zierlicher Kopf saß. Auch wenn
seine Flügel zusammengefaltet an den Seiten anlagen, konnte
man erkennen, wie riesig sie sein mußten, um ihren
Träger zum Fliegen zu bringen. Seinen Schweif, noch einmal so
lang wie sein Körper, brauchte er, um in der Luft zu steuern.
Jetzt hatte er ihn nach vorne gelegt, denn zwischen den Bergen war
auch für einen verkleinerten Drachen nicht sehr viel Platz.
Doch es war erstaunlich: Selbst, wenn Morren jetzt ein Drache war,
sah er immer noch aus wie Morren. Er hätte niemand anderes
sein können. Sein Ausdruck von Überlegenheit, Neugier und
Unsterblichkeit war geblieben, ebenso wie das wissende
Lächeln. Morren würde immer Morren bleiben.
»Im Nachhinein ist es erstaunlich, daß wir all das
aufgegeben haben«, sagte der Zauberer etwas wehmütig.
»Vielleicht hätten wir uns anders verhalten, wenn wir
gewußt hätten, wie sich die Welt entwickelt. Aber wir
haben noch niemals in ihren Lauf eingegriffen.«
»Ihr habt gemacht, daß die Drachen verschwunden
sind«, entgegnete Schwinge. »Ihr greift nicht in den
Lauf der Welt ein - ihr versucht, ihn zu bestimmen.«
»Sei still!« flüsterte Keil. »Du darfst ihn
nicht beleidigen!«
Aber Morren lachte nur. Einen Drachen lachen zu sehen, war ein
Anblick, den Keil niemals vergessen würde. Jede schimmernde
rote Schuppe tanzte für sich, nur einen Augenblick lang,
während das tiefe rollende Geräusch die Erde erzittern
ließ. So hatte Morrens Lachen schon immer geklungen. Aber
seine ungeheure Größe verstärkte es zu etwas
Mächtigem, Gefährlichem. Schwinge verstummte.
Der Drache lächelte sie noch einmal an, dann breitete er
seine riesigen Schwingen aus und erhob sich in die Lüfte. Keil
stockte der Atem. Im Flug wirkte der Drachen noch größer
und dabei kein bißchen plump. Nicht einmal ein Kranich flog
eleganter. Ein Wind kam durch die kräftigen
Flügelschläge auf, als Morren hinter den Bergkämmen
verschwand.
Keil und Schwinge blickten ihm nach, zu ehrfürchtig, um auch
nur einen Ton hervorzubringen. Nun konnten sie nichts tun, als auf
die Rückkehr des Drachen zu warten. Wie in jedem ruhigen
Moment hockte Keil sich hin und holte den Beutel mit seinen
Flöten hervor. In letzter Zeit hatte er meistens auf der
Silberflöte gespielt, aber sie erschien ihm jetzt nicht
passend, und so nahm er die Beinflöte. Sein Lied besang den
Untergang der Drachen. Während er flötete, begriff er
plötzlich vieles.
Dort unten am Meer, wo die
Gischt leise singt,
da waren die Berge einst Drachen.
Nun schlafen sie still, und kein Atemzug klingt,
doch werden sie einmal erwachen.
Sie träumen von Zeiten, die lange vorbei,
von Tagen voll lodernder Flammen.
Einst lebten sie einzeln, so mächtig und frei.
Nun liegen sie alle beisammen.
Sie hören die Lieder der Flut dort am Strand,
doch meiden die Wasser sie weit.
Dereinst hat ihr Feuer den Himmel verbrannt,
zu Ende ging längst ihre Zeit.
Und nun kommt der Tag, wo auch wir müssen gehn,
wie vor uns die Hohen und Drachen.
Wir wollen die kommende Zukunft nicht sehn -
doch werden wir einmal erwachen.
Schwinge hatte ihm schweigend
zugehört. Als er die Flöte sinken ließ, fragte sie:
»Wenn wir die Flöte aus Eis gefunden haben - wann wirst
du sie spielen?«
Keil blickte sie verständnislos an. »Ich werde nicht
auf ihr spielen«, sagte er. »Auf der Flöte spielt
man nicht. Denk an das, was Talinas gesagt hat: Es ist zu
gefährlich.«
»Aber du wirst sie spielen können«, entgegnete
Schwinge. »Du kannst jedes Instrument spielen - vor allem
jede Flöte.«
Keil schüttelte den Kopf. »Diese nicht.«
Er fragte sich, wie sie darauf kam, daß er die Flöte
aus Eis spielen sollte. Aber tief in seinem Inneren kannte er den
Grund.
Zumindest wußte er jetzt, daß der weite Weg nicht
umsonst gewesen war. Es gab die Flöte. Sie war hier. Er konnte
sie spüren. Während er spielte hatte, waren zwei
Klänge in seinen Ohren: Zum einen natürlich seine eigene
Flöte. Aber da war noch etwas anderes, ein leises, hohes
Summen und Singen. Er konnte es nicht beschreiben. Vor vielen,
vielen Jahren hatte jemand, wer immer es gewesen war, die
Flöte aus Eis in den Glühenden Höhen versteckt.
Warum man das getan hatte, war einfach: Sie war zu gefährlich.
Niemand durfte auf ihr spielen, und auf die Dauer konnte das nur
verhindert werden, indem die Flöte an einem sicheren Ort
verschwand. Doch die Flöte wollte nicht auf alle Zeit
verborgen sein. Durch sein Spiel hatte er sich ihr zu erkennen
gegeben. Nun rief sie ihn. Sie flüsterte seinen Namen. Keil
war gar nicht mehr wohl bei dem Gedanken, daß Schwinge und er
endlich am Ziel ihrer Suche waren. Er hatte Angst.
»Ich wünschte, wir wären niemals
hergekommen«, flüsterte er. Aber nun war es zu
spät. Die Flöte hatte ihn gefunden.
All die Zeit über hatte er versucht, sich keine Gedanken
über die Flöte zu machen, seit er wußte, daß
man nicht auf ihr spielen durfte. Es war ein wenig wie mit Felder
und Thoria, nur daß Keil seine Musik hatte, um sich auf
andere Gedanken zu bringen. Er mußte sich nicht
betäuben. Aber vor der Flöte hatte er mehr Angst als
jemals vor etwas anderem. Er wußte, warum.
Wieder verspürten sie
einen mächtigen Wind, als der Drache zurückkehrte. Staub
wirbelte auf, als er sich geschmeidig auf dem Boden
niederließ.
»Fliegen«, sagte Morren. »Nichts ist mit dem
Fliegen zu vergleichen - zumindest mit dem Flug eines Drachen.
Außer Zaubern, natürlich.«
»Und hast du die Flöte gefunden?« fragte
Schwinge.
Der Zauberer senkte sein Haupt. »Keine Spur von ihr. Ich
weiß nicht, ob sie wirklich -«
»Sie ist hier«, sagte Keil in einem seltsamen Tonfall.
»Ich weiß es.«
Morren schwenkte erstaunt den Kopf zu ihm herüber.
»Seit wann? Und wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht«, Keils Stimme war leise,
kaum noch hörbar. »Aber sie ist hier, in den Bergen. Die
Drachen hüten sie. Irgendwo. Ich kann sie
spüren.«
Schwinge wunderte sich nicht weiter. Keil war derjenige, der als
einziger auf der Flöte spielen konnte, und da die Flöte
das wußte, suchte sie ebenso nach ihm wie er nach ihr. Aber
Schwinge erkannte auch, daß es einige Zeit dauern würde,
bis er seine Bestimmung akzeptierte. Die Warnungen, nicht auf der
Flöte zu spielen, wogen schwer. Wann würde er erkennen,
daß sie die einzige Rettung für die Alifwin
darstellte?
»Zumindest habe ich meine Höhle wiedergefunden«,
sagte Morren. »Ich wollte eigentlich vorschlagen, daß
wir sie uns einmal gemeinsam ansehen. Vielleicht wird dein
Gespür ja dort stärker, Keil.«
»Wirst du dich zuerst zurück verwandeln, bevor du uns
hinführst?« fragte Schwinge.
»Nein. Ich habe etwas viel schöneres mit euch vor.
Steigt auf meinen Rücken. Ihr habt nicht gelebt, bevor ihr
nicht geflogen seid. Und selbst wenn ihr es nur auf jemand anderem
tut. Haltet euch an meinem Hals fest. Ich werde vorsichtig
sein.«
Schwinge hatte sich immer schon gefragt, wie es wohl sein
mußte, wenn man flog. Darum nannte man sie auch Schwinge -
weil sie ihre Freiheit so sehr liebte wie ein Vogel am Himmel. Bis
dahin waren es für sie immer die Schwingen des Adlers gewesen,
der manchmal hoch über dem Wald kreiste, aber niemals
herunterkam, weil es dort keine Beute für ihn gab. Aber in
Zukunft würde sie an die Schwingen des Drachens denken. Sie
hatte keine Angst, als sie auf Morrens Rücken stieg, und es
war nicht einmal bedeutend, daß sie den Zauberer noch nie
zuvor berührt hatte. In diesem Moment sah sie nicht Morren in
ihm. Er war nichts als der Drache, und er würde sie fliegen
lassen.
Sie half auch Keil hinauf, der ein wenig zögerte, vielleicht
wegen der ungeheuren Größe, oder weil die glatten
Schuppen ein wenig rutschig waren. Oder aber es war die Angst vor
der Flöte, die ihn zurückhielt.
»Sitzt ihr bequem?« fragte Morren. »Dann haltet
euch gut fest!«
Auf dem Rücken des Drachen war zwischen den
Flügelansätzen genug Platz für sie beide, aber nur
hintereinander. Schwinge umklammerte den Hals, und Keil hielt sich
an ihr fest. Sie spürte, wie die Wärme auch durch sie
floß. Vielleicht sonnten sich die Eidechsen deswegen auf
heißen Steinen, weil sie so wie die Drachen sein wollten.
Schwinge konnte sie gut verstehen. Zum ersten Mal hatte sie das
Gefühl, wirklich glücklich zu sein, als sich der Drache
langsam erhob. Ihr Haar, das sie an diesem Tag offen trug, statt es
zusammenzubinden, wurde nach hinten geweht. Sie konnte die Freiheit
riechen in dem Wind, der hart in ihr Gesicht schlug. Niemals
würde sie sich einsperren lassen. Kein Mensch konnte ihr das
nehmen, was sie erst so spät errungen hatte: Die Welt.
All die Jahre, in denen sie den Wald nicht verlassen hatte,
erschienen ihr plötzlich sinnlos. Hierhin gehörte sie, in
die Freiheit, in die Lüfte. Darum war sie Schwinge.
Eine Hitzeflut schlug ihr entgegen, als Morren mitten in der Luft
ein wenig Feuer spie. Er hatte dazu keinen anderen Anlaß, als
die Alifwin zu beeindrucken, denn hier gab es nichts, was er in
Brand setzen konnte. Aber es sah unglaublich schön aus, als
plötzlich Flammen aus dem Mund des Drachen stoben, und
Schwinge bedauerte es, seinen Gesichtsausdruck von ihrem Platz aus
nicht sehen zu können. Wäre nicht Keils Griff an ihrer
Hüfte gewesen, sie hätte angefangen zu glauben, daß
sie selbst der Drache war. Morren erzählte dabei mit seiner
Stimme, die sie nun im ganzen Körper spüren konnte, mehr
von der Zeit der Drachen und wie die Welt damals ausgesehen hatte.
Aber Schwinge hörte kaum auf seine Worte. Der Klang der Stimme
und das Gefühl des Fliegens reichten vollkommen.
Unter ihnen lagen die roten Berge. Von vorne hatten sie nicht
sehen können, wie viele es waren. Aber das zackige Meer
erstreckte sich weit nach Süden, schien so endlos wie der
blaue Ozean daneben.
Die Höhle lag an einer schwer zugänglichen Stelle ein
gutes Stück über dem Erdboden. Schwinge fragte sich, wie
sie entstanden sein mochte. Wenn die Berge in Wirklichkeit Drachen
waren, dann konnten sie kaum natürliche Löcher haben.
Dann erkannte sie es. Dieser Drache hatte nicht wie die anderen den
Kopf unter einen Flügel gesteckt, sondern ihn seitlich am
Körper angelegt. Im Schlaf stand sein Mund offen. Schwinge
schauderte ein wenig bei dem Gedanken, den Rachen des Drachen zu
betreten. Wenn er nun unruhig träumte oder ausgerechnet jetzt
aufwachen sollte, dann war es mit ihnen aus.
Morren konnte nicht in die Höhle hinein fliegen - dazu war er
zu groß. So setzte er sie unten auf dem Boden vor dem Berg ab
und verwandelte sich zurück. Diesmal war es möglich, ihm
zuzusehen, weil sie wußte, was herauskommen würde.
Zunächst wurde Morrens Drachengestalt unscharf. Dann erschien
an der gleichen Stelle sein menschliches Bild, und einen Moment
lang war er beides gleichzeitig - Mensch und Drache schienen sich
zu überlappen, und nur die schwarzen Augen waren wirklich, wie
sie es immer gewesen waren. Langsam verblaßte der Drache.
Schwinge schluckte. Sie hatte Morren als Drachen gemocht, mehr als
in seiner menschlichen Gestalt.
Es war nicht schwer, zu der Höhle hinaufzusteigen, denn der
rote Stein war uneben und bot genug Halt für Hände und
Füße. Nun standen sie wirklich im Mund eines Drachen.
Dort gab es mächtige Zacken, die nichts anderes als Zähne
sein konnten, in langen Reihen, die sich weit in die Höhle
hineinzogen. Morren leuchtete wieder mit seiner Hand, denn hier war
es merklich dunkler als draußen. In mancher Hinsicht
erinnerte diese Höhle an jene im Th’enlathíel,
aber ein Unterschied fiel auf: Es war sehr viel wärmer. Und je
tiefer sie in den Berg eindrangen, desto größer wurde
die Hitze.
»Es ist wirklich eine unmögliche Vorstellung, hier nach
etwas aus Eis zu suchen«, sagte Morren. »Vielleicht war
es wieder eines jener Mißverständnisse, mit denen die
Hohe Sprache so gerne aufwartet. Es könnte geheißen
haben ‘Flöte-die-gleißt’ statt
‘Flöte-aus-Eis’. Mir ist noch nie Eis begegnet,
das bei diesen Temperaturen nicht geschmolzen wäre. Zumindest
in einigen tausend Jahren, und so lange muß es schon her
sein, seit die Flöte hierhergebracht wurde. Nun gibt es
natürlich noch die Möglichkeit -«
»Seid bitte still!« sagte Keil. Er schloß die
Augen und schien einen Moment lang in sich hineinzuhorchen. Dann
nahm er eine von seinen Flöten, spielte ein paar Töne und
lauschte wieder. »Ja. Sie ist hier. Aber ich weiß
nicht, ob es richtig ist, sie von hier wegzunehmen.«
Morren schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht so weit
gereist, nur um unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Nun, wo wir
so nah an der Flöte sind, werden wir sie auch mitnehmen. So,
wie ich es begriffen habe, steht sie den Alifwin zu. Die Hohen
hinterließen jedem Hohen Volk ein Instrument. Die Flöte
ist das einzige von ihnen, das ihr jemals erlangen könnt.
Nehmt sie.«
Keil blickte an ihm vorbei, in die Tiefen der Höhle. Sein
Gesichtsausdruck hatte sich verändert, er wirkte abwesend und
leer. Schwinge bezweifelte, daß der Barde zugehört
hatte. Leise summte er eine Melodie, die sie nicht kannte, und ging
weiter, der Hitze entgegen.
Sie waren nun schon sehr tief in den Drachen hineingestiegen.
Obwohl die Höhle fast die ganze Zeit geradeaus geführt
hatte, konnten sie nun den Ausgang nicht mehr sehen, wenn sie
zurückschauten. Aber immerhin gab es keine verzweigten
Gänge, in denen sie sich verlaufen konnten. Es war jetzt so
warm, daß ihr das Atmen schwerfiel.
Morren hatte damit keine Probleme. »Sie schläft schon
sehr lange«, sagte er. »Ich kann mich noch gut an sie
erinnern, ein nettes, lustiges Mädchen, als sie jung war. Sie
ist hierhergekommen, lange bevor die anderen Drachen gingen. Ihr
müßt wissen, dies war schon immer ihr bevorzugter
Schlafplatz.«
Schwinge entging nicht, daß er, während er redete, Keil
argwöhnisch beobachtete. Offensichtlich hatte die Flöte
zu dem Barden Kontakt aufgenommen, und das nahm seine ganze
Aufmerksamkeit ein, denn er hatte schon länger nichts mehr
gesagt. Keils blaue Augen huschten unruhig hin und her, als suchten
sie die Decke und Wände ab. Die Knochenflöte hielt er
immer noch fest umklammert in der Hand. Schwinge hoffte
inständig, daß Morren hinterher keine Fragen stellen
würde, warum Keil so auf die Flöte reagierte. Er durfte
es ihm nicht erklären und war vermutlich auch gar nicht in der
Lage dazu.
Plötzlich blieb Keil stehen und fing an, die Wand abzutasten.
Von der Hitze hatte das Gestein viele kleine und größere
Risse bekommen, und diese fuhr der Barde nun mit seinen Fingern
nach. Dabei summte er immer noch. Aber seine Bewegungen wirkten
abgehackt und fahrig, fast schon wie die eines Menschen.
Nervös klopfte er gegen den Stein. Was er suchte war
eindeutig, aber er fand es nicht. Schwinge legt ihm vorsichtig eine
Hand auf den Arm - und schrak zurück. Hier unten, in der
größten Hitze, die sie beide jemals erlebt hatten,
fühlte Keil sich so kalt an, als sei er selbst aus Eis.
Schwinge hielt ihre Finger gegen die heiße Wand, damit das
Gefühl zurückkehrte.
»Erstaunlich«, sagte Morren. »Höchst
seltsam.«
Langsam tastete Keil sich an der Wand abwärts und kniete
nieder. Was er mit seinen Händen tat, war nicht zu erkennen,
aber Schwinge hörte einen hohen, singenden Ton, der das Blut
in ihren Adern gefrieren ließ. Es klang nicht wie eine
Flöte, und es war auch keine. Es war Keil selbst, der klagende
Laut, den er ausstieß, als er sich nun aufrichtete. Er
wimmerte leise und umklammerte mit beiden Händen einen langen,
schmalen Gegenstand, der schwach leuchtete. Morren legte ihm einen
Arm um die Schultern, um ihn in die Wirklichkeit
zurückzuholen. Keil hörte auf zu zittern und atmete auch
wieder ruhiger. Dann starrte er fassungslos auf das, was er in den
Händen hielt.
Es war eine Flöte. Und sie war ganz aus Eis.
In seinen Händen hielt
Keil die Flöte aus Eis, aber er konnte nicht sagen, wie sie
dorthin gekommen war. Sein Kopf war voll mit Nebel und fremder
Musik. Nur langsam kehrten seine Sinne zurück.
Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Die Flöte war
aus einen bläulichen, matt glänzendem Eis, und wenn sie
sich auch kalt anfühlte, ließ die Wärme seiner
Hände sie doch nicht schmelzen. Sie war so trocken, wie er
noch nie ein eis erlebt hatte. In ihrer Form war sie wie eine
gewöhnliche Flöte, nur ein klein wenig länger, und
über und über mit filigranen Mustern bedeckt. Vielleicht
waren es Schriftzeichen, aber Keil konnte sie nicht entziffern.
Langsam fing er auch wieder an, seine Umgebung wahrzunehmen.
Verwundert stellte er fest, daß sie nicht mehr in der
Höhle standen, sondern wieder am Rand der Glühenden
Höhen. Eigentlich konnte er sich an kaum etwas erinnern, seit
sie die Höhle betreten hatten, außer einem
merkwürdigen Gefühl, als würde sein Denken
plötzlich von etwas Fremden übernommen. Es mußte
die Flöte gewesen sein. Was war, wenn sie das noch einmal tat?
Keil durfte nicht zulassen, daß die Flöte Macht
über ihn gewann. Er zwang sich, sie nicht länger
anzusehen, sondern schob sie schnell in seinen Beutel.
»Ich würde sie gerne einmal sehen«, sagte Morren.
Widerstrebend reichte Keil ihm die Flöte. Als die Flöte
die Haut des Zauberers berührte, zuckte dieser zusammen.
»Das nenne ich wirklich Eis.«
Dabei war sie Keil gar nicht so furchtbar kalt vorgekommen. Morren
reichte die Flöte nach eingehender Betrachtung an Schwinge
weiter, und diese schrie auf und lies sie fast fallen. Schnell nahm
Keil sie wieder an sich und steckte sie ein. Dort, wo die
Flöte Schwinge berührt hatte, zog sich ein weißer
Streifen über ihre Haut. Keil blickte auf seine Hände.
Obwohl er die Flöte die ganze Zeit über festgehalten
hatte, wiesen sie keine Spuren auf. Es war schlimmer, als er
befürchtet hatte. Wenn sich die Flöte von keinem anderen
als ihm berühren ließ, dann würde er sie immer bei
sich tragen müssen. Aber jetzt, wo er sie nicht mehr
berührte, hatte er zumindest wieder das Gefühl, Herr
seiner selbst zu sein.
»Paß gut auf sie auf!« sagte Morren. »Wenn
ich sie richtig einschätze, steckt eine große Macht in
diesem kleinen Instrument, wenn ich auch nicht sagen kann, für
was genau sie gut ist. Aber es kommt mir so vor, als hätte sie
einen eigenen Willen.« Er blickte Keil argwöhnisch an.
Es mußte ihm aufgefallen sein, daß Keil nicht er selbst
gewesen, als er die Flöte fand. »Ihr habt nun gefunden,
was ihr suchtet, und eigentlich dürftet ihr jetzt ohne meine
Hilfe auskommen. Aber ich werde euch bis zu eurem Wald bringen,
damit euch nichts passiert. Es wäre nicht auszudenken, wenn
ihr von Menschen überfallen würdet und sich
plötzlich die Flöte in ihren Händen befände.
Das letzte Stück eurer Reise wird das schwerste.«
Keil wußte, daß er Recht hatte. In seinen Ohren
klangen schon wieder fremde Melodien. Schon immer war sein Kopf
voller Musik gewesen - aber noch nie so mächtiger. Mit seinem
Willen kämpfte er dagegen an, und es gelang ihm, die
Flöte zum Schweigen zu bringen. Was immer sie von ihm wollte -
er würde nicht auf ihr spielen. Er durfte es nicht.
Langsam machten sie sich auf den Rückweg. Keil merkte
schnell, daß die Flöte nicht die einzige Kraft war,
gegen die er ankämpfen mußte. Es gelang ihm recht gut,
ihr seinen Willen aufzuzwingen, und solange er sie nicht
anfaßte, konnte sie ihm nichts tun. Die meiste Zeit über
versuchte er, gar nicht an sie zu denken. Er hatte seine drei
Flöten, und die waren mächtig genug. Ein weitaus
größeres Problem war Schwinge. Weiterhin versuchte sie,
ihn dazu zu bewegen, auf der Flöte aus Eis zu spielen.
»Du mußt es tun, Keil!« sagte sie. »Die
Hoffnung unseres ganzes Volkes hängt davon ab. Was glaubst du,
warum du auserwählt worden bist? Die Alten haben dir zwar
gesagt, daß du nur die Instrumente in die Wälder bringen
sollst, aber von Anfang an ging es nur darum, daß du auf
ihnen spielen sollst. Zumindest auf der Flöte.«
»Ich werde nicht auf der Flöte spielen«, sagte
Keil. »Niemand darf es. Wer auf ihr spielt, den zerstört
sie.«
»Dich wird sie nicht zerstören! Sonst könntest du
sie auch gar nicht berühren. Nicht einmal Morren kann sie
lange festhalten, obwohl er unglaublich mächtig ist und ihm
Kälte nichts ausmacht. Es ist deine Bestimmung!«
»Das ist sie nicht!« sagte Keil trotzig. »Es
heißt in dem Lied ‘Auf der Flöte spielt man
nicht’. Und es ist von keinen Ausnahmen die Rede.«
»Du verstehst es falsch! Es bedeutet soviel wie
‘Mit der Flöte spielt man nicht’ - Wenn es
der Richtige tut, zum richtigen Zeitpunkt mit den richtigen
Melodien, dann ist es in Ordnung. Und der Richtige bist
du.«
»Das stimmt nicht«, beharrte Keil. »Sie
läßt sich von mir berühren, weil einer von uns sie
tragen muß und sie erkannt hat, daß ich ein Barde
bin.«
»Aber du -«, begann Schwinge von Neuem.
Keil unterbrach sie. »Ich werde sie nicht spielen,
hörst du? Ich werde sie nicht spielen.«
Danach vermied er dieses Thema mit aller Kraft. Niemand hatte
jemals auf der Flöte gespielt, und niemand würde es je
tun. Nicht, wenn Keil es verhindern konnte. Er wußte jetzt,
warum damals die Alifwin die Flöte in die Glühenden
Höhen gebracht hatten - nicht nur, damit sie niemand finden
würde, sondern auch in der Hoffnung, daß die Hitze mit
der Zeit das Eis zum Schmelzen bringen würde. Dann hatten sie
alle Hinweise auf die Flöte vernichtet, und nur durch Zufall
waren Bruchstücke dieses alten Liedes, die Merle und Talinas
gekannt hatten, erhalten geblieben. Lieder ließen sich nicht
zerstören. Es war ein Fehler, die Flöte mitzunehmen. Sie
hätte dort bleiben müssen wo sie war und keinen Schaden
anrichten konnten.
Keil wußte genau, warum Schwinge gerade von ihm wollte,
daß er die Flöte spielte. Aber er würde nicht
zulassen, daß er auch nur daran dachte. Er vermied es, mit
der Jägerin zu reden. Immer, wenn sie etwas zu ihm sagen
wollte, war er gerade mitten in einem wichtigen Gespräch mit
Morren. Der Zauberer merkte wohl, daß etwas zwischen den
Alifwin nicht stimmte, aber er sagte nichts. Gerade deswegen sah
sich Keil zu einer Erklärung veranlaßt.
»Immer versucht sie, mir Befehle zu erteilen. Ich darf nicht
mit Menschen sprechen, ich muß dies tun, ich muß das
lassen. Sie behandelt ich, als wäre ich ein Kind.«
»Bist du das denn nicht?« fragte Morren. »Du
bist zwar schon sehr viel erwachsener geworden, seit ich dich
kenne, aber im Allgemeinen machst du immer noch einen sehr
jugendlichen Eindruck auf mich.«
»Wenn ich nicht erwachsen wäre, hätte man mich
nicht auf diese Suche geschickt. Ich muß mir nicht von
ihr Befehle geben lassen.«
»Aber vielleicht hat sie Recht?« sagte Morren.
»Nein«, erwiderte Keil fest. Der Zauberer konnte es
nicht wissen. »Ganz sicher nicht.«
Die Flöte rief seinen Namen.
Halsstarrig war er, daran gab
es keinen Zweifel. Schwinge wußte, daß dies die Schuld
der Menschen war. Wenn er sich nicht mit ihnen angefreundet
hätte, dann wäre er noch auf Seiten der Alifwin. So aber
hatte er die Seiten gewechselt, und er würde sein Volk
verraten.
Er wußte genau so gut wie sie, daß er derjenige war,
der auf der Flöte spielen konnte. Eine Gabe ist eine Aufgabe,
hieß es. Er hatte die Pflicht, auf der Flöte zu spielen.
Und je früher er das tat, um so besser. Mit jedem Tag, den sie
verloren, breiteten sich die Menschen mehr aus, und nur die
Flöte konnte ihnen Einhalt gebieten.
Schwinge wußte nicht, was passieren würde, wenn Keil
auf der Flöte die richtigen Melodien spielte. Aber es
würde die Rettung der Alifwin sein. Keil war geboren worden,
um die Flöte zu spielen. Und sie konnte es ihm nicht sagen.
Obwohl sie beide den genauen Grund kannten, durfte sie es nicht
aussprechen, und ansonsten hatte sie kaum mehr Argumente als er,
sich zu weigern. Es half nicht, mit ihm zu streiten, wenn er es
nicht selbst einsah.
Als sie Keil kennenlernte, hatte sie sich über seinen Namen
gewundert. Antroschinanarinu - Aus dem Eis kommt
süßer Klang. Zunächst hatte sie gedacht, Keil
käme aus einer Gegend, in der es nur Eis gab - das hätte
auch seine Haare und Augen erklärt. Aber als sie zum ersten
Mal von der Flöte hörte hatte, wurde ihr die wahre
Bedeutung schnell klar. Und Keil mußte es ebenfalls erkannt
haben, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte.
Zweimal schon stand Schwinge kurz davor, Keil seinen Namen ins
Gesicht zu schreien, um ihn endlich aufzurütteln. Aber wenn
dies das einzige Mittel war, um ihn zur Vernunft zu bringen, dann
mußte er unvernünftig bleiben. Schwinge durfte seinen
Namen nicht aussprechen, nach Möglichkeit nicht einmal daran
denken. Und wenn Keil auch alle Alifwin verriet - so rechtfertigte
das höchstens eine Ächtung.
Keil mußte wissen, in welcher Gefahr sie beide schwebten.
Aber warum ließ er es dann darauf ankommen? Warum blieb er
trotzig wie ein kleines Kind? Früher oder später
mußte er die Flöte spielen.
»Du weißt, daß du ein Verräter bist«,
sagte Schwinge in einer Mischung aus erbitterter Drohung und
verzweifeltem Flehen. Sie wollte nicht dazu getrieben werden,
seinen Namen auszusprechen, aber jedesmal, wenn sie Keil sah, lag
es ihr schon auf der Zunge: Antroschinanarinu. »Ich
werde es den Ältesten mitteilen. Du weißt, was das
heißt, Keil. Du hast unser Volk an die Menschen verraten. Man
wird dich ausstoßen.« Wenn sie seinen Namen aussprach,
würde man sie ausstoßen.
»Sie würden mich nicht ausstoßen«,
entgegnete Keil, aber seine Stimme klang unsicher. »Ich bin
kein Verräter. Wir haben die Flöte aus Eis gefunden und
bringen sie in die Wälder.«
»Du hast dich mit den Menschen verbündet«, sagte
Schwinge kalt. »Und du weißt, daß du die Alifwin
verrätst, wenn du nicht die Flöte spielst.«
»Wenn du unbedingt willst, daß die Flöte gespielt
wird, dann tu du es doch! Sie wird dich zerstören, so wie sie
jeden zerstört, der es versucht!« Jetzt war Keil
wütend. Vielleicht war das ganz gut. Es war schwer, ihm das
friedliche Lächeln aus dem Gesicht zu treiben.
»Ich kann nicht auf der Flöte spielen! Du bist der
einzige.«
Morren blickte interessiert zu ihnen hinüber. Aber ihn ging
das nichts an. Er war es doch, der Keil erst zu dieser unsinnigen
Leidenschaft für Menschen ermutigt hatte! Keil war jung und
leicht zu beeinflussen. Gewissermaßen lag die Schuld für
seinen Verrat also bei Morren.
»Nein«, sagte Keil. »Ich kann die Flöte
genauso wenig spielen wie irgend jemand anderes. Und selbst wenn,
darf ich nicht. Niemand darf es.«
Er begann schon wieder, den selben Satz zu wiederholen. Das
bedeutete, daß er ihr nichts wirklich entgegenzusetzen hatte.
Nun würde er nicht anderes sagen als »Nein, nein,
nein«, bis sie es aufgab.
»Aber es ist deine Bestimmung!« schrie sie. »Es
ist dein Name! Du bist Antroschinanarinu!«
Dann erkannte sie, was sie getan hatte. Keil starrte sie an, und
unbeschreiblicher Schmerz stand in seinem Gesicht. Er bewegte die
Lippen, doch obwohl er keinen Laut hervorbrachte, wußte
Schwinge genau, was er sagte.
»Was hast du getan? Du hast meinen Namen
verraten!«
Sie waren beide verloren.
Sein Name … nicht
einmal, bei den Dunklen hatte Keil sich schlimmer gefühlt. Es
war, als ob Schwinge ihm das Herz herausgerissen hätte. Der
Name war die Hülle, in der man die Seele aufbewahrte, und wer
seinen Namen verlor …
Keil zitterte vor Schmerz. Nicht einmal er selbst konnte seinen
Namen aussprechen. Wie hatte sie es gekonnt? Warum hatte sie das
getan? Keil spürte, wie die Welt um ihn herum schwarz wurde.
Das war das Ende.
Morren half ihm auf und gab ihm etwas Wasser. »Du bist
ohnmächtig geworden«, sagte er. »Alles in
Ordnung?«
Der Zauberer wußte, was passiert war. Er hatte es
gehört. Jetzt kannte er Keils Namen. Bis jetzt war Keil vor
Morrens Macht geschützt gewesen. Nun mußte er den
Zauberer fürchten. Keil schnappte nach Luft, aber es klang wie
ein Schluchzen. Dann sah er Schwinge. Sie stand wie zuvor, als ob
sie versteinert wäre. Ihr Gesicht war bleich, vor Grauen
erstarrt. Sie blickte ihn nicht an.
»Sie hat … sie hat …«, stammelte Keil.
Aber er konnte es nicht sagen.
»Ich habe ein schlechtes Gedächtnis«, sagte
Morren lächelnd. »Irgendwie hattest du wohl …
Streit mit Schwinge, aber ich kann mich schon gar nicht mehr
erinnern, um was es überhaupt ging.« Er machte eine
Pause. »Aber ihr seid dumme, starrsinnige Kinder, alle beide.
Warum müßt ihr versuchen, euch gegenseitig zu
zerstören?«
»Sie wollte es nicht«, flüsterte Keil. Aber das
war keine Entschuldigung.
Langsam ließ der Schmerz nach. Keil konnte wieder frei
atmen, und er hatte auch nicht mehr das Gefühl zu sterben.
Vielleicht war sein Name doch nicht für immer verloren.
Vielleicht würde er zu Keil zurückkehren. Er mußte
weiterleben, als ob nichts geschehen wäre.
Niemand konnte Schwinges Worte ungesagt machen. Also mußten
sie sich damit abfinden, so wie Felder sich mit dem Verlust Thorias
abgefunden hatte. Hatte er sich damit abgefunden?
»Dir ist nichts passiert«, sagte Morren. »Es ist
das beste, wenn ihr den Vorfall vergeßt wie ich. Jedes andere
Volk trägt seine Namen mit Stolz. Nur ihr müßt ein
solchen Geheimnis daraus machen. Mein Name ist Morren. Jeder
weiß das, und trotzdem hat niemand Macht über mich, weil
ich es nicht zulasse. So einfach ist das.«
Keil versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Er
blickte zu Schwinge hinüber, aber sie wich seinem Blick aus.
Sie konnte ihn nicht um Verzeihung bitten. Solange sie wußte,
daß das, was sie sagte, die Wahrheit war, würde sie sich
nicht dafür entschuldigen. Aber sie würde geächtet
werden, ausgestoßen aus der Gesellschaft. Dieses Schicksal
war schlimmer als der Tod, fast so schlimm wie verraten zu werden.
Keil hätte sie gerne getröstet. Aber das konnte er nicht.
Er würde nicht mehr mit ihr sprechen können.
»Ich mache euch beiden einen Vorschlag«, sagte Morren.
»Wie wäre es, wenn wir gehen und nachsehen, was unser
Freund Lonnìl macht?«
Das Getreide war gereift, seit
sie zuletzt in dieser Gegend waren. Keil erkannte die Felder
wieder, die weiten, goldenen Ebenen, hinter denen sich in der
klaren Luft bläulich eine weit entfernte Bergkette erhob.
Jetzt erst fiel ihm auf, daß es Herbst geworden war, seit sie
Lonnìl hier zurückgelassen hatten - eine lange Zeit
für Menschen. Keil selbst war es nicht lang vorgekommen, bis
auf die letzten Tage, seit dem … Streit. Danach hatte
Schwinge kein Wort mehr gesprochen, nicht zu ihm und auch nicht zu
Morren. Sie gab vor, gar nicht zu existieren, und dafür war
ihr Keil fast dankbar. Er sehnte sich danach, endlich Lonnìl
wiederzutreffen. Die Gesellschaft der Menschen fehlte ihm.
»Jetzt werden wir sehen, wie treu unser Freund Lonnìl
wirklich ist«, sagte Morren vergnügt. »Aber ich
bin bereit, jede Wette einzugehen, daß wir ihn an genau der
Stelle wiederfinden werden, wo wir ihn abgesetzt haben. Er wird um
nichts weichen. Ich stelle mit vor, wie er dort steht, unbewegt,
während die Krähen auf seinen Schultern sitzen und eine
Amsel ihr Nest gebaut hat in dem Bart, der ihm seither gewachsen
ist.«
»Amseln bauen um diese Jahreszeit keine Nester mehr«,
wandte Keil ein. »Dafür ist es schon zu
spät.«
Morren lachte. »Das war ein Bild, verstehst du?
Menschenbärte wachsen auch nicht so schnell. Ich wollte nur
sagen: Eher geht die Welt unter, als daß Lonnìl
aufhört, Schwinge zu lieben. Wir können allenfalls
hoffen, daß ihm hier ein wirklich nettes Bauernmädchen
über den Weg gelaufen ist und ihn von seinem Kummer abgelenkt
hat. Aber nicht einmal das kann ich mir vorstellen.«
Es war nicht mehr weit bis zu dem Haus, in dem sie Lonnìl
treffen würden. Voller Interesse sah Keil den Bauern auf den
Äckern zu. Sie arbeiteten gebückt, mit breitkrempigen
Hüten, um sich vor der Sonne zu schützen, und schnitten
das Korn mit Sicheln, so wie es auch die Alifwin seit Tausenden von
Jahren taten.
Plötzlich ließ einer der Bauern die Garben, die er
gerade aufgesammelt hatte, fallen und fing an, zu rufen und zu
winken. Keil blickte sich erstaunt um, doch dann merkte er,
daß es nicht irgendein Bauer war - sondern Lonnìl. Mit
langen Sätzen kam der Mensch über die abgetrennten
Stoppeln angerannt. »Schwinge!« rief er. »Du bist
zurückgekehrt!«
Er breitete die Arme aus, aber als er nur noch einen Schritt von
der Jägerin entfernt war, hielt er inne. Keil folgte seinem
Blick und bemerkte Schwinges Gesichtsausdruck. Sie schaute zwar in
Lonnìls Richtung, aber sie sah glatt durch ihn hindurch, als
ob es nichts gäbe zwischen ihr und den blauen Gipfeln in der
Ferne.
Lonnìl sagte nichts, und das Lächeln kehrte nach einem
Moment wieder in sein Gesicht zurück. Er sah sonderbar aus mit
dem großen Hut, den er mit einer Schnur unter seinem Kinn
festgebunden hatte. Sein ohnehin schon wettergegerbtes Gesicht war
noch brauner geworden, was seine Augen strahlender machte. Sie
glitzerten richtig. Dann bemerkte Keil, woher das kam. In
Lonnìls Augen standen Tränen, obwohl er lachte.
»Ich bin ja so froh, daß ihr wiedergekommen
seid!« sagte Lonnìl, und seine Stimme versagte
für einen Moment. »Keil, Morren … es ist so
schön, euch wiederzusehen!« Er zögerte kurz, dann
umarmte er beide. Morren lachte spöttisch und erklärte,
daß er noch nie von einem Mann umarmt worden sei. Aus gutem
Grund schreckten die Leute davor zurück, ihn zu berühren.
Es ging immer etwas Unnahbares von ihm aus. Doch er war
Lonnìl nicht böse. Es schien ihn zu freuen.
Das Wiedersehen der Freunde war nicht unbemerkt geblieben. Gerade,
als er Lonnìl fragen wollte, wie er auf dieses Feld gekommen
war, sah Keil, daß sich die anderen Bauern ebenfalls
genähert. Es waren drei: zwei Männer und eine Frau, und
einer von ihnen hatte noch seine Sichel in der Hand. Schnell warf
Keil Morren einen Blick zu Sollten sie versuchen zu fliehen? Obwohl
er wußte, daß nicht alle Menschen ihnen schaden
wollten, überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Aber Morren
schüttelte kaum merklich den Kopf. Nicht fliehen -
abwarten.
»Sind deine Freunde gekommen, Lonnìl?« fragte
die Frau. »Das ist aber schön!« Sie lächelte,
und es sah nett aus, obwohl viele Zähne in ihrem Mund fehlten.
Dabei wirkte sie noch nicht einmal alt. Das Gesicht unter dem
blauen Kopftuch war braungebrannt und freundlich, und obwohl sie
noch mehr als einen Kopf kleiner war als der kleinste der
Männer, strahlte sie eine große Stärke aus.
Die anderen beiden waren sehr viel jünger - vielleicht waren
sie ihre Söhne. Sie klopften Lonnìl auf die
Schultern.
»Unsere Glückwünsche, alter Knabe! Aber hätte
sie nicht warten können, bis wir das Feld fertig haben? Wie
sollen wir das ohne dich schaffen?«
Lonnìl lachte, aber er schien nicht recht zu wissen, was er
darauf antworten sollte. Morren unterbrach ihn.
»Warum stellst du uns deine neuen Freunde nicht
vor?«
»Oh, natürlich. Das hier ist die Witwe Dolwen, und das
hier sind ihre Söhne, Ovain und Perten. Dolwen, das hier sind
meine Freunde: Schwinge, Keil und Morren.«
»Das ist das Mädchen?« fragte Ovain, der seinen
Hut abgenommen hatte und sich durch naßgeschwitztes blondes
Stoppelhaar strich. »Wie bist du denn an die gekommen?
Bißchen mager, aber … hey!«
Dolwen versetzte ihrem Sohn einen Klaps. »Hört nicht
auf ihn, er ist nur ein dummer Junge. Ihr seid uns
selbstverständlich alle willkommen, auch wenn ihr uns den
besten Erntehelfer wegnehmt, den wir jemals hatten. Lonnìl,
zeig ihnen schon einmal den Weg zum Hof, ja? Wir kommen nach, wenn
wir hier fertig sind.«
»Aber meine Arbeit …«, begann Lonnìl,
hin und hergerissen zwischen Wiedersehensfreude und
Pflichtgefühl. Dolwen schüttelte den Kopf.
»Geht zum Hof! Alle vier!«
Als sie Lonnìl über einen seitlichen Feldweg zu dem
Bauernhof folgten, auf dem er den letzten Monat gelebt und
gearbeitet hatte, fragte Keil: »Hast du ihnen von uns
erzählt? Wissen sie, wer wir sind?«
»Ich habe ihnen nur erzählt, daß ihr meine
Freunde seid. Mehr wollten sie nicht wissen. Sie mögen mich,
also mögen sie auch euch. Es sind einfache Leute, die
nettesten, die ich seit langem getroffen habe. Wenn ihr nicht
gekommen wärt, würde es mir schwerfallen, sie wieder zu
verlassen.«
»Warum bleibst du nicht einfach hier?« fragte Morren.
»Sie sehen aus, als ob sie dich gerne behalten
wollten.«
»Ich kann nicht bleiben. Bis zum nächsten Frühling
hätte ich Dolwen und ihren Söhnen geholfen, aber ich habe
geschworen, die Welt von der Ungerechtigkeit zu
befreien.«
»Du mußt es wissen«, sagte Morren. »Also
hast du deinen Entschluß gefaßt. Du willst uns noch ein
Stück begleiten, bis die Alifwin die Flöte aus Eis sicher
heimgebracht haben.«
Lonnìl nickte und horchte nur kurz auf, als die Flöte
erwähnt wurde, aber er sagte noch nichts dazu, wofür Keil
ihm sehr dankbar war. Hoffentlich würde er niemals
erklären müssen, was vorgefallen war.
Am Abend aßen sie eine sehr interessant schmeckende
Mahlzeit, welche die Bäuerin gekocht hatte. Eigentlich hatten
sie früh schlafen gehen wollen, um am nächsten Morgen
zeitig aufbrechen zu können, aber dann unterhielt sich Morren
fast die ganze Nacht über mit Dolwen über Gewürze
und Eintöpfe, und die beiden Jungen brachten Keil zwei neue
Lieder bei, so daß die Zeit wie im Flug verging. Wie auch
Lonnìl, schien es diesen Menschen egal zu sein, ob ihre
Gäste Menschen, Zauberer oder Alifwin waren, und sie
behandelten alle wie ihresgleichen.
Erst, als Keil sich wunderte, warum Lonnìl all die Zeit
über schweigend in einer Ecke saß, fiel ihm auf,
daß Schwinge nicht da war. Sie mußte sofort nach dem
Essen der Raum verlassen haben, und bis zum Aufbruch am
nächsten Morgen tauchte sie nicht mehr auf. Keil hätte
Lonnìl trösten können, ihm sagen, daß sich
Schwinge nicht seinetwegen so abkapselte. Doch das hätte
bedeutet, ihm die wirklichen Gründe erklären zu
müssen. Und so groß auch Keils Mitgefühl für
den Menschen war - die Wahrheit mußte ein Geheimnis
bleiben.
Im ganzen Haus gab es nur zwei Betten - eines für die
Bäuerin, und eines, das ihre Söhne mit Lonnìl
teilten. Keil und Morren schliefen in einer Ecke im Stroh, zusammen
mit den Hühnern. Aber das störte ihn nicht.
Schließlich hatte er in der ganzen letzten Zeit direkt auf
dem Boden geschlafen. Am nächsten Morgen, als ein Hahn direkt
neben seinem Ohr krähte, standen sie so früh auf, wie sie
geplant hatten, und obwohl er nur für wenige Stunden
geschlafen hatte, fühlte Keil sich doch ausgeruht. Mit zwei
frischgebackenen Broten, die Dolwen ihnen schenkte, brachen sie
auf. Vor dem Haus trafen sie auf Schwinge, die sich ihnen wortlos
anschloß. So zogen sie nun wieder zu viert nach Norden. Es
war schön, wieder vereint zu sein, fast so wie früher.
Aber nur fast.
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