The world that you inhabit has
not yet been created..
Kathleen Raine
Mit einem Mal hatte die ganze
Welt sich verdreht. Alles, was Keil früher etwas bedeutet
hatte, war jetzt unwichtig, und er hatte kein Ziel mehr. Noch bis
vor wenigen Tage war es sein einziger Wunsch gewesen, die
Flöte aus Eis sicher in die Wälder zu bringen. Was er nun
wollte, wußte er nicht.
»Wenn alle Elfen wissen, daß du dazu bestimmt bist,
die Flöte zu spielen, dann werden sie auch genau das von dir
verlangen, wenn du sie ihnen bringst«, sagte Felder,
»und du würdest sowohl dich als auch sie furchtbar
unglücklich machen. Mein Vorschlag: Bring sie wieder dahin
zurück, wo du sie hergeholt hast, und sag den anderen, du
hättest sie nicht gefunden.«
»Das würde ich furchtbar gerne«, erwiderte Keil.
»Aber dann müßte ich sie anlügen, und ich
hätte nichts, um ihnen zu helfen.«
»Dann gibt es noch eine weiterreichende
Möglichkeit«, sagte Felder. »Bring die Flöte
zurück und bleib bei uns! Du mußt doch zugeben,
daß du Blut geleckt hast, was das Leben in Freiheit angeht.
Du könntest es jetzt genau so wenig einfach aufgeben wie ich.
Und als Team sind wir unschlagbar.«
Irgendwie wünschte Keil, er könnte genau das tun, was
der Mensch ihm da vorschlug. Aber es ging nicht. Er konnte nicht
bis zum Ende seines Lebens davonlaufen. Aber er empfand es als
Erleichterung, daß er zumindest mit Felder darüber reden
konnte. Und auch Lonnìl gab sich alle Mühe, Keil zu
helfen, obwohl er selbst Hilfe gut gebrauchen konnte, um besser mit
dem Verlust von Schwinge umgehen zu können.
»Ich glaube, ich muß mich bei dir entschuldigen,
Keil«, sagte Morren an dem Abend, nach Schwinges Beisetzung.
»Ich habe dich dazu drängen wollen, auf der Flöte
zu spielen. Aber du hattest Recht. Niemand darf auf der Flöte
spielen, und es war ein Fehler, daß ich es versucht habe. Du
hast es als einziger richtig erkannt, und deine Ausdauer und
Starrköpfigkeit sind wirklich bewundernswert. In diesem
Instrument steckt eine Macht, die zu groß ist für
einen.«
»Willst du damit sagen, wenn man nicht einer ist, sondern
viele, wie die Dunklen, dann macht es einem nichts aus, darauf zu
spielen?« fragte Felder und fuhr, als Morren nickte, fort:
»Dann wirst du vermutlich als nächstes vorschlagen,
daß wir ihnen die Flöte als Geschenk anbieten, weil sie
mit einer Übermenge Macht keine Probleme
hätten?«
»Davon habe ich überhaupt nicht gesprochen«,
entgegnete Morren. »Obwohl die Idee einiges für sich
hat, wie ich zugeben muß.«
»Du bist wahnsinnig!« rief Felder entsetzt aus.
»Das also passiert, wenn man auf der Flöte
spielt!«
»Schweig!« zischte der Zauberer. »Wenn du
mir noch einmal ins Wort fällst, habe ich Mittel und Wege,
deinen Mund zu verschließen. Für die Dunklen ist die
Flöte tatsächlich völlig ungefährlich, und ich
werde euch auch sagen, warum. Zum einen könnten sie nicht
darauf spielen, weil es in ihrer Welt gar keine Musik gibt. Nicht
einmal Keil konnte dort spielen - sein Instrument wollte keinen Ton
von sich geben. Außerdem bezieht sich ihr die Macht der
Flöte nur auf unsere Welt, und die Dunklen leben
außerhalb. Zum dritten haben die Dunklen bereits alle Macht,
die sie wollen und können keine neue mehr gewinnen. In der Tat
wäre das Dunkle Reich der sicherste Ort, um die Flöte
außer Gefahr zu bringen, denn wenn die Dunklen sie einmal
haben, werden sie sich nie wieder davon trennen. Sie würden
allein den Gedanken mögen, diese mächtige
Stück Eis in ihrem Besitz zu haben. Versteht ihr, was ich
meine?«
»Ich verstehe nur, daß du wahnsinnig geworden
bist«, sagte Felder.
»Möchtest du die Flöte lieber behalten,
Keil?« fragte Morren sanft. »Glaubst du nicht,
daß sie inzwischen genug Unheil angerichtet hat?«
Keil konnte nicht antworten. Zu eindringlich war die Stimme des
Zauberers, und auch sein Blick war so, daß man ihm nur schwer
standhalten, zugleich aber unmöglich ausweichen konnte. So
konnte Keil ihm nicht widersprechen, aber er wollte auch nicht
zustimmen. Doch er merkte langsam, worauf Morren aus war.
»Aber die Dunklen haben schon die Laute!« sagte
Lonnìl. »Dann dürfen sie nicht auch noch die
Flöte bekommen!«
»Du hast genau den Punkt getroffen, den ich meinte«,
sagte Morren lächelnd. Er lächelte wieder viel in letzter
Zeit. Von dem Schock schien er sich gut erholt zu haben. »Im
Moment haben sie die Laute. Aber sie können nichts damit
anfangen. Daher werden sie nur zu bereit sein zu einem
Tausch.«
»Ja, und sie werden uns über den Tisch ziehen«,
sagte Felder. »Keine Geschäfte mit den Dunklen mehr. Man
kann nur dabei verlieren - und ich weiß, wovon ich rede.
Laßt die Dunklen aus dem Spiel.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?« fragte Morren.
»Ich habe schon verschiedene Möglichkeiten
vorgeschlagen, und jede einzelne von ihnen war besser als dieser
Wahnsinn.«
»Und jede von ihnen besagte, daß Keil am Ende mit
leeren Händen dastehen würde. Wenn er dagegen meinem
Vorschlag folgt, kann er zumindest die Laute zu seinem Volk
bringen. Wir wissen zwar nicht, wofür sie gut sein soll, aber
sie kann niemals soviel Schaden anrichten wie die Flöte. Was
denkst du, Keil?«
»Hör nicht auf ihn!« warnte Felder von der
anderen Seite. »Die Dunklen werden nur wieder eine
Möglichkeit finden, wie sie beides bekommen können -
Flöte und Laute.«
»Das werden sie nicht versuchen«, sagte Morren.
»Was sie haben wollten, das haben sie bekommen. Aber
grundsätzlich stehen sie als Hohes Volk auf der Seite der
Alifwin. Sie haben uns gehen lassen, obwohl wir in ihrer Gewalt
waren und keine Möglichkeit hatten zu entkommen, und sie waren
es, die uns den Hinweis gegeben haben, zum
Th’enlathíel zu gehen. Sie haben kein Interesse daran,
daß die Alifwin von den Menschen ausgerottet werden. Schon
allein deswegen haben wir nichts von ihnen zu
befürchten.«
Jetzt redeten Morren und Felder von beiden Seiten gleichzeitig auf
Keil ein, und er konnte keinem von ihnen mehr zuhören. In
seinem Kopf schwirrte es. Er hatte das Gefühl, als würde
er in zwei Richtungen auseinander gerissen. Es war ihm
unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, solange die beiden
sich stritten, vor allem, da sie immer lauter wurden. Felder
brüllte fast, und Morrens Stimme dröhnte
allesdurchdringend.
»Aufhören!« schrie Keil. Es war, als müsse
sein Kopf platzen, wenn nicht augenblicklich Ruhe eintrat.
»Hört auf! Laßt mich zufrieden!«
Schlagartig wurde es still. Die beiden Streithähne drehten
ihre Köpfe erstaunt zu Keil hinüber.
»Ist dir nicht gut?« fragte Lonnìl besorgt.
»Du siehst krank aus.«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Keil matt. Endlich
gelang es ihm wieder, seine Gedanken zu ordnen. »Ich denke,
Morren hat Recht. Wir sollten es versuchen.«
Felder starrte ihn sprachlos mit offenem Mund an.
»Ich hatte gehofft, daß du dich so entscheiden
würdest«, sagte Morren. »Es ist die einzige
vernünftige Lösung. Natürlich verstehe ich auch,
warum Felder sich so sehr dagegen gesträubt hat. Wir
dürfen nicht vergessen, daß seine Erfahrung mit den
Dunklen tatsächlich nicht die Besten sind. Aber niemand zwingt
dich, mit uns zu kommen, Felder.«
»Ihr glaubt, ich würde euch alleine den Dunklen
überlassen?« fragte Felder entrüstet. »Ich,
der ich weiß, daß ihr auf dem besten Weg seid, einen
großen Fehler zu machen? Der ich als einziger weiß, wie
man mit den Dunklen umgehen muß? Ich bleibe bei euch, und
wenn es das Letzte ist, was ich im Leben tue.«
»Das könnte es in der Tat sein«, sagte Morren und
lächelte. »Es freut mich, daß wir alle einer
Meinung sind - oder möchtest du uns noch gerne widersprechen,
Lonnìl? Nein? Wie schön. Dann würde ich sagen, wir
ändern die geplante Route und reisen wieder einmal nach
Thoria.«
»Warum denn gerade nach Thoria?« fragte Felder
zerknirscht.
»Wenn es überhaupt irgendwo auf der Welt ein festes Tor
in das Dunkle Reich gibt, dann dort. Es ist gewissermaßen
eine Übergangswelt. Hast du schon wieder vergessen, daß
wir dort immer die Anwesenheit der Dunklen spüren konnten? Nur
über Thoria können wir in Kontakt mit ihnen
treten.«
Obwohl Keil irgendwie noch immer nicht ganz wohl war bei der Idee,
brachen sie am nächsten Morgen auf in Richtung Thoria. Morren
hatte Recht. Es gab keine andere Möglichkeit, zu verhindern,
daß die Flöte gespielt wurde, ohne dabei alle Alifwin zu
verraten.
Dann jedoch, an einem
bewölkten Vormittag, hatten sie eine unheimliche Begegnung,
die wieder das Schicksal Thorias in ihre Gedanken rief und die
Freunde daran zweifeln ließ, ob es wirklich das Beste war,
freiwillig zu den Dunklen zurückzugehen. Dabei sah es zuerst
nicht so aus, als ob der Fremde, der langsam vor ihnen den Weg
entlang wanderte, irgendeine Bedeutung für sie haben konnte.
Es war ein gewöhnlicher Mann, ärmlich gekleidet, der
langsam einen Fuß vor den anderen setzte, so daß sie
ihn schnellen Schrittes überholt hätten, ohne weiter
über ihn nachzudenken. Straßen wurden nun einmal
benutzt, und andere Menschen waren nichts Absonderliches. So kam es
für Lonnìl sehr überraschend, als Felder
plötzlich stehenblieb, hektisch mit den Armen herumfuchtelte
und sogar einige Augenblicke brauchte, bis er überhaupt ein
Wort hervorbrachte.
»Da vorne geht ein Thorianer!« rief er mit einer
Stimme, die sich vor Aufregung fast überschlug, und hielt
Lonnìl am Arm fest. »Da - der Mann da!«
»Und woran erkennst du das jetzt schon wieder?« fragte
Morren spöttisch. »Von hinten, auf mehr als fünfzig
Schritt Entfernung?«
Er hatte recht: Der Mann vor ihnen sah aus wie jeder andere
gewöhnliche Bauer, und sie waren noch zu weit weg, um seine
Tracht genau erkennen zu können. Aber Felder war unbeirrbar.
Für ihn gab es keinen Zweifel an der Herkunft des Mannes.
»Ich habe den besten Teil meines Lebens in Thoria
zugebracht. Meint ihr nicht, ich wüßte inzwischen, wie
meine Landsleute aussehen? Ich kann einen Thorianer auf hundert
Schritt am Nacken erkennen, was das betrifft. Glaubt mir nur. Wenn
das da kein Thorianer ist, werde ich nie wieder ein Schwert
anrühren und mein Leben als Suppenkoch in einem Gasthaus
beenden.«
Seit sie die alte Frau in den Mooren getroffen hatten, war dies
das erste Lebenszeichen, das Felder von seinem verlorenen Volk
entdeckte oder zu entdecken glaubte. Es war nicht verwunderlich,
daß er sich an jeden erreichbaren Strohhalm klammerte. Nun
lief er los und hatte den Wanderer bald eingeholt.
Aus der Nähe betrachtet hatte der Mann tatsächlich nicht
zu verleugnende Ähnlichkeiten mit Felder: Wenn es Eigenart der
Thorianer war, lockiges Haar und breite, kantige Gesichter zu
haben, dann konnte dieser Mensch tatsächlich ein Thorianer
sein. Lonnìl staunte darüber, wie Felder dies von
hinten hatte erkennen können. Iohm war an dem Fremden nur sein
merkwürdig schleppender und unsicher wirkender Gang
aufgefallen. Dies war jedoch nichts besonderes, wenn man davon
ausging, daß der Fremdling ebenfalls betrunken war. Hatte
Felder ihn vielleicht daran erkannt?
Aber als er das Gesicht des Thorianers aus der Nähe sah,
stockte Lonnìl einem Moment lang der Atem. Er hatte noch
niemals eine derartige Leere erblickt wie in den grauen Augen des
Mannes, der nun stehenblieb, weil Felder ihn am Ärmel
festhielt. Der Mann bewegte die Lippen und murmelte etwas vor sich
hin, aber es war kein Wort zu verstehen. Er schien keinen der vier
überhaupt wahrzunehmen.
»Entweder ist er taub oder blind oder blödsinnig oder
alles zusammen«, stellte Felder fest und winkte mit seiner
Hand vor dem Gesicht des anderen, ohne daß dieser jedoch
darauf reagierte. »Trotzdem bin ich mir sicher, daß er
aus Thoria kommt.«
Beim Klang des Wortes ‘Thoria’ ging eine
Veränderung mit dem Mann vor. Er hob den Kopf und richtete
seine Augen auf Felder, doch es war kein Ausdruck darin.
»Der König ist gestorben« sagte er tonlos, aber
deutlich, »und wir werden Not leiden.«
»Hey, es funktioniert«, rief Felder erfreut. »Er
hört auf mich! Noch mal, Kamerad: Thoria?«
»Der König ist gestorben«, wiederholte der Mann.
»Ich muß hinausgehen und das Feld bestellen. Meine
Kinder warten schon auf mich.«
»Wie ich schon sagte: Vollkommen blödsinnig. Feld
bestellen, um diese Jahreszeit! Aber taub scheint er doch nicht zu
sein. Thoria?«
»Hör auf!« fuhr Morren dazwischen. »Mach
dich nicht lustig über ihn, weil er verwirrt ist!«
»Ja, schon gut … aber denk dir doch nur: Der erste
Thorianer, den ich seit Monaten treffe, und dann ist es
ausgerechnet der Dorftrottel! Darf ich nicht ein wenig Spaß
haben, wenn er mir schon nichts über den Verbleib der anderen
erzählen kann? Immerhin bekommt er nichts davon mit. Er ist
völlig weggetreten. Das einzige, was er hört, ist
‘Thoria’. Und wir können ihn in seinem Zustand
schlecht alleine hier herumlaufen lassen. Er würde von der
nächsten Klippe fallen, ohne es zu merken.«
Felder schien ziemlich enttäuscht. So sehr er auch immer
gegen Thoria und seine Bewohner gewettert hatte, von dieser
Begegnung mußte er sich mehr versprochen haben. Jetzt
mußte dieser arme, verwirrte Mann darunter leiden. Er bekam
zwar nicht mit, wie sich sein König über ihn lustig
machte, aber das gab Felder trotzdem kein Recht, ihn so zu
verspotten.
»Laß ihn in Ruhe«, sagte Lonnìl. Felder
zuckte die Schultern.
»Der König ist gestorben«, sagte der Fremde
nochmals. »Ich muß es meiner Frau
erzählen.«
»Hör auf, das immer zu sagen!« fuhr Felder ihn
an. »Der König ist seit mehr als drei Monaten tot! Deine
Frau ist nicht hier! Du bist nicht mehr in Thoria!«
»Der König ist gestorben …«
»Sei still, verdammt! Sonst -« Felder fuhr sich
hektisch mit der Hand durch die Haare, strich sie sich aus der
Stirn und rieb sich die Augen. »Laßt uns schnell
weitergehen! Wir können ihm nicht helfen.«
»Macht er dir Angst?« fragte Morren.
Felder schüttelte erst den Kopf, dann nickte er und
schüttelte wieder den Kopf. »Nein … ja …
ich weiß es nicht. Es ist nur … für ihn scheint
gar keine Zeit vergangen zu sein.«
»Und das bereitet dir Probleme«, stellte Morren fest.
»Aber natürlich! Wie konnte ich nur vergessen, was
für eine Belastung die Zeit für dich ist. Vielleicht hast
du aber auch gemerkt, daß er kein gewöhnlicher Irrer
ist? Und daß er offensichtlich in diesem Zustand seit just
dem Tag ist, an dem du Thoria und seine Bewohner an die Dunklen
verloren hast?«
»Ich bin betrogen worden«, sagte Felder trotzig, sah
aber dabei zu Boden und scharrte mit dem Fuß im Staub wie ein
nervöses Pferd. »Und ich habe die Thorianer nicht
verloren. Ich habe sie zurückgewonnen.«
»Aber die Dunklen hatten sie. Und zumindest unserem
Freund hier scheint das nicht gut bekommen zu sein. Du wirst mir
doch wohl zustimmen?«
»Da gibt es keinen Zusammenhang. Die Dunklen hatten uns
auch, mich sogar zweimal, und trotzdem laufe ich nicht durch die
Gegend und sage mit Grabesstimme ‘Der König ist
gestorben’. Spinner hat es in Thoria immer schon gegeben. Was
glaubt ihr, warum ich von dort weggegangen bin?« Nach einer
Pause, in der er dem Mann hinterher blickte, der inzwischen langsam
weitergewandert war, fügte er hinzu: »Immerhin hat er
mich nicht erkannt. Aber ich habe auch nie Kontakt zu Irren
gepflegt.«
»Ich frage mich, wo er hingeht«, murmelte Keil
bedrückt. »Er hat kein Land mehr, in das er gehen
könnte. Und was aus seiner Familie geworden ist, wissen wir
auch nicht.«
»Er hat kein Ziel«, antwortete Morren. »Nichts
von dem, was ihr hier seht, existiert für ihn. Der einzige von
uns, den er am Rand wahrgenommen hat, ist Felder, weil er ein
Bestandteil seiner Welt ist, nicht aber seines persönlichen
Lebens. Aber sein Kopf, seine Gedanken … nichts. Er ist
vollkommen leer. Es müßte interessant sein, sich
näher mit ihm zu beschäftigen. Aber ich habe ja auch bald
viel Zeit dafür.«
»Wechseln wir das Thema«, sagte Felder.
Sie gingen weiter. Nach kurzer Zeit hatten sie den Mann mit den
leeren Augen wieder eingeholt, aber sie hielten ihn nicht noch
einmal auf, und Felder blickte starr geradeaus, als sie mit eiligen
Schritten an ihm vorbeigingen.
Als sie am Abend um das Feuer saßen, war Felder viel
schweigsamer als gewöhnlich. Mit der Spitze seines Messers
malte er Spiralen in den sandigen Boden, und er schien mit seinen
Gedanken weit fort zu sein. Gelegentlich griff er abwesend nach
seiner Flasche und trank einen Schluck, aber Lonnìl hatte
das Gefühl, daß ihm nicht einmal das bewußt war.
Die Begegnung vom Vormittag hatte dem Thorianer wohl einen
gehörigen Schrecken versetzt, auch wenn er wie üblich
kein Wort mehr darüber verlor. Als das Feuer fast
heruntergebrannt war, blickte Felder abrupt auf und sah die anderen
an. Von einem Moment auf den anderen klärten sich seine etwas
verschleierten Augen auf.
»Habe ich euch eigentlich schon mal von meiner Frau
erzählt?« fragte er.
»Du hast uns von ziemlich vielen Frauen erzählt«,
antwortete Morren, »egal, ob wir es hören wollten oder
nicht.«
»Ich spreche nicht von meinen Geliebten. Es geht um meine
Gemahlin.«
»Du hast niemals ein Wort über sie verloren«,
sagte der Zauberer. »Ich war mir natürlich sicher,
daß du verheiratet sein mußtest. So etwas wird für
Kronprinzen meistens recht früh arrangiert, habe ich
recht?«
Felder nickte. »Mein Vater hatte es in der Hinsicht wie
üblich eilig. Das einzige Mal, daß er sich um mich
gekümmert hat war, als es darum ging, mir eine Frau zu
besorgen. Lyantra, Tochter von irgendeinem Grafen. Ich habe sie
geheiratet, als ich fünfzehn war. Aber glaubt nicht, daß
ich auch nur das leiseste Mitspracherecht hatte.«
Lonnìl spürte, wie er schon wieder wütend wurde,
ohne daß er wußte, warum. Er hätte sich ebenso wie
Morren denken müssen, daß Prinzen verheiratet wurden.
Und er hätte auch Felder gut genug kennen müssen, um zu
wissen, daß ihn das nicht davon abhalten würde, andere
Frauen zu treffen. Die Ehe hatte in solchen Kreisen nur politische
Bedeutung und nichts mit Liebe zu tun, so wie auch bei zwei
Großbauern, die ihre Kinder verheirateten, um die Höfe
zu vereinigen. Aber trotzdem …
»Du magst deine Frau nicht besonders, habe ich recht?«
fragte er. »Glaubst du nicht, daß du ihre Gefühle
verletzt, wenn du derart öffentlich mit deinen Affären
angibst?«
Jetzt wich der verträumte, abwesende Ausdruck endgültig
aus Felders Gesicht. Er funkelte Lonnìl wütend an.
»Halt dich raus aus Sachen, von denen du nichts
verstehst!« fuhr er ihn an. »Ich mag meine Frau, und
ich will ihr nicht wehtun. In keiner Hinsicht. Es gibt gute
Gründe dafür, daß wir unsere Ehe nie vollzogen
haben.«
»Ach ja?« fragte Lonnìl, den die Zurechtweisung
gekränkt hatte, zurück. »Ist sie dir vielleicht zu
häßlich, oder hat sie keine Lust, deine Spielchen
mitzuspielen?«
Felder stürzte sich auf ihn, warf ihn zu Boden und setzte ihm
sein Messer an den Hals. »Hör mir gut zu«, zischte
er. Lonnìl versuchte, sich nicht zu rühren. Noch nie
hatte er Felder derart aufgebracht erlebt. Egal, wie oft ihn Morren
geschlagen hatte, er hatte nie seine Beherrschung verloren.
»Lyantra ist ein wundervolles Mädchen, ich hätte
kaum ein hübscheres bekommen können, und sie mag mich
wirklich. Am Anfang war ich vielleicht etwas eklig zu ihr, aber
danach habe ich mich ihr gegenüber immer nett verhalten. Sie
sah in mir vermutlich so etwas wie einen älteren Bruder. Einen
zehn Jahre älteren Bruder, wenn du es genau wissen willst. Wir
waren einander versprochen, lange bevor sie überhaupt geboren
wurde. Als wir heirateten, war sie fünf. Fünf, verstehst
du? Möchtest du gerne mit einem Kind verheiratet sein? Jetzt
wurde sie langsam erwachsen und entwickelte nicht zu verleugnende
Reize, aber vorher? Ich bin nicht mein Vater. Habe ich dir
erzählt, daß er meine Mutter umgebracht hat, weil es ihm
nicht schnell genug gehen konnte? Ich wollte Lyantra nicht
verlieren, darum geht es! In einem Jahr oder so wäre sie
soweit gewesen. Aber jetzt …«
Er verharrte einen Moment reglos, die Schneide immer noch an
Lonnìls Hals, und langsam wurden seine Augen wieder glasig.
Seine Hand zitterte - Lonnìl spürte das Vibrieren des
Messers auf seiner Haut und hielt die Luft an, hoffte, daß
Felder es bei dieser Drohung belassen würde. Obwohl ihn kalte
Angst überkam, zwang er sich, die Augen auf zu lassen und
Felder ins Gesicht zu sehen. Endlich schien der Thorianer zu
bemerken, was er gerade im Begriff war zu tun. Er ließ
Lonnìl los und stand schwankend auf, immer noch auf das
Messer blickend. Mit einer fahrigen Bewegung führte er die
Klinge kurz an seinen eigenen Hals, schauderte und steckte sie
schnell wieder weg. Dann streckte er die Hand aus, um Lonnìl
aufzuhelfen, und grinste verlegen.
»Tut mir leid, daß ich dich gerade so überrumpelt
habe. Ich weiß auch nicht, was da plötzlich über
mich gekommen ist. Ich hätte dich nicht wirklich erstochen,
mußt du wissen. Aber denk nächstes Mal nach, bevor du
etwas sagst, wovon du nichts verstehst.« Felders Aussprache
war nun ein wenig schleppend, und sein Grinsen hatte etwas
Dümmliches an sich. Er hatte seine Maske wieder aufgesetzt,
war wieder der gut aufgelegte, leicht betrunkene Kamerad, den kein
Wässerchen trüben konnte. Aber seine Freunde konnte er
damit nicht mehr täuschen.
Lonnìl blieb schweigsam. Er mußte an Felders
unglückliche kleine Frau denken. War sie, waren alle Thorianer
so geworden wie der Mann mit den leeren Augen?
Es tat weh, Felder in den
nächsten Tagen sehen zu müssen. Die Begegnung mit dem
Thorianer hatte ihn schwerer getroffen, als er sich im ersten
Moment anmerken ließ, und die Aussicht auf ein Wiedersehen
mit den Dunklen bereitete ihm ebenfalls große Probleme.
Felder sprach nicht über das, was ihn bedrückte. Aber im
Unterschied zu früher redete er auch ansonsten nur wenig; es
war kaum möglich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er
verbrachte die meisten Vormittage damit, ungeduldig Ausschau nach
einem geeigneten Bauernhof zu halten, auf dem er seine Flasche
auffüllen konnte, denn was früher für drei bis vier
Tage gereicht hatte, langte jetzt nicht einmal mehr bis zum Abend.
Morren ignorierte die Verbissenheit, mit der Felder trank. Seit dem
Tag des Kampfes hatte er kein Wort mehr darüber verloren,
daß Felder sich zugrunde richtete. Vielleicht hatte er
erkannt, daß ihm damit auch nicht zu helfen war. Keil
wußte nicht, wie er sich verhalten sollte und was
größer war: Seine Abscheu oder sein Mitleid. Sie kamen
nur noch langsam voran, aber egal, wie sehr Felder ihnen zum
Hindernis geworden war: Sie konnten ihn so nicht mehr allein
lassen. Es war schon schlimm genug, wie Schwinge gestorben war.
Jetzt durften sie nicht auch noch Felder verlieren.
»Gibt es denn überhaupt keine Möglichkeit, wie wir
ihm helfen können?« fragte Keil an einem Abend
unglücklich Lonnìl, als dieser eine Decke über den
völlig hilflos am Feuer zusammengesunken Felder legte. Die
Nächte waren schon empfindlich kühl. »Ihm scheint
alles egal zu sein.«
»Er wünscht sich, es wäre so«, antwortete
Lonnìl. »Aber er kann nicht länger verleugnen,
daß er eine furchtbare Schuld auf sich geladen hat.
Gleichzeitig kann er sie sich aber auch nicht eingestehen. Er
versucht zu verhindern, daß er zu bereuen beginnt. Und daran
zerbricht er langsam. Oder er ist es bereits.«
»Manche Schuld ist zu groß, als daß man mit ihr
leben kann«, sagte Keil und dachte an Schwinge. Auch sie war
an etwas zerbrochen, über das sie nicht sprechen konnte. Aber
zumindest hatte sie schließlich den direkten Ausweg
gewählt. Sie hatte sich nicht langsam umgebracht. »Wie
lange, meinst du, wird es mit ihm so weitergehen?«
»Ich sage es dir jetzt ganz ehrlich: Ich denke nicht,
daß es noch lange dauert. Etwas wird geschehen, wenn wir in
Thoria sind. Entweder muß er sich endlich offen zu seiner
Schuld bekennen, oder er wird es nicht überleben.«
Lonnìl seufzte tief. »Er hat schon damals versucht,
sich umzubringen. Und noch einmal könnte ihn Morren nicht
retten.«
»Ich würde es auch gar nicht erst versuchen«,
mischte sich Morren in ihr Gespräch ein. »Was zuviel
ist, ist zuviel. Es war schon beim letzten Mal ein Fehler. Ich
hätte erkennen müssen, daß ich die Entwicklung nur
verzögern konnte, nicht verhindern. Sein Ende war absehbar,
seit wir den Dunklen entkommen sind. Jetzt ist es nur eine Frage
der Zeit. Wenn er früher gestorben wäre, würden wir
ihn vielleicht in besserer Erinnerung behalten. So aber werden wir
ihn vor Augen haben, wie er jetzt ist. Und wir werden ihn nicht
vermissen.«
»Doch, das werde ich«, sagte Keil. »Was immer er
ist, er ist mein Freund.«
»Ja, dafür hältst du ihn. Lonnìl
vermißt auch immer noch Schwinge. Es ist das Glück von
euch Sterblichen, daß ihr niemals die wahre Natur einer
Person erkennen könnt.« Der Zauberer schnalzte
mißbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
»Ein Leben ohne Illusionen wäre mehr, als ihr vertragen
könnt. Sonst geht es euch wie ihm.«
»Früher warst du nicht so herzlos«, murmelte
Lonnìl.
»Früher war ich nicht so ehrlich. Ich wollte
euch schonen. Aber Felder hatte vollkommen recht: Egal, was ihr tut
und egal, wie ihr lebt, irgendwann sterbt ihr alle. Auch wenn
einige von euch es etwas früher tun als andere, es ist nur
eine Frage der Jahrtausende, bis auch der letzte von euch tot ist.
Trotzdem habt ihr mehr Glück als andere. An euch werde ich
mich immerhin erinnern. Dies ist die einzige Unsterblichkeit, die
ihr jemals erlangen könnt. Wenn ich euch einen Rat geben darf:
Das ist zwar eine feststehende Tatsache, aber findet euch
bloß nicht damit ab. Wenn ihr das tut, werdet ihr wie
Felder.«
Mit diesen Worten drehte sich der Zauberer wieder beiseite und
versank in grüblerischer Betrachtung seiner Kristallkugel, und
er ließ Keil und Lonnìl in großer Verwirrung
zurück.
Der nächste Tag war einer von der Sorte, an denen Felder
keine Möglichkeit fand, um sich mit Alkohol zu versorgen. Dies
bedeutete, daß er zwar extrem schlechter Laune war, aber
immerhin nüchtern im Vergleich zu den vergangenen Tagen, und
Keil versuchte zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder, ein
Gespräch mit dem Menschen anzufangen. Das wollte Felder
vielleicht nicht, aber er hatte es nötig. Es würde nicht
mehr lange dauern, bis sie die thorianische Grenze erreichten.
»Du hast Angst vor dem, was uns in Thoria erwartet, nicht
wahr?« fragte Keil vorsichtig. »Aber du mußt
nicht mitkommen, wenn du es nicht willst.«
Felder schaute ihn lange schweigend an. Sein ganzes Gesicht war
verquollen, seine Augen blutunterlaufen, aber am Schlimmsten war
sein Gesichtsausdruck. Er war unglaublich traurig. Es lag keine
Hoffnung mehr in Felders Blick.
»Ich sträube mich«, sagte er schließlich.
»Ich will nicht nach Thoria, um nichts in der Welt. Aber es
gibt auch keinen anderen Ort, an dem ich statt dessen sein
möchte. Und ihr braucht meine Hilfe. Ich bin derjenige von
uns, der Kontakt zu den Dunklen aufnehmen kann. Ich werde ihnen das
Angebot machen. Von mir werden sie es annehmen. An euch haben sie
kein Interesse.« Er mußte Keils zweifelnden Blick
richtig gedeutet haben, denn erfuhr fort: »Ich weiß,
was du denkst. Du glaubst nicht, daß ich euch im Moment
irgendwie helfen könnte. Aber das ist nur die Angst, verstehst
du? Ich mag nicht daran denken, und es gibt nur eine
Möglichkeit, um das zu verhindern. Aber ich verspreche dir:
Wenn wir Thoria erreichen, werde ich stocknüchtern sein. Es
gibt Momente im Leben, da muß man das. Und das weiß
sogar ich. Es gibt eine Art von Begegnung, bei der man einen klaren
Kopf brauchen kann. Du weißt, was ich meine, Keil. Reden wir
ein einziges Mal wirklich offen. Wenn wir in Thoria sind, werde ich
sterben. Ich bin so gut wie tot. Und es ist nicht leicht, mit dem
Wissen zu leben.«
Aber obwohl Keil Felders Erleichterung, endlich darüber
gesprochen zu haben, förmlich spüren konnte, war die
Unterhaltung damit auch schon wieder zu Ende. Felders
Bedürfnis, allein zu sein, überwog seinen Drang, sein
Herz auszuschütten. Die folgenden Tage verbrachte er wieder
trinkend.
An dem Tag, an dem sie Thoria
erreichten, schien die Sonne aus einem grellblauen Himmel, so als
hätten sich die Götter entschlossen, ihm den letzten Tag
seines Lebens so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber sie
unternahmen nichts gegen seine Kopfschmerzen, und auch die
Bauchkrämpfe blieben da, wo sie die ganze Zeit waren. Felder
freute sich nicht über das schöne Wetter. Wenn es ein
Zeichen der Götter war, dann ein letzter Hohn. Außerdem
hatte er schon lange aufgehört, an sie zu glauben. Selbst die
Elfen hatten eine nettere Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Aber
sie hatten schließlich mehr Zeit. Er selbst war gerade erst
fünfundzwanzig, auch wenn er sich älter fühlte als
jedes Wesen, das jemals gelebt hatte, Steine eingeschlossen. Jetzt
wußte er nichts mehr, was er mit sich noch hätte
anfangen können. Die ganze Zeit war ihm Schwinges Selbstmord
nicht aus dem Kopf gegangen. Natürlich war sie heldenhaft im
Kampf gefallen, aber Felder war sicher, daß sie in das
Schwert gesprungen war. Sie hatte damit Lonnìl das Leben
gerettet, und was für eine Schuld sie auch immer bedrückt
hatte - bessere Buße konnte sie nicht tun. Schwinge hatte
ihren Teil getan. Jetzt war es an der Zeit, daß er den
seinigen tat. Zumindest sein Tod würde nicht umsonst sein.
Aus einem anderen Land nach Thoria zu kommen, war wie an einem
klaren Tag plötzlich in eine Nebelwand zu laufen. Man konnte
die Grenze sehen, nicht aber das, was dahinter lag. Nachdem sie die
Moore einmal betreten hatten, gab es nichts mehr um sie herum als
Nebel. Jetzt konnte es lange dauern, bis sie wieder herausfanden,
auch wenn sie gerade erst zwei Schritte weit in das tote Land
hinein getreten waren. Keil begann leise zu singen, aber das war
das Letzte, was Felder jetzt hören wollte, und er fauchte den
Elfen an, endlich Ruhe zu geben. Jetzt mußte er sich
konzentrieren können.
Seltsamerweise fühlte sich Felder gar nicht mehr
schwermütig. Die letzten Schritte aus dem Licht auf den Nebel
zu waren die Schlimmsten; zum ersten Mal im Leben verspürte er
den Drang, vor etwas davonzulaufen. Sein Verstand schrie nach
Alkohol, nach einem Rausch, der den Stumpfsinn am Rande der
Bewußtlosigkeit brachte. Wäre die Flasche nicht leer
gewesen … Aber das hatte er jetzt hinter sich. Seine
Kopfschmerzen und die Übelkeit waren verschwunden. Er
verspürte endlich jene Leichtigkeit, die er in den letzten
Tagen vergeblich zu erlangen versucht hatte. Es vermittelte ihm das
beruhigende Gefühl, diesmal eine richtige Entscheidung
getroffen zu haben. Das, was er vorhatte, war das Beste, wenn nicht
für ihn, dann für die anderen. Felder fühlte sich
sicher. Er hatte sich immer gewünscht, dem Tod einmal aufrecht
gegenüber zu stehen. Und genau das würde er jetzt tun. Er
hatte keine Angst mehr.
Dies waren die Moore von Thoria. Auf der ganzes Welt gab es kein
toteres Stück Land, und keinen besseren Ort zum Sterben. Es
war, als wäre er schon selbst ein Teil des Nebels.
Felder drückte ein letztes Mal Lonnìls Hand. Er hatte
mit dem Bauern nicht über den Tod geredet, aber trotzdem
wußten beide, daß dies die wohl letzte Gelegenheit war,
sich von einander zu verabschieden.
»Bereust du es jetzt?« fragte Lonnìl. Was
meinte er damit? Hergekommen zu sein? Oder auf den Tag, an dem die
Dunklen mit Felder gespielt hatten? Es war egal. Auf beides konnte
Felder nicht klar antworten.
»Wenn du eine Entscheidung, die du getroffen hast,
bereust«, sagte er statt dessen, »und du die
Möglichkeit hättest, sie rückgängig zu machen,
würdest du es dann tun?«
»In jedem Fall«, sagte Lonnìl.
»Aber dann stündest du wieder vor der selben
Entscheidung. Und es ist nicht gesagt, daß du beim zweiten
Mal eine bessere Wahl treffen wirst. Dinge müssen ihren Gang
gehen. Rückgängig zu machen würde bedeuten, den Lauf
der Welt anzuhalten.«
Lonnìl reagierte nicht darauf. Aber er war auch gar nicht
mehr da. Felder war allein im Nebel. Endlich war es soweit. Und
irgendwie hatte er noch immer Angst.
»Dunkle«, sagte er leise. Immerhin zitterte seine
Stimme nicht. »Ich bin gekommen, um mit euch zu verhandeln.
Ich weiß, daß ihr mich hören könnt. Seid ihr
bereit?«
Du bist zu uns zurückgekehrt, Dhelin von Thoria? Die
Stimmen schienen durch den Nebel von weit fern zu kommen. Dies war
nicht das Dunkle Reich selbst, nur das Grenzgebiet.
»Ich bin gekommen, um mit euch zu reden. Laßt mich und
meine Freunde in eure Welt.«
Letztesmal hattet ihr es eilig, wieder abzureisen.
»Die Zeiten haben sich geändert. Wollt ihr mein Angebot
hören?«
Im Nebel vor ihm erschien ein schwarzes Portal. Ebenso, wie die
thorianische Grenze eine Wand aus Nebel darstellte, hing jetzt vor
seinen Augen eine Wand aus Dunkelheit. Er schritt hinein, und um
ihn herum erstarb alles Licht.
»Sind die anderen auch hier? Ich möchte, daß ihr
sie nachher unbescholten zurücksetzt, und möglichst nicht
wieder in die Ödnis.«
Warum seid ihr überhaupt nach Thoria
zurückgekehrt?
»Uns ist keine andere Möglichkeit eingefallen, Kontakt
zu euch aufzunehmen.« Jetzt mußte er es sagen. Aber es
war leichter als erwartet. »Ich biete euch einen Tausch an.
Ihr seid im Besitz einer Laute aus Bein, mit der ihr, wie ihr sagt,
nichts anfangen könnt. Ich möchte, daß Keil aus dem
Volk der Alifwin sie bekommt. Als Gegenleistung … biete ich
mich. Gebt Keil die Laute, und mein Leben ist eures.«
Das wäre ein schlechter Tausch. Was würde er uns
bringen, das uns nicht schon längst gehört?
Die große Schwärze nahm ihn auf, und er spürte,
wie er fiel, immer tiefer, immer tiefer …
In dem Moment, in dem sie Thoria betraten, spürte Keil
bereits die Anwesenheit des Dunkels. Es schien ihn zu betasten, als
ob die Dunklen noch nicht genau wüßten, wer er war und
was er bei sich trug. Er fragte sich, wie es ihnen gelang, einen
derart genauen Überblick über die Vorgänge in der
Welt zu haben. Aber sie hatten genau gewußt, daß der
thorianische König gestorben war, noch bevor die ansonsten gut
informierten Elben etwas erfahren konnten. Auch jetzt spielten die
Dunklen mit ihnen. Sie wußten sicherlich, daß Keil und
seine Gefährten ihnen die Flöte brachten, und sie
hätten sie jederzeit in ihre Welt holen können. Aber
vermutlich hielten sie es für amüsanter, die Freunde noch
einmal nach Thoria laufen zu lassen und zuzusehen, wie sehr sich
Felder vor der Begegnung fürchtete und was er sich um
ihretwillen antat. Auch wenn er jetzt freiwillig zu ihnen kam,
haßte Keil die Dunklen mehr als jemals etwas anderes, und er
fürchtete sie.
Der kalte Nebel kroch in seine Kleidung und legte sich wie ein
eisiger Film auf seine Haut. Keil versuchte, etwas zu singen, aber
er brachte keinen Ton heraus. Beim letzten Mal waren die Moore
nicht so schrecklich gewesen. Nur das Dunkel selbst konnte noch
schlimmer sein. Von seinen Freunden war jede Spur verschwunden.
»Ihr Dunklen!« rief Morren. »Wir sind gekommen
-«
Mit einem Angebot, das wissen wir. Aber warum kommt ihr nicht
herein, damit wir die Sache in Ruhe besprechen können? Es ist
so feucht und kalt da draußen. Wir wollen doch nicht,
daß ihr euch erkältet.
Keil wünschte sich, die Dunklen hätten sie wie beim
ersten Mal einfach genommen und in ihre Welt geholt. Aber das taten
sie nicht. Statt dessen öffneten sie vor ihnen ein Portal der
Dunkelheit und überließen es ihnen selbst,
hindurchzugehen. Sie wußten genau, daß Keil das nicht
konnte. Das Dunkel stieß ihn ab, und ebenso wie er nicht in
der Lage war, Eisen zu berühren, konnte er nicht die Schwelle
zur Dunkelheit überschreiten.
Morren tauchte im Nebel auf, und ohne sich noch einmal nach den
anderen umzusehen, betrat er das Dunkle Reich. Ihn folgte
Lonnìl, der mehrmals nach Keil und Felder rief, ihn aber
offensichtlich nicht sehen konnte und schließlich ebenfalls
in dem Portal verschwand. Keil spürte, daß er alleine
war. Wo immer Felder sein mochte - er war nicht mehr da. Alles
Leben befand sich hinter einer Wand aus Dunkelheit, und er konnte
nichts tun.
Warum kommst du nicht, Antroschinanarinu? Ohne dich kann der
Tausch nicht stattfinden. Es sind nur zwei Schritte.
Keil wußte nicht, woher sie jetzt seinen Namen kannten. Beim
letzten Mal hatten sie keinen Gebrauch davon gemacht. Ob sie es
gehört hatten, als Schwinge …
Mach dir keine Sorgen darüber, daß die Jägerin
dich verraten hätte. Wir kannten deinen Namen schon immer. Und
wir rufen dich. Komm zu uns!
Als ob ihn ein unsichtbares Seil zöge, mußte Keil auf
das Tor zugehen, langsam, mit winzigen Schritten. Jetzt wußte
er, wie die Namensmagie funktionierte, wie sie sich anfühlte
für diejenigen, die damit verzaubert wurden - Ohnmacht und
Hilflosigkeit. Er schloß die Augen, aber das half nicht. Er
konnte die Grenze spüren, als ob alles Leben aus ihm wich.
Aber auf der anderen Seite wartete auch Lonnìl, um ihn
aufzufangen, als er stürzte, und Morren beleuchtete seine
Umgebung. Als Keil die Augen wieder aufschlug, sah er, daß
sie wieder in der thorianischen Halle waren. Von Felder fehlte
immer noch jede Spur.
Sehr schön. Das hast du gut gemacht, Flötenspieler. Und
jetzt der Tausch. Gib uns die Flöte aus Eis, das
mächtigste Instrument, das jemals existierte, und du bekommst
dafür eine Laute aus Bein, die absolut nutzlos ist, aber auch
keinen Schaden anrichten kann.
Keil zögerte. Wollte er das wirklich? Doch dann befahl
Morren: »Gib ihnen die Flöte!«, und Keil
gehorchte. Er zog mit zitternden Fingern das Instrument aus seinem
Beutel, und weil er nicht wußte, wie er es den Dunklen geben
sollte, legte er es vor sich auf den Boden. Noch nie zuvor hatte
sich die Flöte so kalt angefühlt. Aber immerhin wollte
sie jetzt nicht, daß er auf ihr spielte. Sie schien ihr neues
Schicksal vollkommen akzeptiert zu haben. Zum ersten Mal
überhaupt konnte Keil sie in der Hand halten, ohne daß
ihm diese Melodie durch den Kopf ging. In dieser Welt hatte die
Flöte keine Macht.
Das also war das Ende. Felder hatte sich den Tod immer so
ähnlich vorgestellt, nur hatte er gehofft, daß es sehr
schnell gehen würde und dann für immer vorbei war. In
seinen Ohren rauschte das Blut, und er konnte hören, wie sein
Herz schlug. Warum hörte es nicht endlich auf?
Du stirbst jetzt nicht, Dhelin. Wir haben uns entschlossen, dich
am Leben zu lassen. Ein Opfertod zugunsten deiner Freunde ist
edler, als du verdienst.
»Warum tut ihr mir das an?« fragte Felder. »Ich
bin freiwillig gekommen. Ihr solltet euch freuen.«
Du hast uns einmal hereingelegt, Dhelin. Das ist noch niemanden
zuvor gelungen. Und das werden wir dir nicht verzeihen. Wir hatten
dir sogar noch eine zweite Chance gegeben, damals, in Thoria. Du
erinnerst dich? Jetzt ist es zu spät. Wir wissen, daß du
uns gehörst. Wir können warten. Es wird so oder so nicht
mehr lange dauern. Du verdankst es nur Felder, daß du noch
lebst. Aber ebenso ist es Felders Verdienst, daß du es nicht
mehr lange tun wirst. Er geht mit dir nicht sonderlich pfleglich
um. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du in besserem
Zustand.
»Also laßt ihr mich am Leben?«
Im Moment, ja. Es gefällt uns, dich zu beobachten. Wir sind
gespannt, was du als nächstes tun wirst. Werden wir einen
weiteren deiner halbherzigen Selbstmordversuche erleben?
»Das könnte euch so passen! Was habt ihr mit meinem
Volk gemacht?«
Mit den Thorianern? Nur das, was wir dir bereits zugesichert
hatten: Wir haben sie gleichmäßig in der Welt verteilt
und werden nie wieder einen von ihnen anrühren. Auf alle Zeit.
Du bist einem von ihnen begegnet, nicht wahr? Jetzt kannst du uns
endlich glauben, daß deine Leute wohlauf sind.
»Er war nicht wohlauf! Er war … Ihr wißt, was
mit ihm war! Ihr habt ihn selbst zu dem gemacht! Sind alle …
sind alle jetzt so wie er?«
Ja. Und du mußt zugeben, daß es nur das Beste für
sie ist.
»Verwandelt sie zurück! Laßt nicht mein Volk
dafür büßen, daß ich einen Fehler begangen
habe!«
Du gibst zu, daß du einen Fehler gemacht hast?
»Ich hätte mich niemals mit euch einlassen dürfen.
Ich hätte wissen müssen, daß ihr mich betrügen
würdet. Aber jetzt habt ihr mich. Gebt meinen Leuten das
zurück, was ihr ihnen weggenommen habt - ihre Zeit, ihre
Erinnerung, ihre Gedanken!«
Das könnten wir gar nicht. Wir haben geschworen, sie nie
wieder anzurühren - und was wir geloben, das halten wir auch.
Glaub uns nur: Es ist wirklich das Beste, was ihnen zustoßen
konnte. So werden sie niemals erfahren, was ihr König ihnen
angetan hat.
»Ich habe ihnen nichts angetan! Ihr wart
es!«
Waren wir das? Es ist immer leicht, die Schuld bei anderen zu
suchen, nicht wahr? Aber du hast noch etwas Zeit, darüber
nachzudenken. Vielleicht tust du es ja endlich einmal. Ansonsten
… viel Vergnügen. Auf Wiedersehen.
Felder spürte, wie er weiter fiel, aber um ihn herum war es
nicht länger schwarz. Lichtblitze flackerten vor seinen Augen,
und erst jetzt merkte er, daß er sie geschlossen hatte. Dann
schlug er mit dem Rücken auf der Erde auf. Er stöhnte vor
Schmerzen und schnappte hilflos nach Luft. Das genügte, um ihm
endgültig zu beweisen, daß er wirklich noch lebte. Die
Dunklen hatten sein Opfer nicht akzeptiert. Sie hatten ihn fallen
gelassen. Nun gut. Wenn sie glaubten, er gehöre ihnen in jedem
Fall, dann hatten sie sich getäuscht. So schnell würden
sie ihn nicht bekommen. Diesmal würde er nicht versuchen zu
sterben. Er hätte schon viel früher auf den Rat seiner
Freunde hören sollen. Es war keine Lösung, sich zu Tode
zu saufen. Das Leben konnte so viele schöne Dinge bieten. Und
er würde sie finden, koste es, was wolle.
Immer noch ächzend setzte Felder sich auf und sah sich um. Er
war wieder in den Mooren. Von seinen Freunden fehlte jede Spur.
Aber er wußte, daß er nur warten mußte.
Vielleicht hatten die Dunklen Recht, was die Thorianer anging.
Wissen tat weh. Es war für sie wirklich das Beste, unwissend,
aber glücklich zu sein. Am liebsten wäre Felder jetzt so
geworden wie sie. Es gab Wissen, mit dem man nur schlecht leben
konnte. Und es war unmöglich, es zu vergessen. Vielleicht
würde es ihm eines Tages gelingen. Wenn er weiterleben wollte,
mußte er es.
Irgendwie war es schon komisch: Auf der einen Seite war diese
dritte Begegnung mit den Dunklen das schrecklichste Gespräch
seines Lebens gewesen. Aber auf der anderen Seite hatte es ihm eine
Angst von den Schultern genommen, die er hatte, seit er denken
konnte: Diese Ungewißheit, was am Ende auf ihn zukam. Selbst
das Grauen, das die Dunklen verbreiteten, war immer noch besser als
ein Grauen ohne Namen. Immerhin wußte er jetzt, daß er
nach seinem Tod nicht die Götter treffen
würde.
Eine weise Entscheidung. Du
wirst sie nicht bereuen, das versprechen wir dir. Du hättest
nicht wirklich die Macht über deine Welt haben wollen, oder?
Natürlich nicht. Wir wußten von Anfang an, daß du
so handeln würdest. Das Schöne ist - wir mußten
nicht einmal nachhelfen, nur den Dingen ihren Lauf lassen. Ihr alle
seid so herrlich berechenbar, auch wenn wir den Tod der
Jägerin mit Bedauern zur Kenntnis genommen haben. Aber es
mußte sein. Sie war nicht lernfähig. Unter euch ist nur
einer, dem es immer wieder gelingt, uns in Erstaunen zu
versetzen.
»Ihr redet über mich?« fragte Morren.
Warum sollten wir? Du hast nichts anderes getan als das, was wir
von dir erwartet haben. Aber Dhelin, oder, um ihn mit seinem
gegenwärtigen Namen anzureden, Felder, wird uns noch spannende
Augenblicke bereiten.
»Wo ist er überhaupt?« fragte Lonnìl.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Nicht das, was er gerne gehabt hätte. Ihr werdet ihn
hinterher wiedertreffen. Vielleicht haben wir ihn ein wenig
schockiert. Aber es war nötig, ihm einmal gehörig den
Kopf zu waschen. Das war ja nicht mehr mitansehbar! In der
nächsten Zeit wird er sich zusammennehmen, das garantieren wir
euch - es sei denn, es gelingt ihm schon wieder, uns einen Strich
durch die Rechnung zu machen. Die Dunklen lachten.
»Ihr lenkt vom Thema ab!« sagte Morren mit harter,
unerbittlicher Stimme. »Was ist mit dem Tausch? Gebt uns die
Laute!«
Das ist nicht deine Entscheidung. Möchtest du es, Keil? Bist
du zu uns gekommen, freiwillig und aus eigenem Antrieb?
Keil nickte. Er konnte immer noch nicht wieder sprechen. Als
wäre ihn sein Hals zugeschnürt, konnte er weder einen
Laut von sich geben, noch frei atmen.
Die Flöte glitzerte auf dem Holzboden bläulich im Licht
von Morrens Hand. Dann geschah etwas Seltsames. Sie verschwamm,
wurde erst undeutlich, dann unsichtbar, und dann bildete sich an
ihrer Stelle ein neues Bild. Zunächst war es nur groß
und unscharf, aber langsam gewann es an Form und Deutlichkeit. Zum
ersten Mal sah Keil die Laute aus Bein. Wie sie dort lag, sah sie
aus wie ein gewöhnliches Instrument aus einem grauweißen
Material, daß man nur dann als Knochen identifizierte, wenn
man es wußte. Aber eines unterschied sie von
gewöhnlichen Lauten: Sie hatte keine Seiten, und auch keine
Bünde, um welche aufzuziehen. Das letzte Instrument der Hohen
war niemals fertig geworden.
Langsam bückte sich Keil, um die Laute aufzuheben. Aber in
dem Moment, in dem er sie berührte, erlosch um ihn das Dunkel,
und er stand wieder am Rand der Moore von Thoria. Die Laute hielt
er in den Händen, und nun, wo er sie bei gewöhnlichen
Licht betrachten konnte und keine Dunkelheit ihm den Atem raubte,
sah sie noch unverständlicher und unfertiger aus. Aber sie war
ein Instrument der Hohen, und würde sie ausreichen um die
Alifwin in ihrem Wald zu beschützen, wenn sie fest genug daran
glaubten. Auf der Laute spielt das Leid … Das zumindest
stimmte. Und Keil würde niemals erfahren, ob sie wirklich
soviel wert war.
»Vielleicht hatten sie ein paar Knochen übrig und
wußten nicht, was sie damit anfangen sollten«, schlug
Felder vor, der auf einem Findling hockte, sich die Sonne ins
Gesicht scheinen ließ und blinzelte. »Einen
großartigen Tausch hast du da gemacht, Keil. Aber sag nicht,
daß ich dich nicht gewarnt hätte. Die Dunklen haben bis
jetzt jeden übervorteilt.«
»Sie haben mit dir gesprochen, nicht wahr?« fragte
Lonnìl.
»So kann man das nennen. Ich möchte nicht darüber
reden. Aber sagen wir es so - ich sehe jetzt einige Dinge etwas
anders als vorher. Ihr braucht euch keine Sorgen mehr um mich zu
machen.«
Was immer die Dunklen Felder gesagt haben mochten - sie hatten ihn
zumindest wieder in gute Laune versetzt. Und das war eine
ordentliche Leistung, verglich man es mit dem Menschen, der Felder
in der letzten Zeit gewesen war.
»Und was machen wir jetzt? Wollen wir wieder zu den Elben
gehen und ihnen vorschlagen, sie bekommen die Laute, nur
geringfügig gebraucht, und wir ziehen alle in der Trommel
ein?«
»Nein«, sagte Morren. »Wir gehen nach
Hause.«
Und das taten sie auch.
Jetzt war der Augenblick
gekommen, vor dem Keil sich all die Zeit etwas gefürchtet
hatte: Es hieß, Abschied zu nehmen, sowohl von den Freunden
als auch von dem Leben in Freiheit. Er würde seinem Volk
gegenübertreten müssen, alleine, mit nichts als der Laute
ohne Seiten, und erklären, wieso er nur ein Instrument
bekommen hatte und was mit Schwinge passiert war. Erst jetzt merkte
er, daß er auf seiner ganzen Reise sein Volk eigentlich
überhaupt nicht vermißt hatte. Am liebsten wäre er
bei Lonnìl und Felder geblieben. Aber die Pflicht und sein
Volk riefen ihn.
Es war Abend, als sie den Waldrand erreichten. Die Sonne ging
gerade unter und tauchte als blutrote Kugel den Himmel in ein
rotgoldenes Licht. Konnte man im Wald solche Sonnenuntergänge
sehen?
Sie errichteten ein letztes Lagerfeuer, und Felder machte es sich
bequem, so als sei dies nur ein weiterer Abend von vielen. Aber er
redete nicht dabei, und es war ihm anzusehen, daß ihn die
Abschiedsgedanken genauso störten wie Keil. Wie immer seine
Begegnung mit den Dunklen verlaufen war, sie hatte ihm gut getan.
Auf der ganzen letzten Etappe der Reise war er wie ausgewechselt,
nicht mehr jene jammervolle Gestalt, die mühsam den Weg
entlang taumelte und dabei unverständliche Worte stammelte,
sondern der unbekümmerte Mann, den sie kennengelernt hatten.
Es ging ihm wieder gut, aber weder Keil noch Lonnìl
glaubten, daß es lange anhalten würde. Früher oder
später würde Felder sich selbst zerstören.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend um das Feuer herum.
Schließlich sagte Felder: »Nun, das ist heute
vielleicht unser letzter Abend, aber das erklärt nicht, warum
wir keinen Spaß haben sollten. Und wir müssen uns ja
auch nicht endgültig trennen, nicht wahr,
Lonnìl?«
»Was meinst du damit?« fragte Lonnìl.
»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Du kannst mich
brauchen. Es ist eine harte Aufgabe, alleine umherzuziehen und
Grafen zu töten. Ich bin bereit, mich dir anzuschließen
und meine Klinge in deinen Dienst zu stellen.«
»Nein«, sagte Lonnìl. »Ich danke dir
für dein Angebot, aber ich werde es nicht annehmen, und ich
sage dir auch, warum. Du wärst mir eine große Hilfe, und
sicher hätte ich mit dir bessere Chancen, als wenn ich es
alleine versuche. Aber der Punkt ist - du würdest es nicht aus
Überzeugung tun, sondern aus reinem Vergnügen am
Kämpfen und Töten. Und damit will ich nichts zu schaffen
haben.«
»Ich wüßte nicht, wo für den Grafen der
Unterschied liegt, ob er nun aus Überzeugung oder aus
Vergnügen getötet wird«, murrte Felder beleidigt.
»War ja auch nur ein Vorschlag. Ich komme sehr gut ohne dich
aus. Du bist derjenige von uns, der den anderen nötig hat. Ich
hatte sowieso eigentlich vor, ein richtiger
Straßenräuber zu werden. Reisende überfallen und
ausrauben und so weiter. Klingt wie eine abwechslungsreiche
Beschäftigung und wird sicher niemals langweilig. Und was
wirst du tun, Morren?«
»Ich werde die Weltherrschaft erringen«, sagte Morren,
und alle lachten. Niemand kam auf die Idee, Keil zu fragen, was
er machen würde.
Keiner von ihnen wußte so recht, was jetzt noch gesagt
werden sollte, aber sie fühlten sich auch noch nicht müde
genug, um sich schlafen zu legen. Das Feuer brannte langsam
herunter.
»Wie wäre es mit einer Geschichte?« schlug Felder
vor. »Zum Abschied?« Er rollte sich in seine Decke und
blinzelte zu Keil hinüber. Aber statt dessen war es der
Zauberer, der anfing.
»Nun gut. Ich denke, jetzt ist es an der Zeit für ein
wenig Wahrheit. Es geht nicht an, daß Felder der einzige
unter uns ist, der seine Lebenslügen aufgeben muß.
Manche Dinge sind zu lange geheim gewesen. Es wird mir ein
Vergnügen sein, sie euch zu erzählen. Das Verschwinden
der Hohen. Niemand, außer den Zauberern, weiß, was aus
ihnen geworden ist. Möchtest du es gerne wissen,
Keil?«
Keil nickte sprachlos.
»Es geht die Legende«, begann Morren, »daß
die Hohen diese Welt verließen und sie ihren Kindern, den
Elben, Alifwin, Feen und Dunklen, vermachten. Das ist nicht die
Wahrheit. Die Hohen sind niemals gegangen.«
»Aber wo sind sie dann?« fragte Felder, noch bevor der
Zauberer das letzte Wort zu Ende sprechen konnte.
»Sie sind hier. Aber der Reihe nach. Die Hohen waren
große Wesen, in ihrer Weisheit und Macht den Zauberern
ebenbürtig, doch zahlenmäßig weit überlegen.
Sie kamen nach den Drachen, und sie begannen, die Welt nach ihrer
Vorstellung zu verändern. Durch die Hohen erlangte sie ihr
heutiges Gesicht. Aber die Hohen konnten noch mehr, als nur
verändern. Sie konnten Leben erschaffen. Und so schufen sie
-«
»Ihre Kinder!« rief Keil. »Die Feen, die Elben
und die Alifwin.«
»Falsch. Sie schufen die Kobolde, die Gnome und die Zwerge.
Aber sie waren nicht zufrieden mit ihnen. Schließlich
erkannten sie, woran es lag. Diese Völker, die man heute die
Unterirdischen nennt, weil die Hohen sie verärgert vom
Angesicht der Welt verbannten, waren von Anfang an so, wie sie
heute sind: Fertig. Es war keine Entwicklung möglich. Und so
versuchten die Hohen etwas Neues. Sie schufen ein weiteres Volk,
aber sie erschufen zugleich eine eigene kleine Welt um diese Leute
herum. Dort durfte sich das primitive Volk entwickeln. Es hatten
eine sehr lange Entwicklung vor sich, aber die Hohen gaben ihm eine
schnellere Zeit. Dann lehnten sie sich zurück und sahen zu,
was ihr neues Spielzeug machte. Aber wie es nun einmal so ist,
wurde es nach einiger Zeit es den Hohen langweilig, immer wieder
zuzusehen, wie sich diese Menschen mit Keulen auf den Kopf
schlugen. Irgendwann waren es keine Keulen mehr, sondern Schwerter,
aber Köpfe blieben Köpfe. Die Hohen verloren das
Interesse. Sie sehnten sich nach etwas wirklich Neuem. Und sie
verloren ihre Einigkeit. Einige von ihnen sehnten sich nach
Sterblichkeit. Sie wollten ein wenig so werden wie die Menschen,
nur nicht so primitiv. Andere wollten den ganzen Tag lang nichts
als spielen. Wieder andere sehnten sich nach unbegrenzter Macht und
Unsterblichkeit, nach einem Leben ohne Zeit, und da Zeit und Licht
eng miteinander verknüpft sind, beschlossen sie, ganz auf
Licht, Körper und eine sterbliche Welt zu verzichten. Noch
wieder andere wollten von allem etwas. Und so begannen sich die
Hohen zu verändern. Sie spalteten sich auf und wurden zu den
Völkern, die sich heute die ‘Kinder’ der Hohen
nennen. Denn mit der Einigkeit verloren die Hohen alles, nicht nur
ihre Macht, sondern auch das Wissen, daß sie selbst die Hohen
waren. Ihre magischen Instrumente, letztlich auch bloß
Spielzeug, teilten sie unter sich auf. Da war die Harfe aus Laub,
jener Wald, den die Hohen zu ihrem Vergnügen erschaffen
hatten, der nun den Feen eine angemessene Umgebung für ihre
Spielchen bildet. Die Elben, das stark idealisierte Abbild der
Menschen, nur intelligenter, besser entwickelt und mit Magie
ausgestattet, bezogen die perfekte Festung, welche die Hohen in
einer ihrer zahlreichen poetischen Anwandlungen die Trommel aus
Stein genannt hatten und die vielleicht einmal dazu gedacht war,
die Menschen aufzunehmen, wenn sie eines Tages bereit waren, in der
richtigen Welt zu leben. Die Dunklen verließen die sterbliche
Welt, um ihr eigenes Reich zu erschaffen, und sie nahmen die Laute
aus Bein mit sich, von der nicht einmal sie selbst wußten,
wozu sie gut sein soll. Übrig bleiben noch die Alifwin, jenes
Volk, das sterblich und körperlich ist wie die Elben, nur
nicht ganz so menschenähnlich, das zum Licht gehört wie
die Feen, aber nicht ganz so sehr, und das nach Macht strebt wie
die Dunklen, nur nicht in dem Maße. Sie erhielten - oder
behielten, um genau zu sein - dasjenige der Instrumente, an das
direkt das Geheimnis der Macht geknüpft ist. Denn wer auf ihr
spielt, der erfährt den Namen der Welt.«
»Nein!« schrie Keil. »Hör auf!« Er
wollte gar nicht mehr wissen.
Morren warf ihm nur einen strafenden Blick zu und fuhr
unerbittlich fort: »Sie beschlossen jedoch, daß es das
Beste war, wenn niemand diesen Namen kannte. Es war unmöglich,
die Flöte zu zerstören, und so versteckten sie das
gefährliche Instrument an einem Ort, an dem es niemand suchen
würde. Danach gerieten die Dinge in Vergessenheit. Doch die
Menschen hörten mit dem Ende der Hohen nicht auf zu
existieren, und auch nicht, sich weiterzuentwickeln. Sie blieben
sich selbst überlassen, und als sie schließlich durch
Zufall diese, die wirkliche, Welt entdeckten und besiedelten, da
waren sie nur noch ein verzerrtes Bild von dem, als was sie geplant
waren. Die Hohen Völker erinnerten sich nicht mehr an sie,
lediglich die Elben setzten in gewisser Hinsicht die Arbeit der
Hohen fort und brachten den Menschen ein paar weitere
nützliche Dinge bei - ohne zu wissen, daß sie damit den
Untergang ihrer eigenen Zeit einläuteten. Denn die Menschen
hatten allen anderen Völkern etwas voraus: Sie nutzen die
Zeit. Die kurze Lebensspanne, die ihnen die Hohen gegeben hatten,
ist nicht der Fluch, für den du sie immer gehalten hast,
Felder, sondern ein Segen. Durch ihre Schnelligkeit und die Gabe,
sich entwickeln zu können, übernahmen die Menschen die
Herrschaft aus der Hand der Hohen. Sie sind ihre
rechtmäßigen Erben.«
Nachdem Morren geendet hatte, herrschte ein langes, betretenes
Schweigen. Dies war eine Geschichte, die gerade dadurch schmerzte,
das sie wahr sein mußte. Jetzt kannte Keil also das Geheimnis
der Hohen. Aber er wußte auch, daß er es niemals
erzählen würde. Manchmal blieb man besser bei den
schönen Sagen und Legenden.
Felder war der erste, der seine Sprache wiederfand. »Woher
weißt du das?« fragte er. »Und wenn du es die
ganze Zeit über gewußt hast, warum hast du es dann
für dich behalten? Warum hast du uns auf der Suche nach diesen
dämlichen Instrumenten quer durch die Welt gescheucht, wenn du
in Wirklichkeit wußtest, was und wo sie waren?«
»Ich wußte es nicht«, antwortete Morren.
»Ich stehe wie alle Zauberer unter dem Fluch, niemals alles
mitzubekommen, was auf der Welt geschieht. Das ist der Grund, warum
Zauberer ihre ganze Zeit mit Forschen verbringen. Sie versuchen,
ihre Bruchstücke zu einer komplexen Geschichte zu
ergänzen. Ich wußte fast alles über das
Verschwinden der Hohen, das ist richtig, aber den Verbleib der
Instrumente habe ich mir selbst zusammengereimt.«
»Aber was ist mit den Menschen?« fragte Felder weiter.
»Woher weißt du so viel über das
‘unentwickelte Volk’, wie du uns zu nennen beliebst,
wenn die Hohen sie in einer separaten Spielwelt gezüchtet
haben, in die ihr Zauberer doch wohl kaum Einblick
hattet?«
»Das ist eine gute Frage«, sagte Morren. »Und
aus genau dem Grund werde ich sie auch nicht beantworten. Die
besten Geheimnisse sollten geheim bleiben. Aber es gibt noch etwas,
das ich gerne Lonnìl zum Abschied sagen würde. Nur
ihm.«
Er winkte den großen Menschen zu sich herüber, und die
beiden gingen für eine Weile fort. Als sie wieder zurück
kamen, lächelte Morren, aber Lonnìls Gesicht war wie
eingefroren. Er blickte finster zum Horizont, und plötzlich
mußte Keil an Schwinge denken.
»Das ändert nichts mehr«, sagte er leise, mit
zitternder Stimme. »Ich kenne meine Aufgabe. Ich werde nicht
von ihr abweichen.«
»Bitte, wie du wünschst«, sagte Morren.
»Dann nimm dieses Abschiedsgeschenk von mir.« Er
deutete auf Lonnìl und machte eine wischende Geste mit der
Hand. Im nächsten Moment waren Lonnìls Gewänder
tiefschwarz. »Schwarz ist deine Farbe. Du wirst von nun an
nur noch schwarz tragen, um deinem Namen Ehre zu machen.«
»Ich habe verstanden«, murmelte Lonnìl. Er
wirkte erschüttert. Keil fragte sich, was Morren ihm
erzählt hatte
Felder versetzte seinem Freund ein paar aufmunternde Knüffe,
aber auch sie verfehlten ihre Wirkung. Mit grimmiger Miene ergriff
Lonnìl seinen Stab. »Ich muß jetzt gehen«,
sagte er leise. »Allein.«
»Warte!« rief Morren. »Erst noch ein wenig
Wahrheit für alle, wo wir gerade dabei sind. Habt ihr euch
noch nie gefragt, warum die Zauberer neutral sind? Warum sie sich
aus all diesen Kämpfchen heraushalten? Warum sie nicht
versuchen, selbst die Herrschaft über die Welt zu erringen?
Die Antwort ist denkbar einfach. Es kann uns egal sein, wer sich
für den Herren der Welt hält. Wir haben die Macht
bereits. Wir hatten sie schon immer, und wir werden sie auch immer
behalten.«
Alle starrten den Zauberer entsetzt an, und keiner wußte,
was er hätte antworten sollen. Aber dann erhob sich
Felder.
»Da ist eine Sache, die ich schon ziemlich lange geplant
hatte«, sagte er und baute sich vor Morren auf. »Von
mir aus kannst du mich danach in Asche verwandeln, aber jetzt
muß ich es einfach tun.«
Er holte aus und versetzte Morren einen Hieb ins Gesicht, der all
jene Ohrfeigen in sich vereinte, die ihm der Zauberer im Lauf der
Zeit gegeben hatte. Danach trat er zurück und erwartete mit
herausfordernder Mine den Vergeltungsschlag. Aber Morren
lächelte nur ungerührt.
»Ichn hatte mich schon gefragt, wann du das endlich einmal
tun würdest«, war alles, was er entgegnete.
Danach sagte keiner mehr etwas. Am nächsten Morgen trennten
sich ihre Wege für immer. Keil machte sich auf den Weg in die
tiefen Wälder, die er nie wieder verlassen würde. Zum
ersten Mal, seit sie damals von Fluß aufgebrochen waren, war
er wirklich auf sich allein gestellt. Er drehte sich nicht mehr
nach den Richtungen um, in die seine Freunde gegangen waren. Die
Zeit mit ihnen war nun für immer vorbei. Auf seinem
Rücken trug Keil die Laute aus Bein, und auch wenn sie kaum
Gewicht besaß, drückte sie doch schwerer als jede Last,
die er jemals getragen hatte. Doch in seinen Ohren klangen noch die
Worte, die Felder ihm zum Abschied gesagt hatte: »Gut, es ist
jetzt vorbei. Aber es wäre jetzt falsch von dir, nur daran zu
denken, daß du diese Freiheit jetzt verlierst. Du mußt
daran denken, daß du sie hattest, und dieses Glück haben
nur die Wenigsten, und Elfen sowieso nicht. Was du jetzt erlebt
hast reicht, um sich ein Leben lang daran zu erinnern, und solltest
du dreitausend Jahre alt werden. Nichts dauert ewig an, aber
solange man es hat, soll man das Beste daraus machen. Und das hast
du. Du hast es geschafft, dir selbst treu zu bleiben, und das wirst
du auch weiterhin tun.«
Keil lächelte bei der Erinnerung an die Worte. Sie hatten
etwas sehr Tröstliches an sich. Leise begann er wieder vor
sich hin zu summen. Die Melodie kam ihm bekannt vor, aber es
dauerte einen Moment, bis er sie einordnen konnte. Das hatte Felder
einmal gesungen. Alle Alifwin würden zustimmen, daß es
ein sehr schönes Lied war, mit einer ungewöhnlichen, sehr
fröhlichen Melodie. Den Text würde Keil aus gutem Grund
für sich behalten - es würde nur halb so schön sein,
wenn die anderen wußten, um was es eigentlich ging.
Vielleicht würde er ein paar neue Verse dazu schreiben.
Er würde Felder und Lonnìl nicht vergessen. Diese
Erinnerung konnte ihm niemand wegnehmen. Und Keil spürte, wie
sein Herz wieder leichter wurde, als er hinaufblickte und durch das
rote Herbstlaub der Bäume den blauen Himmel leuchten sah.
Der Wald hatte auf ihn gewartet.
Du bist zurückgekehrt, kleines
Geschöpf.
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