The splendour falls on Castle
walls.
Alfred, Lord Tennyson
Konnte die Wirklichkeit jemals
so schön sein wie ein Traum? Was, wenn sie sich als
Enttäuschung herausstellte? Aber würden die Elben jemals
eine Hohe Feste bauen, die nicht vollkommen in ihrer Schönheit
war? Vielleicht hätte Keil noch den Rest des Weges über
gegrübelt, hätte Schwinge ihn nicht aus seinen Gedanken
gerissen.
»Was werden die Elben sagen? Werden sie uns hereinlassen, um
unser Anliegen vorzutragen? Ich fürchte, sie werden uns
abweisen, schon allein, weil wir von zwei … Menschen
begleitet werden.«
Daran hatte Keil noch gar nicht gedacht, und der Gedanke machte
ihm Angst. Aber sollten sie tun - Lonnìl und Felder einfach
fortschicken?
»Du willst uns los sein, stimmt’s?« fragte
Felder. Obwohl Schwinge wie üblich in der Hohen Sprache
gesprochen hatte, schien der Mensch die Bedeutung ihrer Worte
erraten zu haben. Keil mußte zugeben, daß dies nicht
weiter schwer war.
»Es gibt da in der Tat ein Problem«, sagte Morren.
»Mich wird man auf jeden Fall in die Elbenfeste einlassen, da
Zauberer überall willkommen sind, und die Alifwin vermutlich
auch. Es hat zwar, soweit ich weiß, in den letzten
Jahrzehnten nur wenig Kontakte zwischen den Völkern gegeben,
aber die Kinder der Hohen sollten einander in dieser Situation
beistehen. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, daß
die Elben jeden, der da so munter des Wegs kommt, einfach in ihre
Feste lassen. Erst recht nicht, wenn es sich um zwei unbedeutende
Menschen handelt.«
»Aber wir sind nur bedingt unbedeutende Menschen!«
rief Felder, und seine Augen glänzten, als ob ihm gerade ein
Einfall kam. »Einer von uns beiden ist ein Prinz. Und Prinzen
neigen dazu, in diplomatischer Absicht in fremde Länder zu
reisen. Warum sollte nicht auch ein Menschenprinz Kontakte zum
Elbenkönig knüpfen? Und jeder Prinz braucht einen Diener,
der ihn begleitet. Wo liegt nun das Problem?«
»Es liegt darin, daß ein Prinz, dessen Fahne nicht
Aufschluß über sein Land, sondern über seinen
Schnapsbrenner gibt, Probleme haben dürfte, überhaupt
vorgelassen zu werden, insbesondere, wenn er durch keine Briefe
oder Boten angekündigt wurde«, sagte Morren. »Vor
allem dann, wenn er sich zudem kleidet und benimmt wie ein
Bettler.«
»Und ich werde niemals deinen Diener spielen«,
fügte Lonnìl hitzig hinzu. »Ich bin ein freier
Mensch und niemands Sklave - erst recht nicht deiner.«
Felder mußte mit genau diesen Einwänden gerechnet
haben, denn er lachte nur, während er sein Gepäck
durchwühlte. Keil warf über seine Schulter einen
neugierigen Blick in die Tasche, welche Felder sonst nur selten
öffnete, konnte aber außer einem Durcheinander nichts
erkennen. »Er muß hier irgendwo sein …«,
murmelte der Prinz. Endlich hatte er gefunden, wonach er suchte.
Aus den wirren Tiefen beförderte Felder einen hübsch
gearbeiteten Stirnreif aus geflochtenem Silber ans Licht.
Vermutlich war er nichts im Vergleich zum kunstvollen Schmuck der
Elben, aber auf seine schlichte, etwas primitive Art gefiel er Keil
ganz gut. Der Reif war ungefähr so breit wie Felders Daumen
und aus fünf miteinander verstrickten Drähten geflochten.
Er glänzte in der Sonne, als Felder ihn triumphierend
hochhielt. »Man läßt nicht zu, daß ich
Thoria ohne dieses Dings verlasse. Es wiegt nicht viel, also trage
ich es mit mir rum. Und man weiß nie, wann man
überraschend einmal Geld braucht. Ich fürchte nur, er
könnte eine Spur zu klein sein.«
»Hast du ihn noch nie getragen?« fragte Keil erstaunt.
Es war irgendwie eine Schande, so einen Reif zu verstecken, statt
ihn zu tragen. Und sowohl das Silber als auch das schlichte Muster
mußten gut zu Felders dunkelbraunen Locken passen.
»Ich? Aber sicher doch«, lachte Felder. »Aber
Lonnìl ist ein Stück größer als ich, und das
kann auch auf seinen Kopf beziehen. Probier mal!« Er reichte
Lonnìl den Reif.
»Was soll ich damit?« fragte Lonníl.
»Aufsetzen! Ich habe mit keinem Wort verlangt, daß du
den Diener spielen sollst. Den gebe ich. Ich bin schon oft genug
Prinz gewesen, und wie Morren bemerkte, nicht besonders
überzeugend in dieser Rolle. Du bist dran.«
»Niemals!« rief Lonnìl und ließ den
Stirnreif fallen wie eine giftige Schlange. »Ich bin kein
Prinz, und ich werde mich niemals als solcher ausgeben!«
»Aber du gäbest sicher einen hervorragenden Prinzen ab!
Diesen Edelmut kann man förmlich sehen! Etwas passende
Kleidung, und jeder König gibt dir seine Tochter zur Frau. Was
die Kleidung angeht - ich habe irgendwo da drinnen noch ein
weißes Hemd, das ich so gut wie nie getragen habe. Es
könnte dir passen. Im Sitzen bist du nicht viel
größer als ich, und … Wieso willst du nicht? So
eine Gelegenheit bekommst du nie wieder!«
Er bückte sich nach dem Reif und begann, ihn an seinem Umhang
zu polieren. Das war wohl auch nötig, denn bei genauerer
Betrachtung bemerkte Keil die dunklen Flecken und stumpfen Stellen,
die das Metall bekommen hatte. Vermutlich war es kein besonders
gutes Silber, nicht mit dem elbischen zu vergleichen. Oder Felder
hatte sich seit langer Zeit nicht mehr um das Schmuckstück
gekümmert. Auch Morren war es aufgefallen.
»Sag mal, wie lange ist es her, daß du zuletzt Zuhause
warst?« fragte er.
»Wie, Zuhause?« Felder war irritiert. »Meinst
du, am heimischen Hof? Vor zweieinhalb Jahren habe ich dort
überwintert. Erinnere mich nicht daran! Wenn es etwas gibt,
das schlimmer ist als Thoria, dann Thoria im Winter! Seitdem
versuche ich, nicht jedes Mal zu meinem alten Herren zu laufen,
wenn mir das Geld ausgeht. Sie könnten auf die Idee kommen,
mich da zu behalten. Aber ich lasse mich ungern
einsperren.«
»Bist du bekannt in Thoria?« fragte Morren weiter.
»Da gehe ich von aus. Natürlich kennen mich nicht alle
persönlich, obwohl ich immer bemüht war, Kontakte zum
einfachen Volk zu knüpfen. Aber gewisse Dinge scheinen sich
herumgesprochen zu haben, so daß mich dort bestimmt jeder
zweite auf der Straße erkennen würde. Prinz
Schlangenauge, so nennen sie mich. Gefällt mir
irgendwie.«
»Und du möchtest, wenn ich das richtig verstehe,
Lonnìl als Prinzen von Thoria ausgeben? Wie gedenkst du
vorzugehen? Willst du ihm das Gesicht zerschneiden, damit er dir
ähnelt? Glaubst du nicht, der Ruf deiner schillernden
Persönlichkeit könnte dir bis
Dolua’d’llán vorausgeeilt sein?«
»Ähe …« sagte Felder. »Kann man da
nicht irgendwas machen? Mit Zauberei, meine ich?«
»Ich könnte vielleicht etwas in der Richtung tun, wenn
die Idee gut wäre und wir alle damit einverstanden. Da sie
jedoch nichts weiter ist als ein Hirngespinst von dir, werde ich
mich hüten. Wenn wir schon einen«, Morren hüstelte,
bevor er weiter sprach, »funktionstüchtigen Prinzen
dabei haben, sollte der auch die Rolle des Prinzen übernehmen,
meinst du nicht auch? Es sei den natürlich, dir fehlt
tatsächlich jegliche Fähigkeit, bei Hofe aufzutreten. Was
machst du, wenn du in Thoria bist?«
»Ich trinke, würfle, schwenke mein Schwert und treffe
mich mit Mädchen. In willkürlicher
Reihenfolge.«
»Also gut«, sagte Morren und zuckte die Schultern.
»Wir treffen euch dann vor der Feste wieder, wenn wir fertig
sind. So wird das nichts. Lonnìl will den Prinzen nicht
spielen, und du kannst es nicht. Man sieht sich!«
»Halt, halt!« rief Felder schnell. »Es ist ja
nicht so, daß ich nicht durchaus Stil hätte, wenn es
sein muß! Ich verstehe mich auf höfisches Tanzen,
gehobene Konversation in verschiedenen Sprachen, kann mich elegant
bewegen und bin in der Lage, mich äußerst geschmackvoll
zu kleiden. Ich will nur nie. Ich meine - jetzt will
ich!«
Er begann wieder, wie im Fieber seinen Beutel zu durchwühlen.
Schließlich schüttete er den gesamten Inhalt auf dem
Boden aus. Offensichtlich fiel niemand außer Keil und
Schwinge der Geruch von altem Schweiß auf, der über den
Kleidern lag. Keil hoffte, daß Felder sie schnell wieder
einpacken möge.
»Hier habe ich es!« rief Felder und hielt ein Hemd aus
feinem, weißem Stoff hoch. Es hatte tatsächlich so gut
wie keine Flecken. Dafür war es völlig verknittert.
»Und irgendwann gab es auch einmal ein passendes Wams dazu,
aber ich glaube, das habe ich in Thoria gelassen. Ihr werdet sehen
- wenn ich erst einmal dieses Hemd anhabe, dann steht ein
leibhaftiger Prinz vor euch.« Er ließ seinen geflickten
Umhang und seine braune Tunika achtlos zu Boden fallen. »Ich
könnte natürlich auch ganz ohne Hemd gehen. Man hat mir
schon oft gesagt, daß ich einen wahrhaft prachtvollen
Oberkörper habe. Kein Fett, alles reine Muskeln und
Sehnen.«
‘Und Haare’, fügte Keil in Gedanken hinzu.
Zumindest hatte Felder seine Hosen anbehalten.
»Zieh sofort das Hemd an!« rief Morren entgeistert.
»Sonst gibt es ernsthaften Ärger. Wir gedenken die Feste
bei Tag zu betreten, und durch das Eingangsportal, nicht
nachts durch ein Fenster im Damentrakt. Warte, ich helfe
dir!«
Im nächsten Moment bedeckte das Hemd Felders sehnigen
Oberkörper. Der Mensch starrte an sich hinunter, als habe er
Morrens Wink gar nicht mitbekommen und wundere sich nun, was mit
ihm geschah. Der Zauberer betrachtete kritisch sein Werk und war
augenscheinlich noch nicht zufrieden. Keil verstand, wieso. Auch
mit dem weißen Hemd sah Felder nicht ordentlicher aus als
zuvor. Es war zu zerknittert und hing an ihm hinunter.
»Ich fürchte, es artet in Arbeit aus«, seufzte
Morren. »Ich werde deinen Sachen ein etwas anderes Aussehen
verpassen. Verwandeln werde ich sie nicht. Es bleiben die gleichen
Lumpen wie bisher. Nur eine kleine Illusion. Nimm den
Umhang!«
»Wird das niemand durchschauen?« fragte Keil,
während Morren Felder mit höfischer Kleidung umgab.
Zumindest Morren schien ein Gefühl dafür zu haben, was
Menschen tragen sollten. Rot - »Ich nehme an, daß
weinrot dir sympathisch ist« - stand Felder ganz
ausgezeichnet, und die hellroten Beinkleider wirkten nur auf den
ersten Blick schreiend.
»Niemand wird es durchschauen«, antwortete Morren,
»weil niemand es durchschauen will. Die Elben sind
zartfühlende Gestalten. Sobald sie merken, daß Zauberei
in diesem Gewand am Werke ist, werden sie mir dankbar sein,
daß ich ihnen nicht Felders ursprünglichen Anblick
zumuten wollte.«
»Aber ich sehe einfach nur lächerlich aus!«
jammerte Felder. »So … unmännlich! Niemand in
Thoria trägt gepolsterte Schultern. Könntest du mich
nicht … anderswo auspolstern? Nicht, daß ich es
nötig hätte, aber …«
»Ich wüßte nicht, warum es nötig sein soll,
deine Knie noch stärker hervorzuheben«, sagte der
Zauberer lachend. Keil begriff nicht, was daran so lustig war.
»Dies ist nicht direkt elbische Mode, aber nach elbischen
Vorbild. Du wirst darin bei Hofe hinreißend aussehen. Und
vergiß deinen Stirnreif nicht!« Morren war kaum jemals
so vergnügt gewesen. Keil kam es so vor, als nutze Morren
diese Gelegenheit, um Felder all die nervenden Fragen heimzuzahlen.
Davon abgesehen, hatte er wirklich eine exzellente Arbeit
geleistet. Sogar Schwinge sah Felder jetzt fast wohlwollend an. Nur
Lonnìl konnte sich nicht mehr halten. Er brach bei Felders
neuem Anblick in lautes Lachen aus.
Vielleicht waren Felders neue Hosen so rot wie Feuer. Aber der
Blick, den er jetzt Lonnìl zuwarf, war aus Eis.
Während sie weitergingen und Keil mit jedem Moment erwartete,
Dolua’d’llán durch die Bäume schimmern zu
sehen, verwandelte sich Felder weiter, aber diesmal ohne Morrens
Zutun. Er paßte seine Bewegungen seinem neuen
Äußeren an. Sonst hatten seine Schritte immer etwas
Hüpfendes an sich, er schien nicht ruhig neben jemandem
hergehen zu können, sondern federte auf und ab und umkreiste
seine Gesprächspartner, als wolle er verhindern, daß sie
wegliefen. Wenn er nicht gerade mit jemandem sprach, pflegte er
achtlos zu schlurfen, und manchmal zeigte er eine große
Begabung darin, über vorstehende Steine zu stolpern, weil er
nicht auf den Weg geachtet hatte. Aber jetzt bewegte er sich
anders. Er setzte einen Fuß vor den anderen, so als liefe er
auf einer unsichtbaren Linie, und er trat immer nur mit den
Zehenspitzen auf. Aus seinen etwas klobigen Lederstiefeln hatte
Morren Schuhe mit langen Spitzen gemacht, und in diesen schritt
Felder nun voran, als habe er sein Lebtag nichts anderes
gemacht.
»Ich hoffe, niemand wird erwarten, daß Wir
tanzen«, bemerkte er. »Ich meine, ich bin ein wirklich
guter Tänzer, aber ich bezweifle, daß ich an die Elben
heranrage. Und ich fand immer schon, daß es nur eine Sache
gibt, für die es sich lohnt, zu einem Ball zu
gehen.«
»Die Getränke, nehme ich an?« fragte Morren
lächelnd.
»Nein, ausnahmsweise nicht die Getränke. Es ist
ja nicht so, als ob ich keine anderen Interessen hätte als
Saufen, und das wißt ihr auch. Aber die jungen (und auch die
nicht mehr ganz so jungen) Damen der Gesellschaft waren immer ganz
wild darauf, mir vorgestellt zu werden, um mit mir zu tanzen. Und
ich habe sie verblüfft durch meine Fähigkeit …
fremde Sprachen zu sprechen.«
»Entzückend«, sagte Morren. »Und wo wir
gerade dabei sind: Ich muß nicht mehr extra betonen,
daß ich von dir erwarte, daß du nüchtern wirst
-«
»Ich bin nüchtern!« protestierte
Felder.
»- daß du nüchtern bleibst, bis wir
Dolua’d’llán verlassen - und nach
Möglichkeit auch noch danach.«
»Ich weiß, wie ich mich zu benehmen habe«,
entgegnete Felder würdevoll. »Ich werde euch keine
Schande machen. Kümmert euch lieber einmal darum, daß
Lonnìl es ebenfalls weiß. Er soll nicht plötzlich
auf die Idee kommen, Elbenadligen auf den Kopf zu hauen, um ihr
geknechtetes Volk zu befreien.«
Dolua’d’llán war eins mit dem Berg. Niemand
konnte sagen, wo der natürliche Felsen aufhörte und das
Mauerwerk anfing. Die Sonne beleuchtete die Zitadelle nicht nur von
hinten - sie machte, daß ganz Dolua’d’llán
in sich strahlte. Welche Farbe der Stein hatte, war nicht genau zu
erkennen. Während sich der untere Teil, der natürliche
Felsen, in seinem bleiernen Grau nicht von den anderen Bergen
unterschied, schimmerte der obere Teil rosagolden wie der
Sonnenuntergang, aber die Farben gingen so fließend
ineinander über, daß kein Bruch zwischen ihnen zu
erkennen war. Der Berg wurde zur Burg, als ob keine fremde Kraft
ihn dazu hätten ermutigen müssen.
Die Hohe Elbenfeste trug ihren Namen nicht zu Unrecht. Sie
streckte sich so weit gen Himmel, daß die obersten Zinnen die
Wolken zu berühren schienen. Keil wurde schwindelig angesichts
solcher Größe. Der Anblick von
Dolua’d’llán, wie es plötzlich hinter zwei
sonnenbeschienen Gipfeln auftauchte, war das Schönste, was er
jemals gesehen hatte. Und die anderen schienen ebenso zu denken.
Selbst Morren, den sonst nie etwas zu berühren schien, wirkte
entrückt, und der hartgesottene Felder riß vor Staunen
Mund und Augen weit auf. Und zum ersten Mal seit vielen Tagen
lächelte Schwinge.
Bei aller Größe wirkte die Feste zugleich anmutig und
uneinnehmbar. Die zarten Türmchen und geschwungenen Bögen
versuchten gar nicht, darüber hinweg zu täuschen,
daß dies ein massiver Felsen war, in den keine fremde Macht
eindringen konnte, wenn die Bewohner es nicht ausdrücklich
erlaubten. Und hätten sie nicht ausdrücklich danach
gesucht, so hätten die Gefährten das versteckte Tal gar
nicht erst gefunden. Nur einen schmalen Zugang gab es durch den
hohen Felsenkessel, in dessen Mitte sich der einzelne Berg von
Dolua’d’llán erhob.
Keil konnte sich nicht vorstellen, wie sie hineingelangen sollten.
Zwar waren überall Fenster, aber auf Höhe des Bodens
waren keinerlei Eingänge zu erkennen, nicht einmal, als sie
direkt davorstanden. Mit langsamen, andächtigen Schritten
umrundeten sie den Fuß, die Köpfe im Nacken, um so viel
wie möglich von der Pracht in sich aufnehmen zu können.
Einzig Morren richtete sein Augenmerk auf den Stein direkt vor
ihm.
»Ich weiß, daß es einen Eingang gibt«,
murmelte er. »Ich bin schon mehrmals hier gewesen. Aber von
außen ist das Tor gut verborgen. Mit Sicherheit wissen die
Elben von unserem Kommen. Ihnen entgeht nichts von dem, was sich
hier in der Gegend ereignet, und wir haben unterwegs mindestens
zwei Späherposten passiert. Zum Glück sehen wir jetzt
alle manierlich aus. Wir müssen nur warten. Sie werden uns
bestimmt bald einlassen.«
»Vielleicht gibt es ein magisches Wort, das den Weg
öffnet?« schlug Keil vor. Er dachte an eine alte
Geschichte, in der sich ein Berg auftat, wenn man ihm ein einziges
Wort sagte: Freund.
»Es ist merkwürdig«, sagte Morren. »Ich
kann mich nicht erinnern. Dabei vergessen Zauberer niemals etwas.
Es ist mir noch nie aufgefallen, aber … die Elben scheinen
größere Zauberkraft zu besitzen, als man erwarten
sollte. Laßt uns hier warten. Mehr können wir im Moment
ohnehin nicht tun.«
Sie setzten sich in das Gras, das heller und weicher war als alle
Wiesen, die Keil kannte. Die ganze Landschaft schien zu wissen, was
für eine Kostbarkeit sie beherbergte, und sie tat ihr Bestes,
um als Umgebung würdig zu sein. Dies war das schönste
Fleckchen Land auf der ganzen Welt. Ob nun die Trommel aus Stein
hier gehütet wurde oder nicht, zumindest paßte der Name,
unter dem die Feste bei den Alifwin bekannt war: Doluadilan. Dies
war wirklich der Ort, von dem Ruhe und Frieden kamen, und nichts
konnte diese Idylle stören. Nicht einmal in den großen
Kriegen, als die Zwerge alles verwüsteten, was mit den Hohen
Völkern zusammenhing, waren die Horden hier eingefallen. Und
selbst wenn sie gekommen wären - bei diesem Anblick wären
sie ruhig und in Frieden wieder umgekehrt. Nicht einmal ein Zwerg
hätte es gewagt, Dolua’d’llán zu
zerstören. Nicht einmal die Menschen würden.
Keil nahm die Silberflöte und begann, die Melodien zu
spielen, die in seinem Herzen wuchsen. Wenn es einen Ort für
sie gab, dann hier, denn die Elben hatten diese Flöte gemacht,
und sie schien zu spüren, daß sie Zuhause war. Jedes
Instrument besaß eine Seele und einen eigenen Charakter. Was
immer er auf der Silberflöte spielte klang leicht und
fröhlich, selbst wenn es eigentlich eine schwermütige
Melodie war. Mit der Knochenflöte verhielt es sich genau
umgekehrt.
Einzig Felder blieb stehen und starrte aus einigen Schritt
Entfernung hinauf zu den schimmernden Zinnen. Sein Gesicht war
beeindruckt, mehr noch, es war ehrfürchtig.
»Was ist?« fragte Lonnìl. »Warum setzt du
dich nicht?«
»Ich möchte nicht, daß meine edlen Kleider
Grasflecken bekommen«, entgegnete er und sah für einen
Moment geradeaus, um Morren spöttisch zuzunicken. Dann machte
er einen kleinen Schritt zur Seite und legte den Kopf schief beim
Versuch, das Sonnenlicht an den verschiedensten Stellen
einzufangen. »Ist sie nicht wunderschön?«
flüsterte er. »Ich habe alles erwartet, aber nicht,
daß sie so schön sein würde. Wenn ich jemals die
thorianische Burg wiedersehe, werde ich weinen in der Erinnerung an
diese Perfektion.«
»Ich möchte nicht noch einmal hören«, warf
Morren dazwischen, »wie du Lonnìl wegen seiner
romantischen Anwandlungen lächerlich zu machen
versuchst.«
Aber Felder beachtete ihn gar nicht. Mit einem verzückten
Lächeln bestaunte er die elbische Baukunst.
Sie mußten nicht lange warten. Nach einiger Zeit kamen drei
Elben auf sie zu, die in prachtvolle violette Gewänder
gekleidet waren. Keil konnte nicht sagen, wo sie so plötzlich
herkamen. Schnell standen die Alifwin auf und verneigten sich, und
Morren und die Menschen taten das gleiche.
»Ich grüße die Hüter von
Dolua’d’llán«, sagte Morren. »Mit
mir reisen Schwinge vom Waldvolk und Keil vom Flußvolk. Wir
kommen in Frieden, und da unser Anliegen dringend ist, bitten wir
um Einlaß.«
»Und ich«, fügte Felder eilig hinzu, »komme
ebenfalls in friedlicher Absicht und erbringe Grüße vom
menschlichen Hof in Thoria. Ist es möglich, daß ich eine
Audienz beim Herrscher dieser Feste bekommen kann? Ich reise nur in
Begleitung meines … Dieners.«
Die Elben warfen sich einige kurze Blicke zu. Ihnen war eindeutig
bewußt, daß alle fünf Gäste gemeinsam
gekommen waren. Aber sie sagten nichts. Diejenige, welche von den
dreien die Älteste zu sein schien, trat vor.
»Ich bin Amalis. Bitte folgt uns. Talinas, der Herr von
Dolua’d’llán, wird euch empfangen.«
Ihre Stimme war freundlich, und auch die beiden anderen
lächelten. Aber Keil entgingen auch nicht die langen,
silbernen Schwerter, die an ihren Seiten hingen. Er warf einen
schnellen Blick zu Felder hinüber, der sie natürlich
ebenfalls bemerkt hatte. Einen Moment lang glomm Begierde in den
Augen des Menschen auf, aber dann legte er eine Hand auf den Knauf
seines eigenen Schwertes, und er nickte zufrieden. Felders
Gesichtsausdruck in diesem Augenblick war alles, an was Keil sich
erinnern konnte, wenn er sich später fragte, auf welchem Weg
sie Dolua’d’llán denn nun betreten
hatten.
Während Morren und die
Elfen sich wahrscheinlich köstlich amüsierten, saß
Felder auf einem ungemein bequemen Bett und langweilte sich. Es
fing schon wieder an. Kaum betrat er eine Burg, schon wurde er in
ein Zimmer gesperrt. Und es war nicht besonders aufmunternd,
daß er dieses mit seinem ‘Diener’ Lonnìl
teilen durfte. Als Gesellschaft war der Bauer unbrauchbar. Sofern
sich Schwinge in seinem Blickfeld befand, gab er hauptsächlich
verliebte Seufzer von sich. Und jetzt, wo er sie nicht mehr vor
Augen hatte, seufzte er sehnsüchtig. Unter normalen
Bedingungen hätte Lonnìl der beste Freund sein
können, den Felder sich vorstellen konnte. Aber nachdem er
sich derart in die Sache hineingesteigert hatte, war nicht mehr
viel mit ihm anzufangen.
»Sie haben uns abgeschoben«, murrte Felder. Seidene
Bettvorhänge mochten durchaus ihre Vorzüge haben, aber
hier war niemand, mit dem er dahinter hätte verschwinden
können. Es gab aber auch wirklich nichts zu tun.
»Eingesperrt.«
»Mhm«, sagte Lonnìl und seufzte.
»Du hättest nicht zufällig Lust, dich mit mir zu
prügeln?« Der Raum, in den man sie gesteckt hatte, war
groß genug.
»Nein.« Seufz.
Da er nichts anderes zu tun hatte, fuhr Felder damit fort, den
Silberreif zu polieren. Er ging jetzt schon in die dritte Runde,
und inzwischen waren auch wirklich alle angelaufenen Stellen
verschwunden, aber es war immer noch besser, als überhaupt
nichts mit den Händen machen zu können. Warum nur hatte
Morren Felders Würfel verschwinden lassen? Gut, Lonnìl
hätte nicht mitgespielt, und es machte wenig Spaß, sich
selbst zu bescheißen - aber trotzdem!
»Warum kannst du nicht einfach stillsitzen?« fragte
Lonnìl.
»Ich hasse Stillsitzen.«
Gab es irgendeine Ecke, die er noch nicht erkundet hatte? Was war
das für eine hübsche silberne Schnur, die aus einem Loch
in der Wand kam? Probeweise zog Felder daran. Aber nichts
rührte sich, und er bekam schon fast Lust, die Obstschale
durchs Zimmer zu schleudern, als plötzlich ein junger Elb im
Zimmer stand.
»Ihr habt geläutet?« fragte der Diener - Felder
erkannte einen Diener, wenn er ihn sah. Also war die Schnur doch zu
etwas gut!
»Ich denke, das kann man so sagen«, sagte Felder.
»Ich hätte gerne …«, er hielt inne. Was
konnte er bestellen, ohne sich sofort in Verruf zu bringen?
Würfel würde er wohl kaum bekommen, und mit
allergrößter Wahrscheinlichkeit gab es unter den Elben
keine Huren - aber von deren Angebot hatte er auch in Thoria nur
selten Gebrauch gemacht. Der eigentliche Reiz des Eroberns ging
ihnen ab. Was er jetzt brauchte war etwas Unverfängliches.
Etwas, das sein hohes Niveau bewies. Ȁh, etwas zu
lesen, falls das möglich ist. Und außerdem …
etwas Gutes zu trinken.«
Als er Morren versprochen hatte, nüchtern zu bleiben, da war
noch nicht von Stubenarrest die Rede gewesen. Und außerdem
war es sein gutes Recht, die elbischen Sitten und Gebräuche
kennenzulernen, und dazu zählten auch landestypische
Spezialitäten. Der Elb nickte und verschwand. Felder fragte
sich, was er wohl bekommen würde. Alles in
Dolua’d’llán war erlesen schön, kostbar und
in jeder ästhetischen Hinsicht vollkommen. Und was für
Bau und Möbel galt, das mußte auch für Speis und
Trank gelten. Vermutlich war der beste thorianische Wein ein
übler Fusel, verglichen mit dem, was es bei den Elben zu
trinken gab.
»Mußte das sein?« fragte Lonnìl und
blickte leidend - eigentlich hatte er den ganzen Tag über noch
nichts anderes getan. »Du hattest doch gesagt -«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich verdursten
will!« sagte Felder. Und da kam auch schon der Elbendiener
zurück, einige Schriftstücke im Arm. Er wurde von einem
zweiten begleitet, auf dessen Tablett eine gläserne Karaffe
und zwei Kelche standen. Sie luden ihre Last auf dem hübschen
Tischchen ab und gingen wieder, nachdem sie sich höflich
verneigt und Felder sich vielfach bedankt hatte.
Der Krug war fast bis oben gefüllt mit einer klaren, leicht
bläulichen Flüssigkeit, die nicht wie Wein aussah.
Neugierig goß Felder sich einen Kelch ein und roch daran. Es
roch nach gar nichts. Vorsichtig nahm er einen Schluck. »Aber
… das ist Wasser!«
»Dann dürfte es deinen Durst doch wohl stillen«,
sagte Lonnìl ernst, aber Felder entging nicht das
schadenfrohe Funkeln in seinen Augen.
Wasser war für Felder etwas, das zum Waschen, Schwimmen und
Suppekochen geeignet war. Man trank es, wenn man ansonsten nichts
hatte, zum Beispiel auf einer längeren Wanderung. Aber doch
nicht in geschlossenen Räumen! Trotzdem leerte er seinen
Kelch, statt ihn, einem ersten Impuls folgend, an die Wand zu
schmettern. Es mochte vielleicht nur Wasser sein - aber es
schmeckte wirklich gut. Felder hätte nie gedacht, daß
gewöhnliches Wasser so lecker sein konnte. War es
überhaupt gewöhnliches Wasser?
»Du solltest einen Schluck probieren!« rief er
Lonnìl zu. »Es ist gut.« Er goß sich einen
zweiten Becher ein und machte es sich mit den Schriftrollen auf dem
Bett bequem. Es war sehr zuvorkommend von den Elben, auch
Menschendokumente in ihrer Feste zu führen. Felder fragte
sich, wo der Diener sie so schnell her bekommen hatte. Das Personal
in Thoria war immer einen halben Tag unterwegs, selbst wenn er nur
einen Krug Wein bestellt hatte.
Vorsichtig entrollte er den ersten Text - und fluchte. Da hatte er
ausnahmsweise einmal Lust, etwas zu lesen, wenn es schon sonst
nichts zu tun gab, und dann verstand er die Worte nicht. Es war ein
Jammer. Niemand in Thoria beherrschte so viele Sprachen wie er,
weil er auf seinen Reisen immer die Ohren aufgesperrt hatte und
fremde Begriffe schnell lernte, aber zwischen Sprechen und Lesen
klaffte ein himmelweiter Unterschied. Vielleicht hätte
Lonnìl etwas damit anfangen können - aber der Bauer
konnte überhaupt nicht lesen. So beschränkte sich Felder
darauf, die Schriftrollen nacheinander zu entfalten, einen Moment
lang anzustarren, versuchen, irgendwelche bekannten Wörter zu
entziffern und sie dann beiseitezulegen. Unter mehr als einem
Dutzend Schriftstücken war nur ein einziges, das er verstand,
wie immer es auch aus Thoria hergelangt sein mochte. Es war ein
Bericht über die Fortschritte in der Rübenzucht.
Wütend fegte Felder die Texte von seinem Bett. Das war bei
weitem nicht das, was er von der Hohen Elbenfeste erwartet hatte.
Irgendwie mußte sie ihren guten Ruf doch verdient haben! Es
ging nicht an, daß sich ihre Besucher zu Tode langweilten!
Wenn sie keine Menschen, sondern Spitzohren gewesen wären,
hätte man sich sicher richtig um sie gekümmert. Felder
fühlte sich ausgeschlossen. Und er war nicht bereit, das noch
länger hinzunehmen.
»Mir reicht’s«, sagte er zu Lonnìl.
»Ich werde mich einmal eine Runde lang umschauen. Hast du
Lust, mitzukommen?«
»Das solltest du lassen«, antwortete Lonnìl.
»Sie haben uns gesagt, daß wir hier warten
sollen.«
»Ich will nichts Verbotenes tun«, entgegnete Felder,
»nur die Feste etwas erkunden. Daran ist doch nichts
Schlimmes. Die Elben sollten sich vielmehr freuen, daß ich
mich für ihren Bau interessiere.«
»Trotzdem … du könntest Ärger
bekommen.«
»Wenn ich noch länger hier rumsitzen muß, fange
ich bald an, das Zimmer kurz und klein zu schlagen. Und dann
bekomme ich wirklich Ärger. Ich muß etwas tun. Du
willst wirklich nicht mitkommen?«
Lonnìl schüttelte den Kopf. Felder zuckte die
Schultern und ließ seinen Freund mit all den wehmütigen
Gedanken an ein Mädchen, das er niemals bekommen würde,
allein. Jetzt endlich fing der interessante Teil an.
Niemand konnte sagen, wie alt
Talinas, der Oberste Hüter von
Dolua’d’llán, sein mochte. Sein Gesicht war
alterslos, aber nicht auf die gleiche Art wie die der Zauberer: Es
wirkte jung, gepaart mit einer großen Weisheit und
Lebenserfahrung. Bis jetzt hatte Keil solche Gesichter nur bei sehr
alten Leuten gesehen, und er vermutete, daß Talinas schon
seit weit mehr als tausend Jahren lebte. Und nach dem, was er
gehört hatte, war er schon sehr lange Oberster Hüter.
Sie hatten Glück: Dadurch, daß die Elben schon von
ihrem Kommen wußten, hatte man sie unverzüglich zu
Talinas geführt. Keil war froh, daß die Menschen nicht
dabei waren. Sie mochten interessant sein und gute Freunde, aber
dies war etwas, das sie nichts anging. Eigentlich wäre es
sogar das Beste gewesen, wenn auch Morren an einem anderen Ort auf
sie gewartet hätte. Dies betraf nur die Elben und die Alifwin.
Aber nun war Morren mit ihnen hier, und er konnte ihnen sicher
nicht schaden. Doch obwohl der Zauberer längst der Führer
ihrer Gruppe geworden war und für gewöhnlich das Wort
führte, hielt er sich nun im Hintergrund, und es war Keil, der
erzählte, warum sie gekommen waren. Er nahm sich Zeit und
sprach ausführlich von ihrem Problem und den Instrumenten,
damit die Elben begreifen konnten, wie wichtig sie für die
Alifwin waren. Neben ihm stand Schwinge, wortkarg und
würdevoll. Sie hatte sichtbar aufgeatmet, als Lonnìl
und Felder den einen und sie selbst den anderen Gang hinunter
geführt worden waren. Keil fragte sich, was Felder wohl
Talinas erzählen würde, wenn es zu er Besprechung
zwischen ihnen kam. Da Felder nicht wirklich im Auftrag seines
Vaters reiste, würde er kaum die diplomatischen Beziehungen
aufnehmen können, die er als Anlaß für sein Kommen
vorgegeben hatte.
»Es ist schon sehr lange her, daß wir Alifwin als
Gäste in Dolua’d’llán begrüßen
konnten«, sagte Talinas. Wie auch sein Gesicht war die Stimme
immer noch so kraftvoll, als ob die Last der Jahre sie nur
gestärkt hätte. »Ich habe immer zutiefst bedauert,
daß so wenig Kontakt herrscht zwischen unseren
Völkern.«
»Mein Stamm hat immer wieder Handel mit reisenden Elben
getrieben«, antwortete Keil. »Unsere Völker haben
sich gegenseitig ausgeholfen, wenn es um Sachen ging, welche die
einen hatten und die anderen brauchten. So soll es auch in Zukunft
sein.«
»Wir möchten euch bitten, uns gegen die Menschen
beizustehen«, fügte Schwinge hinzu. »Ihr scheint
keine Probleme mit ihnen zu haben, aber sie töten die
Angehörigen unseres Volkes, wann immer sie die
Möglichkeit dazu haben. Wir brauchen die Instrumente der Hohen
nur, um uns selbst zu verteidigen.«
Talinas warf seinen drei Beratern - es waren die Hüter, die
sie in der Innere der Feste geführt hatten - kurze Blicke zu.
Sie nickten zurück. Langsam begriff Keil, daß die Elben
eine besondere Art hatten, sich untereinander zu verständigen.
Wie Morren schon sagte, konnten Worte oft mißgedeutet werden.
Aber Gedanken waren immer klar. Dann sah der Oberste Hüter
Schwinge an, und sein Gesicht war ernst, als er sagte: »Es
gibt hier keine Trommel aus Stein, die wir euch geben
könnten.«
»Was ist mit dir, Mensch?
Hast du dich verlaufen?«
Felder drehte sich um, und zum ersten Mal seit er denken konnte
fehlten ihm die Worte. Hinter ihm auf dem Gang stand eine Frau. Er
hatte sie nicht kommen hören, aber da sie eine Elbe war, war
das nicht weiter verwunderlich. Natürlich hätte er sich
denken müssen, daß man ihn früher oder später
aufspüren und zurückbringen würde. Allerdings
wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, daß er auf diese
Weise eine Frau kennenlernen konnte.
Es sprach einiges gegen sie: Zum einen war sie mindestens so
groß wie er, genauer gesagt etwa einen Kopf
größer, und zum anderen waren derart zierlich gebaute
Mädchen nicht unbedingt sein Typ, auch wenn sie nicht so
völlig neutral aussah wie Schwinge. Aber ihr Gesicht! Felder
hatte noch nie ein Gesicht wie dieses gesehen, und er war sich
ziemlich sicher, daß er es auch nie wieder sehen würde.
Ihre Augen waren groß, mandelförmig und violett, so
strahlend wie der Stein, den sie an einer Kette um den Hals trug.
Dafür war ihre Haut so weiß, daß sie schon fast
durchsichtig wirkte, und nur ihre Lippen von der Farbe der
Rosenknospe wagten es, den Augen ein wenig an Farbe
entgegenzusetzen. Umrahmt wurde das Ganze von glattem schwarzen
Haar, in das violette Bänder geflochten waren.
Unwillkürlich hielt Felder die Luft an. Ein Geschöpf von
derart vollkommener Schönheit hatte er noch nie zuvor
erblickt. Einen Atemzug lang bedauerte er, daß Lonnìl
diesen Moment nicht teilen konnte. Bei diesem Anblick hätte er
sich Schwinge endlich aus dem Kopf geschlagen. Aber noch im selben
Augenblick wußte Felder, wie gut es war, daß
Lonnìl auf dem Zimmer geblieben war. Sollte er sich nur
ruhig weiter nach Schwinge sehnen. So konnte er Felder zumindest
nicht in die Quere kommen.
Sie standen allein auf dem Flur - nur er und die Elbe. Und er
wußte nicht, was er sagen sollte.
»Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?« fragte sie.
Felder klappte schnell den Mund wieder zu. Schließlich
wußte er nur zu gut, wie dämlich das aussah. Verdammt,
er mußte doch besser als alle anderen wissen, wie man mit
schönen Frauen umging! Er hatte schon oft genug welche
kennengelernt, auch näher. Was war aus seinen bei Bedarf
verfügbaren geschliffenen Manieren geworden?
»Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen«,
würgte er schließlich hervor. »Vermutlich
verdanken wir es nur irgendeinem mißlichen Umstand, daß
wir einander noch nicht vorgestellt worden sind.«
»Aber ich weiß, wer du bist!« lachte die Elbe.
»Du bist der Prinz von Thoria.«
»Meine Freunde nennen mich Felder«, sagte er. Es war
gut gewesen, daß er nicht wirklich mit Lonnìl die
Rollen getauscht hatte. Für den Diener des Prinzen hätte
sie sich bestimmt nicht interessiert. »Und mit wem habe ich
das Vergnügen?«
»Ich bin Lamaír. Und ich wüßte gerne, was
dich in diesen Teil der Festung verschlagen hat, Prinz von
Thoria.«
»Die Suche nach einem hübschen Mädchen hat mich
vorangetrieben, blindlings durch die Gänge …«
Wie alt mochte sie wohl sein? Es war unmöglich zu sagen,
selbst wenn er bedachte, daß für das tatsächliche
Alter einer Person die Zahl der Jahre bedeutungslos war. Auf eine
gewisse Art wirkte Lamaír genauso kindlich und unschuldig
wie Lyantra, und Felder kam zu dem Schluß, daß sie noch
nicht erwachsen war - womöglich noch nicht einmal
ausgewachsen. Aber das war jetzt nicht der Moment, um Vergleiche zu
ziehen. Tatsächlich sah die Elbe ihr sogar ähnlich - das
mußte an den Haaren liegen -, aber auch wenn er Lyantra sehr
mochte und sie ihm dieses Hemd genäht hatte, waren Gedanken an
sie im Moment doch völlig deplaziert. Lamaír - ein
sonderbarer Name. Er klang geheimnisvoll. Definitiv elbisch.
Sie lachte über sein Kompliment. Er spürte, wie er zu
grinsen begann. Der Bann war gebrochen.
»Wenn ich ehrlich sein darf, konnte ich den Gedanken nicht
ausstehen, in einer so großartigen Burg wie
Dolua’d’llán zu sein und meine Gemächer
nicht verlassen zu dürfen. Da hätte ich ja gleich in
Thoria bleiben können. Kurz gesagt: Mir war
langweilig.«
»Aber in Dolua’d’llán ist es niemals
langweilig!« rief Lamaír verwundert aus.
»Überhaupt wundert es mich, daß man dir zu Ehren
kein Fest veranstaltet hat. Menschenprinzen haben wir hier nur
selten zu Gast, auch wenn wir schon einiges von dir -«
Sie brach plötzlich ab. Er grinste sie grimmig an.
»Mein Ruf eilt mir voraus, nicht wahr? Und nun, wo du mich
kennengelernt hast - glaubst du, die Gerüchte
stimmen?«
Jetzt kam er endlich in den Genuß, eine Elbe erröten zu
sehen. Aber sie wirkte nur einen Moment lang verlegen. Dann lachte
sie wieder. »Nun, das kann ich jetzt noch nicht so genau
sagen. Schließlich habe ich noch nicht gesehen, wie du
…« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, und Felder
überlegte, was genau man den Elben über ihn erzählt
hatte. Er hoffte, daß es nicht die Affäre um Graf Arlin
war. Aber dann sagte die Elbe nur: »tanzt.«
Jetzt war es an Felder, zu erröten. »Zugegeben, ich bin
kein schlechter Tänzer, aber ich glaube nicht, daß wir
das selbe darunter verstehen. Immerhin bin ich nur ein
Mensch.«
Sie warf einen Blick auf seine Füße, stutzte kurz und
fing wieder an zu lachen. »Armer Prinz, da bist du den ganzen
Weg von Thoria zu Fuß hergekommen, und das in diesen Schuhen!
Kein Wunder, daß du nicht mehr tanzen magst!«
Felder wußte genau, daß sie bemerkt hatte, daß
seine Spitzenschuhe in Wirklichkeit etwas klobige, aber
überaus bequeme Lederstiefel waren. Aber solange sie nichts
sagte, war es besser, den Schein zu wahren. Schnell beeilte er sich
zu erklären: »Nein, so schlimm ist es nicht. Erst
gestern ist mein Pferd gestürzt, und wir mußten es
töten.«
Die Götter allein mochten wissen, was wirklich aus dem Gaul
geworden war. Vielleicht hatte ihn der Bauer, der ihn gewonnen
hatte, vor seinen Pflug gespannt. Nicht unbedingt das beste
Schicksal für ein ausgebildetes Reitpferd. Aber verloren war
verloren.
Sie glaubte ihm nicht, denn sonst hätte sie sicherlich etwas
gegen das Töten von Tieren gesagt. So aber lachte sie nur noch
einmal mit ihrer hellen, melodischen Stimme und nahm ihn bei der
Hand.
»Du wirst dich hier noch amüsieren, Prinz von Thoria.
Und tanzen sollst du auch. Aber vorher zeige ich dir die
schönsten Stellen von
Dolua’d’llán.«
Wenn Felder jemals an einem Ort hatte bleiben wollen, dann in
Dolua’d’llán. Nicht nur die Elbe, alles hier
verbreitete eine Leichtigkeit, wie sie in der thorianischen Burg
niemals zu spüren gewesen war. Die Mauern wirkten nicht
erdrückend, alles war hell, freundlich und wunderschön.
Wie ein Netz feiner Äderchen zogen sich die zarten Linien
durch den Marmor der Wände, durch die das Sonnenlicht selbst
in die innersten Räume hineinzuscheinen schien. Sogar der
Fußboden strahlte Leben aus, und durch die Sohlen seiner
Stiefel konnte Felder spüren, daß er erwärmt war.
Wo immer es möglich war, erhellten Fenster die Räume. Und
es war auch nicht zugig, sondern angenehm warm. Einen kurzen Moment
lang dachte Felder wieder an Thoria. Die Burg war nichts weiter als
ein großer Hohn, verglichen mit der Elbenfeste. So sehr er
auch immer gegen die Spitzohren wetterte - er wußte nur zu
gut, daß kein Mensch jemals etwas derartiges würde
erschaffen können, und erst recht kein Thorianer. Felder
fühlte sich erfüllt von einer großen Zufriedenheit
und, was noch seltener war, innerer Ruhe, obwohl er den ganzen Tag
über nichts als Wasser getrunken hatte. Es machte ihn auch
überhaupt nichts aus, bei klarem Verstand zu sein. Dies war
kein Ort, an den sich düstere Gedanken verirren konnten. Hier
stand die Zeit still. Oft genug hatte er sich nach dem Tal der
Ewigen Jugend gesehnt. Jetzt hatte er es gefunden. Als er
Lamaír andächtig durch die verbogenen Gänge
folgte, grinste er nicht, wie er es für gewöhnlich tat.
Er lächelte. Und es war überhaupt nicht nötig, noch
viel zu sagen.
Aber Lamaír hatte sich mehr in den Kopf gesetzt, als ihrem
Opfer die Elbenfeste zu zeigen. Sie wollte ein Fest organisieren,
um ihn tanzen zu sehen. Der Gedanke behagte Felder nicht besonders.
Er machte sich ungern vor schönen Frauen lächerlich.
Egal, wie gut er tanzen konnte, sie war und blieb ein ganzes
Stück größer als er, und es würde einfach nur
lächerlich aussehen, wenn er neben ihr herhopste. Doch sie
ließ sich nicht beirren. Nach und nach schlossen sich ihnen
immer mehr Jungelben an, wo immer sie so schnell hergekommen sein
mochten. Felder wurde einem jeden von ihnen vorgestellt, aber sie
sahen nicht nur alle gleich aus, sondern hatten auch noch
gleichklingende Namen: Talanis, Tanalis, Nantalis und so fort. Von
Lamaír abgesehen, gab es nur einen Elb, dessen Namen und
Gesicht er sich einprägen konnte: Finlas, Sohn des Herren
einer anderen, nicht ganz so hohen Elbenfeste mit Namen Paer
Car’afan, was immer das bedeuten mochte, und er hatte einen
guten Grund, daß er sich gerade diesen schönen
Jüngling merkte:
»Finlas ist zur Zeit Gast in
Dolua’d’llán«, erklärte
Lamaír, »weil er bei meinem Vater um meine Hand
anhalten möchte.«
Wie jede begehrenswert schöne Frau hatte auch diese den
entscheidenden Nachteil, daß sie bereits vergeben war. Felder
überlegte kurz, was er von dieser Eröffnung halten
sollte. Bedeutete sie, daß sie das eigentliche Werben nur
interessanter gestalten würde, oder aber war sie ein
deutliches Anzeichen dafür, daß er besser die Finger
davon lassen sollte? Nur weil die Elfen sich niemals über
Liebe und Eifersucht ausließen und es so etwas wie Ehe bei
ihnen gar nicht direkt zu geben schien - glückliche
Geschöpfe! -, bedeutete das noch lange nicht, daß die
Elben nicht an weitaus zwingendere Konventionen gebunden waren.
Noch war Lamaír nicht verheiratet, aber Finlas würde
sicher etwas dagegen haben, wenn sich Felder vor seinen Augen an
sie heranmachte. Natürlich hatte gerade das Verbotene seinen
besonderen Reiz. Aber wer wußte, wie übel der Elb
es nehmen würde? Felder hatte nicht die Absicht, versehentlich
einen Krieg zwischen den Menschen und den Elben auszulösen.
Kämpfe waren, ebenso wie sein Liebesleben, eine private Sache.
Er wollte weder in das eine, noch in das andere, sein Volk
hineinziehen. Duelle waren in Ordnung. Da konnten nur diejenigen
sterben, die direkt von das Sache betroffen waren. Man focht sie
aus Vergnügen aus. Aber Felder hätte niemals ein Heer
anführen mögen. Das war einer der Gründe, warum er
kein König werden wollte. Jeder hoffte, daß Thoria
endlich einmal wieder einen Krieg gewinnen würde. Und man
hatte Felder dazu auserkoren, damit anzufangen. Aber da machte er
nicht mit. Er war für Spiele zuständig. Ein Krieg war
kein Spiel. Felder wußte, wo seine Grenzen lagen und wann er
zu weit ging, nicht nur, was das Trinken anging. Er würde
nicht wegen einer Affäre den Fortbestand der Thorianer,
möglicherweise der ganzen Menschheit, gefährden.
In Gedanken schrieb er Lamaír ab, auch wenn es schon bei
Weitem zu lange her war, daß er zuletzt eine Frau geliebt
hatte, und die Elbe wirklich verdammt gut aussah. Aber der
Weltfrieden ging vor, und außerdem war sie sowieso viel zu
groß, zu alt und zu verliebt in einen anderen. Seit Felder
mit Lonnìl unterwegs war, erkannte er die Anzeichen. Und er
merkte auch, daß Finlas graue Augen ihn bereits
argwöhnisch beobachteten. Spätestens seit der Geschichte
mit Arlin kannte er diesen Blick. Von den anderen
Elbenmädchen ragte keines an Lamaír heran, und wer
wußte, mit wem sie verlobt waren. Felder gab auf, bevor er
überhaupt angefangen hatte. Das Einzige, was er jetzt noch tun
konnte war, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen und sich zu
amüsieren.
Morren hatte ihnen zu verstehen
gegeben, daß er sich heraushalten und die ganze Verhandlung
den Alifwin überlassen würde. Nun saß er im
hinteren Teil der Halle, und Schwinge konnte sein amüsiertes
Lächeln regelrecht in ihrem Nacken spüren. Sie atmete
ruhig und versuchte, ihren Herzschlag zu verlangsamen. Von allen
Zeitpunkten, an denen sie zornig werden konnte, war dies der
schlechteste, aber es war noch schlechter, Keil allein reden zu
lassen, denn er sah zu viele Dinge völlig falsch und
würde sie auch so darstellen.
»Wir kommen nicht als Bettler«, sagte sie beherrscht.
»Es war noch nie zuvor nötig, daß die Alifwin die
Elben um Hilfe hätten bitten müssen. Aber nun sehen wir
keine andere Wahl.«
»Es ist so, wie ich gesagt habe«, wiederholte Talinas.
»Wir haben nichts, was wir euch geben
könnten.«
»Aber der Name eurer Feste ist
Dolua’d’llán! Wenn ihr die Trommel nicht habt,
wo ist sie dann?«
»Auch das können wir euch nicht sagen. Seit
Jahrtausenden haben die Hüter von
Dolua’d’llán Stillschweigen bewahrt, und so soll
es auch für immer sein. Wenn ich eines Tages gehe, wird mir
ein neuer Hüter nachfolgen. Wir wurden dazu geboren, den Hort
der Trommel geheim zu halten. Versteht mich nicht falsch. Wenn ich
könnte, würde ich euch die Aufenthaltsorte der anderen
Instrumente verraten, aber über sie weiß auch ich
nichts. Und wenn ihr sie findet, solltet ihr sehr vorsichtig mit
ihnen sein. Die Hohen hatten mehr Macht als ihr oder wir. Über
die Laute weiß ich nichts, und auch von der Harfe nur sehr
wenig. Aber mir ist eine Warnung bekannt, die aus uralten Zeiten
stammt. Vielleicht nützt sie euch, aber wahrscheinlich kennt
ihr sie bereits, denn sie stammt von den frühen
Alifwin.
Laßt die Flöte
ungehört:
Wer sie spielt, der wird zerstört.
Kommt sie in die falschen Hände,
ist das aller Welten Ende,
denn wenn falsche Weisen klingen,
wird sie nichts als Unheil bringen,
und den wahren, reinen Klang
spielt sie niemals unter Zwang.
Es ist zwar nicht von Eis die
Rede, aber ich denke, es ist dieselbe Flöte gemeint. Im Namen
alle Völker beschwöre ich euch, achtzugeben.«
»Wir werden nicht auf den Instrumenten spielen«, sagte
Keil. »Auf der Flöte spielt man nicht, das wissen wir.
Aber wir danken dir trotzdem für diese Warnung. Gibt es sonst
noch etwas, das du weißt?«
»Es gibt noch ein oder zwei Dinge, die ich euch über
die Harfe sagen könnte. Aber wenn ihr meinen aufrichtigen Rat
hören wollt, ist es das Beste, wenn ihr die Instrumente an den
Orten belaßt, an denen sie sind. Ihr seid noch sehr jung, und
da ihr zu wenig über die Instrumente wißt, könntet
ihr zu leicht einen Fehler begehen. Seid als unsere Gäste in
Dolua’d’llán, aber fragt nicht mehr nach der
Trommel. Selbst wenn ich wollte, verbietet es mir mein Amt als
Hüter, es euch zu sagen.« Der alte Elb sprach genau wie
die Zauberer. War dies eine Verschwörung gegen die Alifwin?
Warum wollte ihnen niemand helfen?
»Dann steht uns auf andere Art bei! Wenn sich die Elben und
Alifwin vereinigen, können wir die Menschen auch ohne die
Instrumente der Hohen besiegen!«
Talinas erhob sich und ging auf sie zu. Die drei anderen folgten
ihm, und ihre Gesichter waren plötzlich seht streng.
»Gerade noch habt ihr uns erzählt, ihr sucht die
Instrumente, um vor den Menschen in Sicherheit zu sein, und nun ist
plötzlich die Rede davon, daß ihr sie besiegen
wollt«, sagte der Oberste Hüter, und der violette
Kristall vor seiner Brust begann drohend zu leuchten. »Was
ist der wirkliche Grund eurer Suche?«
»Unser Frieden«, erwiderte Keil ohne zu zögern,
während Schwinge schwieg. Nun mußte sie ihre Worte
wirklich abwägen. »Wenn ihr irgend etwas über den
Verbleib der Instrumente wißt, dann sagt es uns!«
»Versteht mich nicht falsch«, sagte Talinas.
»Ich würde euch gerne helfen, aber ich habe den
Eindruck, daß ihr beide nicht auf der selben Suche seid. Wenn
ihr euch nicht einmal untereinander einig seid, können wir
nichts für euch tun.«
»Aber es kann doch nicht in eurem Interesse sein, daß
die Alifwin von den Menschen ausgerottet werden!« rief
Schwinge. Langsam dämmerte ihr eine schreckliche Erkenntnis.
»Die Menschen töten alles, was nicht so ist wie sie. Wie
kommt es dann, daß sie euch nichts tun?«
»Sie haben keinen Grund dazu«, antwortete Talinas.
»Die Menschen haben schon früh erkannt, daß sie
viel von den Elben lernen können, wenn sie nicht versuchen,
gegen uns zu kämpfen. Als die Menschen kamen, wußten sie
über dieser Welt nur sehr wenig. Sie konnten weder richtige
Burgen bauen, noch haltbare Waffen schmieden. Da wir in ihnen keine
Gefahr sahen, haben wir ihnen geholfen, zu lernen. Vielleicht war
dies auf lange Sicht ein Fehler, und es scheint, als hätten
wir sie falsch eingeschätzt, aber es hatte zur Folge,
daß die Menschen die Elben als einen festen Bestandteil der
Welt akzeptiert haben und mit Hochachtung behandeln, wenn sie auch
unsere Nähe meiden.«
Schwinge war sprachlos vor Entsetzen. Sie hatte damit gerechnet,
daß Talinas den Verrat abstreiten würde, aber er sprach
davon, als ob es das Natürlichste der Welt wäre. Die
Elben hatten den Menschen beigebracht, die Schwerter zu schmieden,
mit den diese nun die Alifwin abschlachteten.
Talinas war ihr Blick nicht entgangen, aber er sagte nichts weiter
zu diesem Thema, sondern ging mit langsamen Schritten zurück
zu seinem hochlehnigen Stuhl und nahm Platz.
»Nichts liegt mir ferner, als Streit mit den Alifwin zu
suchen, vor allem nicht jetzt, wo Tage der Freude herrschen in
Dolua’d’llán, denn meine einzige Tochter wird
den Prinzen von Paer Car’afan zum Mann nehmen, und das
große Fest wird schon vorbereitet.«
Er versuchte, vom Thema abzulenken, und von allen Sachen konnte
Schwinge das am Schwersten ertragen. Sie waren nicht gekommen, um
über große Feste zu reden, wenn die Zukunft ihres ganzes
Volkes auf dem Spiel stand.
»Ihr habt uns verraten!« rief sie, daß es laut
durch den Saal scholl. »Die Elben haben ihr Erbe verraten.
Sie haben sie Hohen verraten und sich auf Seiten der Menschen
gestellt.«
»Schwinge vom Waldvolk, achte auf deine Worte«,
entgegnete Talinas ebenso laut. »Ich verstehe deinen
Ärger, und so belasse ich es erst einmal dabei, dich zu
verwarnen. Aber nenne nie wieder die Elben Verräter. Die Elben
sind nicht mehr und nicht weniger Verräter als ihr, die ihr
zwei Menschen nach den Instrumenten der Hohen suchen laßt.
Habt ihr geglaubt, uns täuschen zu können? Wir sind zwar
gerne bereit, uns auf politische Beziehungen zu Thoria einzulassen,
aber der einzige Grund, warum diese Menschen zum gleichen Zeitpunkt
wie ihr hier eingetroffen sind, ist der, daß sie eure
Begleiter sind!«
Schwinge hatte gewußt, daß ihnen die Menschen in
Dolua’d’llán zum Verhängnis werden
würden. Talinas’ Vorwurf traf sie schwer. Aber er
änderte nichts daran, daß erst die Elben die Menschen zu
dem gemacht hatten, was sie heute waren. Die drei Hüter hinter
Talinas sprachen immer noch nicht, aber ihre Hände lagen auf
den Kristallen in ihren Schwertknäufen. Wollte man ihr
drohen?
»Sag nichts mehr, Schwinge!« flüsterte Keil kaum
hörbar. »Es reicht, daß die Menschen uns hassen.
Wenn wir uns jetzt mit den Elben streiten, brechen die Hohen
Völker endgültig auseinander.«
Auch Morren war plötzlich an ihrer Seite und befahl ihr zu
schweigen. Doch Schwinge hörte sie nicht mehr. Sie sah nur
noch das selbstgefällige Lächeln in den Gesichtern der
Elben. Wer sie verraten hatte, der sollte ihren Zorn zu spüren
bekommen.
»Die Hohen Völker sind bereits endgültig
auseinandergebrochen, und das durch nichts anderes als durch den
Verrat der Elben. Und ich lege keinen Wert darauf, mit euch in
Freundschaft zu leben.«
Talinas fuhr hoch, und sein Kristall leuchtete hell auf, ebenso
wie die der drei anderen Hüter. »Das ist genug. Wir
haben euch in guter Absicht Dolua’d’llán
aufgenommen und waren bereit, euch nach bestem Wissen zu helfen.
Das Schicksal der Alifwin ist uns nicht gleichgültig, und wir
möchten wirklich nicht, daß unsere guten
Handelsbeziehungen gestört werden. Aber wir können es
nicht zulassen, daß ihr uns derart beleidigt und unseren
Frieden in Gefahr bringt. Und so muß ich euch leider bitten,
Dolua’d’llán zu verlassen.«
Es war ein traumhaftes
Gefühl, an Lamaírs Seite durch den Saal zu schweben.
Genaugenommen war sie es, die schwebte, und er versuchte
krampfhaft, mit ihr Schritt zu halten, aber es war trotzdem
herrlich. Felder konnte sich nicht erinnern, einen Ball jemals
derart genossen zu haben. Keinen der Elben schien es zu
stören, daß er ein Mensch war und verglichen mit ihnen
ein kleinwüchsiger Trampel. Sie waren nicht anderes als er:
Junge Leute, die sich amüsieren wollten. Und bei allen
Göttern, das taten sie.
»Was ist mit dir?« fragte Lamaír irgendwann.
»Du scheinst außer Atem.«
»Das liegt daran, daß ich außer Atem bin«,
antwortete Felder. »Ich habe das Gefühl, den halben Tag
ununterbrochen getanzt zu haben.«
Lamaír lachte. »Es war beinahe ein ganzer Tag. Aber
was ist schon ein Tag, gemessen an der Ewigkeit?«
Er hatte Recht gehabt: Dies war das Tal der Ewigen Jugend. Zeit
bedeutete nichts. Hier würde er bleiben.
Sie setzten sich auf einige Stühle, die am Rand standen,
damit er sich für den nächsten Tanz etwas erholen konnte.
Da er sich in der Tat sehr zurückgehalten hatte, schien auch
Finlas keinerlei Argwohn mehr ihm gegenüber zu hegen. Warum
auch?
Aber plötzlich veränderte sich die Stimmung, ohne
daß Felder sagen konnte, was los war. Die Elben wirkten
genauso vergnügt wie zuvor - bis auf Lamaír, deren
Gesicht einen Moment lang bestürzt erschien. Sie griff hastig
nach ihrem violetten Kristall und umschloß ihn mit der Hand,
aber es war Felder nicht entgangen, daß der Stein zu leuchten
begonnen hatte.
»Was ist los?« fragte er. »Stimmt etwas
nicht?«
Lamaír schien ihn nicht zu beachten. Sie murmelte etwas in
ihrer Sprache, von dem er nur mit Glück ein Wort verstehen
konnte: Dolua - Trommel, wenn er es sich richtig
zusammengereimt hatte. Also waren Morren und die Elfen erfolgreich?
Sie hatten die Trommel gefunden? Oder was war geschehen?
Lamaír schüttelte nur den Kopf, dann lächelte sie
ihm wieder zu und machte sich daran, ihn zurück auf die
Tanzfläche zu befördern, als ob nichts geschehen war.
Doch als dann ein weiterer Elb Lonnìl in den Saal
führte, verstummten die Musikanten. Alle sahen zu dem Bauern
hinüber, was diesem wohl furchtbar unangenehm war, denn er
ging schnell zu Felder hinüber, ohne sich weiter in dem
prachtvollen Marmorsaal umzusehen.
»Was gibt es?« fragte Felder. »Willst du
mitfeiern?«
Lonnìl schüttelte den Kopf. »Es hat sich etwas
… ereignet. Schwinge und die anderen verlassen die Feste.
Und ich gehe mit ihnen.«
»Haben sie die Trommel gefunden?«
Er selbst hatte versucht, beiläufig einige Informationen von
Lamaír zu bekommen, aber obwohl sie offensichtlich etwas
wußte, hatte sie immer nur lachend das Gespräch in
andere Richtungen gelenkt. Er konnte es ihn nicht verübeln.
Sie wäre schön dumm gewesen, das Geheimnis um ein derart
wichtiges Artefakt an einen Menschen zu verraten.
»Äh … nein«, druckste Lonnìl herum.
»Sie … es hat etwas Ärger gegeben.«
»Aber ich habe nichts getan! Wirklich nicht!«
»Nein, nicht wegen dir. Es war …« Lonnìl
atmete tief durch. »Jedenfalls müssen wir jetzt
gehen.«
»Ich auch?« fragte Felder. »Aber … es
hatte gerade erst angefangen, nett zu werden!«
Finlas mischte sich ein. Er schien zu wissen, um was es ging,
obwohl er sich die ganze Zeit nicht aus dem Ballsaal entfernt
hatte. »Natürlich nicht«, sagte er. »Weder
du noch dein Diener müssen Dolua’d’llán
verlassen. Ihr seid unsere Gäste, und da ihr nicht an der
Meinungsverschiedenheit mit Talinas beteiligt wart, wäre es
ungerecht, euch ebenfalls bitten, zu gehen. Selbstverständlich
steht es euch frei, noch länger hier zu bleiben.«
»Ich werde nicht bleiben«, sagte Lonnìl.
»Ich gehe dahin, wohin Schwinge geht.«
Wenn Felder das Ganze richtig verstand und man die Elfen, aus
welchem Grund auch immer, rausgeschmissen hatte, dann erklärte
das, weswegen Lonnìl offensichtlich stark bemüht war,
eine Wut zu unterdrücken. Die Elben konnten sich vor
Glück schätzen, daß er nicht einen dieser seiner
Anfälle hatte und mit seinem Stock um sich schlug.
Aber was würde er selbst tun? Er war in keine der beteiligten
Personen verliebt, und dies war der schönste Ort auf der Welt.
Felder überlegte schnell. Wenn er blieb, bedeutete es,
daß er der einzige Mensch war unter einem Haufen von
Spitzohren. Er war nur Gast, und sie würden ihn nicht für
immer da behalten wollen. Aber er war so oft auf sich allein
gestellt, wenn er unterwegs war. Warum nicht noch ein wenig
bleiben?
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch vor wenigen
Momenten hätte er laut verkündet, für immer hier
bleiben zu wollen, und es machte überhaupt nichts aus,
daß es nichts als Wasser zu trinken gab. Aber jetzt erkannte
er plötzlich, daß dies kein Ort für ihn war. Es
war, als hätte er das Tal der Ewigen Jugend gefunden und
feststellen müssen, daß die Zeit dort nur für die
anderen stillstand, für ihn aber nur um so schneller weiter
lief.
Er konnte nicht für alle Ewigkeit tanzen. Früher oder
später würde es ihm langweilig werden. Und
Dolua’d’llán würde aufhören, etwas
Besonderes zu sein, wenn er sich erst einmal daran gewöhnt
hatte. Von aller Schönheit abgesehen, war es doch nur eine
Burg, und Burgen wurden, je länger man sich dort aufhielt,
immer dunkler, enger und erdrückender. Wenn er jetzt ging,
würde er Dolua’d’llán in wunderschöner
Erinnerung behalten. Und das war das Beste. Sobald er König
war, würde er zusehen, daß er diplomatische Beziehungen
zu den Elben aufnahm. Es sah aus, als könnten die Thorianer
einiges von ihnen lernen.
Vor allem aber würde er herausfinden, wo dieses Paer
Car’afan lag, und Lamaír ein prinzliches
Hochzeitsgeschenk zukommen lassen.
»Ich denke, mir bliebt nichts anderes übrig«,
sagte er murrend. Seine elbischen Freunde sollten nicht etwa
denken, daß er sie freiwillig und gerne verließ. Das
wäre unhöflich gewesen. »Da ich es zu meiner
Aufgabe gemacht habe, bei der Suche nach den Instrumenten zu
helfen, werde auch ich schweren Herzens abreisen.« Er
lächelte Lamaír ein letztes Mal an. »Obwohl ich
wünschte, wir hätten die Gelegenheit gehabt, uns noch
näher kennenzulernen.«
Während er Lonnìl aus dem Saal folgte, schnaubte er
wütend. Natürlich ging er aus eigenem Antrieb und nicht,
weil man die Elfen rausgeschmissen hatte. Aber wer immer die Schuld
daran trug - er würde ihn sich vorknöpfen.
»Ich fasse es nicht!« schrie Felder. »Rausgeschmissen!
Ich gebe mir die allergrößte Mühe, bin
höflich, charmant, nüchtern und was weiß ich nicht
noch alles, und dann schmeißen sie uns raus! Und warum? Nur
weil Frau Elfe selbst nicht an sich halten konnte! Wenn ihr es noch
einmal wagen wolltet, mir Vorwürfe zu machen, dann seid ihr
es, die den Ärger bekommt! Und was gedenkt ihr jetzt zu
tun?«
Schwinge blickte trotzig in die entgegengesetzte Richtung. Sie
konnte dem Menschen nicht widersprechen, und das machte alles noch
schlimmer. Natürlich hätte sie sich zurückhalten
müssen. Aber was blieb, war die Tatsache daß sie Recht
gehabt hatte. Die Elben hielten die Trommel absichtlich
zurück, obwohl sie wußten, wie dringend die Alifwin sie
benötigten.
»Falls es euch interessiert«, fuhr Felder fort,
»war ich gerade dabei, wichtige diplomatische Beziehungen
zwischen den Elben und Thoria zu knüpfen, und aus all dem wird
jetzt nichts. Das hast du gut gemacht, Schwinge,
wirklich!«
»Würdest du dich bitte beruhigen!« sagte Morren.
»Es hilft keinem, wenn du jetzt randalierst. Du hältst
uns vom Denken ab.«
Sie standen mitten auf dem Weg, der durch den Wald führte.
Wenn sie sich umdrehten, konnten sie
Dolua’d’llán immer noch majestätisch hinter
sich aufragen sehen.
»Du darfst Schwinge keine Vorwürfe machen!« sagte
Lonnìl zu Felder. »Sie hat doch nur ihre Meinung
gesagt.«
Daß der Mensch sie als einziger in Schutz nahm, traf
Schwinge fast noch härter als alles andere. Wütend drehte
sie sich um.
»Sagt es doch nur!« rief sie. »Ich habe versagt.
Meinetwegen wurde der Friede zwischen den Hohen Völkern
gestört. Aber ich weiß, wann ich einen Fehler gemacht
habe. Ich werde zu unserem Volk zurückkehren und berichten,
was ich getan habe, auch wenn ich dann bestraft werde. Sie
hätten wissen müssen, daß ich für diese
Aufgabe nicht geeignet bin.«
»Würdest du dich ebenfalls bitte beruhigen?«
sagte Morren. »Es bringt nichts, wenn ihr einander oder euch
selbst zerfleischt. Wir können die Ereignisse nicht
ungeschehen machen. Setzen wir uns lieber hin und überlegen,
bevor wir zu weit von Dolua’d’llán entfernt
sind. Immerhin wissen wir jetzt mit ziemlicher Sicherheit,
daß sie die Trommel besitzen, und ich habe niemals behauptet,
daß es leicht werden würde, sie zu bekommen. Ich hatte
vielmehr mit etwas derartigem gerechnet. Wenn die Elben eigens
einen Hort bauen, nur um die Trommel zu schützen, dann werden
sie sich wohl kaum gerne davon trennen, nicht wahr? Hat irgend
jemand einen Vorschlag - von Felder abgesehen?«
»Warum darf ich nichts vorschlagen?« fragte Felder
beleidigt.
»Weil ich deinen Vorschlag bereits kenne«, antwortete
Morren. Er lautet: ‘Ich habe da eine Idee, die todsicher
funktionieren wird’.« Er ahmte Stimme und Tonfall des
Menschen so perfekt nach, daß dieser ihn voller Faszination
anstarrte. »‘Ich habe die Zeit genutzt, um ein paar
wertvolle Kontakte zu knüpfen, vorzugsweise zu den
örtlichen Mädchen. Mich würden sie ohne Einwand
wieder in die Feste lassen, weil ich mir nichts zuschulden habe
kommen lassen, und nachdem ich einmal ihre Herzen gewonnen
hätte, wäre es mir ein Leichtes, die Trommel zu finden
und hinauszuschaffen. Sämtliche Frauen in
Dolua’d’llán liegen mir zu Füßen,
müßt ihr wissen.’ Vorschlag abgelehnt. Du siehst,
Felder, ich kenne dich wirklich.«
»Das glaubst auch nur du«, sagte Felder. »Ich
habe statt dessen eine ganz andere Bitte an dich: Schaff mir diese
Kleider vom Leibe! Und gib mir meine Sachen wieder.«
Mit einem Seufzen gab Morren dem Menschen sein altes abgeschabtes
Aussehen wieder. Felder war der einzige, der darüber
glücklich schien. Zufrieden überprüfte er den Sitz
der Feldflasche an seinem Gürtel und öffnete den Mund, um
wieder etwas zu sagen.
In dem Moment wurde es um sie herum dunkel.
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