And the hunter home from the
hill.
Robert Louis Stevenson
Wenn Keil die Augen
schloß, konnte er wieder den Fluß in der Ferne singen
hören. Es war ein wundersamer, tröstlicher Klang. Er
übertönte sogar das beharrliche Flüstern der
Flöte aus Eis. Sein Fluß! Es war so schön, ihn noch
ein letztes Mal sehen zu dürfen, bevor das Leben in den
Wäldern begann. Am liebsten hätte Keil seine Freude mit
Schwinge geteilt. Aber das war jetzt nicht mehr möglich. Und
keiner von den anderen würde den Fluß für etwas
Besonderes halten. Sie hatten sicher schon viele gesehen. Aber auf
der ganzen Welt gab es keinen wie diesen.
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie sein Dorf
erreichten. Es lag dort, wo der Fluß eine Schleife machte und
das Wasser seicht war, so daß man gut fischen konnte. Einen
kurzen Moment lang freute Keil sich auf das Wiedersehen mit seinem
Volk, vor allem mit Drachenfliege. Aber dann fiel ihm ein,
daß sein Dorf nun verlassen war. Die Jäger waren zum
selben Zeitpunkt losgezogen wie Schwinge und er. Sie mußten
das Flußvolk längst in die Wälder geführt
haben.
Aber vielleicht war ja doch noch jemand da. Einige hatten ihre
Heimat nicht aufzugeben am Fluß bleiben wollen, koste es was
wolle.
Plötzlich blieb Lonnìl wie angewurzelt stehen.
»Was ist los?« fragte Morren. »Warum gehst du
nicht weiter?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lonnìl.
»Ich habe ein merkwürdiges Gefühl.«
»Merkwürdig? Was soll das heißen? Vor einer
Gefahr hätte Schwinge uns längst gewarnt. Ist irgend
etwas merkwürdig, Schwinge?«
Die Jägerin blieb lauschte einen Moment, dann schüttelte
sie den Kopf.
»Vermutlich ist wirklich nichts«, sagte Lonnìl.
»Ich bilde es mir nur ein.«
»Du wirst Hunger haben«, sagte Felder ein wenig
holperig. »Mir ist dann auch immer ganz flau. In der letzten
Zeit ißt du nicht mehr richtig, kann das sein? Wegen
Schwinge? Laß dir gesagt sein: Keine Frau auf der Welt ist es
wert, daß man ihretwegen auf das Mittagessen verzichtet. Vor
allem nützt es keinem von euch beiden etwas. Also Kopf
hoch!«
»Es geht schon wieder«, murmelte Lonnìl. Aber
sein Gesicht war noch immer grau und angsterfüllt. »Ich
hatte bloß so ein Gefühl … Laßt uns
weitergehen.«
Mit jedem Schritt fühlte Keil sich heimischer. In diesen Auen
war er oft spazierengegangen. Gleich mußten sie das Dorf
erreicht haben. Es lag direkt hinter diesem Wäldchen, dort wo
…
die Rauchsäule zum Himmel aufstieg.
Alle blieben stehen und starrten auf den dunklen Rauch. Keiner
sagte etwas. Dann schluchzte Lonnìl auf. Das Gesicht des
Menschen erschien grau und fahl, und ein Ausdruck
größten Entsetzens stand darin. Lonnìls Augen
blickten starr in die Ferne, aber sie schienen etwas zu sehen, das
zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, passiert war. Der
große Mann zitterte von Kopf bis Fuß.
»Nein«, flüsterte er immer wieder. »Nein.
Nein. Nein.«
»Hey, was ist los mit dir?« fragte Felder und
schüttelte ihn an der Schulter.
Lonnìl reagierte nicht. Er schien die Berührung nicht
einmal wahrzunehmen. Dann riß er plötzlich seinen Stab
hoch, brüllte: »Oban!« und rannte los. Die anderen
folgten ihm eilig.
Von den Grashütten stand keine mehr. Hier und da schwelten
die Feuer noch, aber es war nicht mehr viel übrig, das brennen
konnte. Was nicht verbrannt war, war verwüstet, dem Erdboden
gleich gemacht.
Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Laubhütten konnte
man wieder aufbauen. Doch die beiden Alifwin, die in seltsam
verrenkter Haltung am Boden lagen, würde nichts mehr ins Leben
zurückbringen. Es waren zwei alte Fischerinnen. Sie hatten
sogar ihr Volk verlassen und wie Geächtete gelebt, nur um an
ihrem geliebten Fluß bleiben zu können - nun waren sie
für ihn gestorben.
Schwinge schrie auf und stürzte sich mit ihrem Messer auf
Lonnìl, der wie versteinert in die Asche starrte. Felder
warf sich dazwischen, aber Schwinge war es in diesem Moment gleich,
welchen Menschen sie vor sich hatte. »Mörder!«
schrie sie. »Ihr habt das getan, ihr und euer Volk!
Dafür werdet ihr sterben!«
Felder versuchte der Jägerin das Messer zu entwinden.
Betrunken oder nicht, er hatte sofort erkannt, daß
Lonnìl sich niemals gegen Schwinge gewehrt hätte. In
Schwinges vor Zorn verzerrtem Gesicht stand kein Erkennen, und sie
hätte vermutlich alles angegriffen, was sich bewegte. Der
Mensch war zwar mehr als einen Kopf kleiner als seine Gegnerin,
aber kräftig, und er versuchte, beide Arme Schwinges
festzuhalten.
Keil fühlte sich, als wäre er selbst gar nicht wirklich
dabei. Er war wie gelähmt, nur ein ferner Beobachter, wie
Morren, der ein Ereignis in seiner Kugel sah. Irgendwie war ihm
alles, was geschah, egal. Jetzt war es ohnehin zu spät.
»Aufhören!« sagte Morren. Felder und Schwinge
erstarrten. »Dies ist schlimm. Es ist sogar sehr schlimm, und
wir können nichts dagegen tun. Es herrscht Krieg zwischen den
Menschen und den Alifwin. Beide Seiten haben es selbst so gewollt.
Aber wenn ihr die eigentlichen Schuldigen für diesen
Überfall sucht, müßt ihr nicht lange laufen. Es ist
eine Gruppe von jungen Männern, die ihr Lager nicht weit von
hier aufgeschlagen hat.«
Als er seinen Bann wieder löste, stieß Schwinge Felder
so weit von sich, wie sie konnte, versuchte aber nicht, ihn noch
einmal anzugreifen, sondern wischte nur angewidert ihre Ärmel
ab, wo der Mensch sie berührt hatte.
»Aber warum?« fragte Lonnìl tonlos.
»Warum haben sie das getan?«
»Zeit für das Herbstfest«, antwortete Felder. Er
rieb sich die verschwitzten Haare aus der Stirn und atmete schwer.
»Die Leute wollen sich amüsieren. Sie rotten sich
zusammen, besaufen sich, mischen ein paar Elfen auf. Sie denken
sich nichts dabei.« Schulternzuckend trank er noch einen
Schluck, obwohl er für den Tag sicher schon mehr als genug
hatte.
»Ihr Menschen denkt nie, das ist der Punkt«,
sagte Morren. »Was nun? Ich schlage vor, wir bleiben hier,
löschen das Feuer und bestatten die Leichen so, wie es in
Keils Stamm Sitte ist.«
»Nein«, sagte Schwinge. Ihre Stimme war ruhig und
vollkommen kalt. »Es ist unsere Pflicht zu rächen. Wir
töten diejenigen, die das getan haben. Alle. Das bin ich
meinem Volk schuldig - und meinen Eltern. Wenn du weißt, wo
sie ihr Lager haben, führe uns hin, Zauberer.«
Morren nickte. Wie in Trance folgte ihm Keil, aber er konnte nicht
sagen, ob sie rannten oder langsam gingen. Etwas war dabei, von ihm
Besitz zu ergreifen, aber Keil konnte nicht sagen, was es war. Er
fühlte sich nur leer. Alle Geräusche drangen
gedämpft, wie durch einen Nebel in seine Ohren. Keil biß
die Zähne fest zusammen, bis es schmerzte und er einen hohen
Ton spürte, der den Nebel vertrieb.
Die Menschen hatten sich für ihr Lager eine gute Stelle
ausgesucht: Eine flache Wiese, auf der nur ein großer Baum
stand. Früher hatten die Bauern von Keils Stamm dort ihre
Tiere gehütet, langhaarige Ziegen, aus deren Wolle ein warmer
Stoff für den Winter gewebt wurde. Aber das Gras war schon
längst wieder gewachsen. Es gab einige große Steine und
Büsche, und einige Menschen, die am Boden saßen und
sangen. Morren blieb bei einem Gehölz in sicherer Entfernung
stehen.
»Da habt ihr sie«, sagte er. »Und ich hoffe,
Schwinge, du siehst, daß es hoffnungslos wäre, sie
anzugreifen. Es sind zu viele. Sie würden dich töten,
bevor du auch nur einen von ihnen erwischst. Sie sind
gefährlicher, als sie im Moment wirken.«
Es war fraglich, ob Schwinge ihn überhaupt hörte. Ihren
Bogen griffbereit, schlich sie geduckt durch das hohe Gras auf den
Baum zu. Kein Laut war zu hören, nicht einmal ein Rascheln,
und bald war sie nicht mehr zu sehen.
Auch Lonnìl wollte sofort mit gezogenem Schwert losrennen,
aber Felder hielt ihn zurück. »Warte!« schrie er.
Es war ein Wunder, daß die Männer ihn nicht hörten
und zu ihren Waffen griffen.
Lonnìl blieb stehen und drehte sich um, sein Gesicht
wutverzerrt. »Aber wir müssen etwas tun! Sie werden
sonst noch mehr töten!«
»Ja«, sagte Felder. »Aber du hast keine Chance
gegen sie.«
»Aber ich muß -«
»Gib mir das Schwert!« befahl Felder. Seine Stimme
duldete keinen Widerstand, und es war sicher besser, jetzt keinen
Streit mit ihm anzufangen. Keil hielt den Atem an. Es waren so
viele! Aber Lonnìl würde sich nicht davon abhalten
lassen, es zu versuchen. Schwinge war inzwischen unbemerkt bei dem
großen Baum angekommen, und sie hatte schon einen Pfeil
zwischen den Zähnen, um ihm sofort anlegen zu können,
wenn sie oben war. Aber was konnte sie schon ausrichten? Es sah
hoffnungslos aus.
»Gib mir das Schwert endlich!« schrie Felder.
Lonnìl sah ihn unschlüssig an. Laut brüllend
stürzte Felder auf ihn zu, riß ihm das Schwert aus der
Hand - und griff die Menschen an. »Kommt her, ihr
Hundesöhne! Kämpft mit mir, wenn ihr euch traut, aber
laßt die Elfen in Frieden! Ich werde euch eure eigenen
Gedärme um die Ohren hauen!«
Lonnìl rannte hinterher. Kaum daß sie losliefen, kam
Leben in die Gruppe. Und schon waren beide in einem
Kampfgetümmel verschwunden.
»Bleibt stehen!« rief Morren. »Ihr lauft in euer
Verderben!« Aber niemand achtete auf ihn.
Keil stand dabei wie versteinert. Dies geschah nicht wirklich! Es
war ein Traum oder eine Illusion. Gleich würde er um die
nächste Ecke biegen, und da würde sein Dorf sein,
unversehrt und verlassen. Er mußte nur ruhig stehenbleiben,
zusehen und abwarten. In Wirklichkeit war alles so, wie es sein
mußte.
»Keil!« schrie Morren und schüttelte ihn.
»Du kannst hier nicht stehenbleiben! Träum nicht! Bring
dich in Sicherheit!« Ein Blitz schoß aus der Hand des
Zauberers in die Menge. Das Licht riß Keil aus seiner
Erstarrung. Der Nebel in seinem Kopf war wie fortgeblasen. Dies war
die Wirklichkeit. Es fand ein schrecklicher Kampf statt. Diesmal
war es Angst, die Keil lähmte. Der Zauberer schüttelte
ihn noch einmal.
»Renn, Keil! Lauf, so schnell wie du kannst! Rette die
Flöte!«
Aber Keil konnte nicht wegrennen. Es war feige zu fliehen.
»Du kannst jetzt nichts tun! Bring dich und die Flöte
in Sicherheit! Wir kommen nach, sobald der Kampf vorbei ist! Es
wird nicht lange dauern! Worauf wartest du?«
Hielten ihn alle für einen Feigling oder ein kleines Kind?
Glaubten sie vielleicht, er könnte es aushalten, daß
seine Freunde mitten in einem Kampf steckten, während er
selbst irgendwo in Sicherheit war? Keil spürte, wie seine
Angst sich langsam in große Wut verwandelte. Nein, es war
mehr als Wut - es war blanker Haß, nicht nur auf diese
Menschen, sondern auch auf alle, die ihn behandelten wie ein Kind.
So wie Morren jetzt Blitze gegen die Feinde einsetzte, hatte auch
Keil seine Magie. Er griff in seinen Beutel und holte seine
Flöte hervor.
Aber gerade als er sie an die Lippen setzen wollte, bemerkte er,
was er getan hatte. Er hatte nicht nach der Silberflöte
gegriffen. Es war die Flöte aus Eis. Keil erschrak und wollte
sie schnell wieder einstecken. Aber er konnte nicht.
Morren blickte zu ihm hinüber und bemerkte die Flöte. Er
nickte.
»Du hast dich also doch entschlossen, auf ihr zu spielen?
Gut. Hab keine Angst. Konzentriere dich. Ich verhindere im Moment,
daß sie auf dich oder mich achten. Denk nur an deine Musik
und spiele die Flöte.«
Das Instrument der Hohen fühlte sich nicht länger kalt
und tot an. Es war warm, etwas Lebendiges. Keils Hände
krampften sich um das Eis, das jetzt wie Glas aussah. Er konnte sie
nicht spielen. Er durfte es nicht.
Als Lonnìl
losstürmte, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, mit
was für einer Übermacht sie es zu tun hatten. Aber mitten
im Kampf wurde es ihm schlagartig bewußt, daß Felder
und er alleine im Getümmel steckten. Schwinge schoß aus
ihrem Versteck auf die Gegner, und Morren stand am Rand und
schleuderte Blitze und Feuer, doch die beiden Männer
kämpften allein.
Felder schlug wild mit dem Schwert um sich, als wäre ihm klar
geworden, daß er in solch einem Kampf sein Leben verlieren
konnte. Von der spielerischen Leichtigkeit, mit der er früher
gefochten hatte, war nicht mehr viel zu merken. Der Schweiß
lief dem Prinzen übers Gesicht, und er schien blind um sich zu
schlagen, erwischte mal den einen, mal den anderen Gegner. Bis
jetzt war er nicht verwundet, weil sich keiner in die Nähe
seines unberechenbaren Schwertes wagte, aber lange würde er
nicht mehr durchhalten. Doch das schien ihm egal zu sein, ebenso
wie er sich vermutlich nicht bewußt war, daß er auf der
Seite Elfen gegen die Menschen kämpfte.
Lonnìl sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Er war
zwar in besserer Verfassung, aber auch er wurde langsam müde,
und er hatte alle Hände voll damit zu tun, sich die anderen
vom Hals zu halten. Längst konnte er nicht mehr angreifen, nur
noch Schwertern ausweichen oder Schläge abfangen. Wenn sein
Stab zerbrach, war er verloren. Jetzt begriff er, warum Felder
versucht hatte, ihm den Schwertkampf beizubringen. Ein Schwert
mochte vielleicht die Waffe der Tyrannen sein, aber es war einem
Stock, ganz gleich wie hart und schwer, bei weitem
überlegen.
Der Baum … er mußte es irgendwie schaffen, zu dem
Baum dort hinüberzukommen! Zumindest seine Rückendeckung
wäre dann gewährleistet, auch wenn es die
Bewegungsfreiheit stark einschränkte. Rücken an
rücken mit Felder kämpfen - das war zu gefährlich.
Es half nichts - der Baum war seine einzige Rettung.
»Die Flöte!«
schrie Morren. »Du mußt auf der Flöte spielen,
sonst sind wir alle verloren!«
»Ich kann nicht«, flüsterte Keil. »Ich darf
nicht.«
»Du mußt! Ich kann nur mich selbst retten! Ihr werdet
alle getötet! Und dann ist auch die Flöte
verloren!«
Keil stand immer noch wie erstarrt. Die Flöte aus Eis
fühlte sich so heiß an, als wollte sie sich durch seine
Handflächen brennen, aber er konnte sie nicht einmal
fallenlassen. Sie war wie festgewachsen. In seinem Kopf erklang
eine wunderschöne fremde Melodie. Er mußte sie jetzt nur
spielen, und alle wären gerettet. Aber gleichzeitig
wußte er, daß er es nicht durfte. Wieder und wieder
formte er im Kopf die Worte der alten Bardin, um die Melodie zum
Verstummen zu bringen: Auf der Flöte spielt man nicht. Auf
der Flöte spielt man nicht. Niemand durfte es. Nicht
einmal er. Aber er konnte doch nicht zulassen, daß alle seine
Freunde getötet wurden! Egal was er tat, es war falsch. Auf
der Flöte spielt man nicht.
Schwinge schoß nicht auf
irgendwelche namenlosen Menschen, die Keils Dorf überfallen
hatten. Sie schoß auf die Mörder ihrer Eltern. Endlich
war der Tag der Rache gekommen. Sie hatten kein Recht mehr,
weiterzuleben. Die Pfeile trafen mit tödlicher Sicherheit. Sie
sah Männer getroffen zu Boden stürzen, nicht sofort tot,
aber so verwundet, daß sie bis zu ihrem sicheren Ende leiden
würden. Eigentlich hätte Schwinge jetzt so etwas wie
Genugtuung fühlen müssen. Aber sie spürte gar
nichts, außer Schuld. Ihr Verrat blieb bestehen. Wofür
hatte sie es getan? Was brachte es den Alifwin? Nichts. Keil
würde die Flöte nicht spielen. Was immer sie gegen ihn
sagen konnte - er hatte eine Willenskraft wie kaum ein zweiter. Zu
seinem Verrat, dazu, daß er ein Freund der Menschen geworden
war, würde er stehen. Dafür würde man ihn genauso
ächten wie sie. Schwinge mußte ihn anklagen, weil sie
sonst nicht selbst anklagen konnte.
Aber nicht nur Keil hatte sich mit den Menschen angefreundet. Die
Menschen waren jetzt auch seine Freunde. Da waren sie beide, und
sogar Felder kämpfte nun auf Seiten der Alifwin. Darüber
konnte sie nicht einfach hinwegsehen. Dieser Mensch hatte beim
Versuch, den Alifwin zu helfen, seinen Namen verloren und sein Volk
ins Verderben gestürzt. Und Lonnìl war ihr
bedingungslos gefolgt, immer bereit, zu helfen, und hatte niemals
eine Belohnung verlangt außer einem wenig Liebe, das sie ihm
nicht geben konnte. Sie war nicht in der Lage, Menschen zu
mögen. Nicht einmal ihn.
Vielleicht waren ihre Eltern jetzt gerächt. Aber Schwinge
konnte sich nicht darüber freuen. Sie wußte nur eines:
Daß sie so nicht weiterleben konnte.
Felder versuchte, es sich nicht
einzugestehen, aber er war am Ende. Dies war kein Spiel mehr. Es
klang vielleicht merkwürdig in den Ohren anderer Leute, aber
Felder war keine Kämpfernatur. In seinem ganzen Leben hatte er
gegen nichts gekämpft, außer gegen seine ureigene
Feindin, die Zeit. Alles andere, seine Turniere und Duelle, waren
nur Spiele, auch wenn es denen, die er getötet hatte, sicher
anders vorgekommen war. Felder war ein Spieler. Spiele waren etwas
Feines, selbst wenn man sie ab und zu verlor. Aber dies hatte
aufgehört, ein Spiel zu sein. Es waren einfach zu viele.
Natürlich kamen allerhöchstens vier auf einmal an ihn
heran, und es war nicht weiter schwer, gegen vier zu kämpfen.
Aber für jeden, den er niederstreckte, kam ein neuer nach.
Mehr als hacken konnte er jetzt nicht - und bald würde er
nicht einmal mehr das können.
Spiel bedeutete: ‘Tod für mich oder Tod für
dich’. Dies hier war anders. Dies hier war: ‘Lebt
weiter, soviel ihr wollt, oder beißt ins Gras, ganz nach
Belieben, solange zumindest ich das Ganze irgendwie
überlebe’.
Du denkst zuviel, schrie Tarnil. Wer denkt, kann nicht
kämpfen. Hör auf zu denken!<<br> - Aber ich kann
nicht aufhören!
- Dann verlierst du!
Ein Schmerz in seinem linken Arm riß Felder aus seinen
Gedanken. Es hatte ihn erwischt. Gut. Schmerz lenkte ab. Es gab
keine Gedanken mehr. Es gab nur noch eine Menge Blut - vorwiegend
das seiner Gegner. Felder biß die Zähne zusammen,
konzentrierte sich darauf, die Schmerzen zu ignorieren, wich aus
und schlug zu. Aber ihm ging die Luft aus. Von der Schulter an
abwärts wurde ihm sein Schwertarm lahm. Er war nicht im
Training. Früher hätte ihm so ein Kämpfchen nichts
ausgemacht. Aber jetzt fehlte ihm die Kraft.
Halte durch, solange es geht. Stirb ehrenvoll.
- Aber ich habe mir nie etwas aus Ehre gemacht!
- Das ist egal!
Nicht denken! Hatte er nicht einmal der beste Schwertkämpfer
der Welt werden wollen? Wo waren jetzt seine Finten? Felder
versuchte es. Mit erhobenem Schwert setzte er zu einer Drehung an,
als wolle er den Kerl zu seiner Linken köpfen, bremste jedoch
mitten in der Bewegung ab, riß die Klinge herunter und
wirbelte zurück, wobei er den völlig überrumpelten
rechten Mann mit voller Wucht traf. Dieser hatte keine
Möglichkeit mehr, zu reagieren, als ihn die Klinge der
Länge nach aufriß. Er stürzte nach hinten. Das
Manöver war geglückt, ein Gegner weg. Aber Felder war zu
sehr damit beschäftigt, sein eigenes Gleichgewicht
wiederzufinden, als daß er sich darüber hätte
freuen können. Früher einmal hatte er diesen Trick besser
als jeder andere beherrscht, doch nun riß es ihn fast selbst
von den Füßen. Vor seinen Augen drehte sich alles. Statt
den Schwung zu nutzen, sich einmal um die eigene Achse zu drehen
und nun auch den vom Schicksal seines Kameraden abgelenkten zweiten
Gegner zu erledigen, prallte er mit voller Kraft gegen den Baum.
Jeder Knochen im Leib tat ihm weh. Wenn er schon sechs Wochen und
mehr kein Schwert angerührt hatte, warum hatte er sich dann
nicht zumindest aufgewärmt? Jetzt mußte er die
Konsequenzen tragen. Er fing sich gerade noch rechtzeitig, um einem
von links oben kommenden Hieb auszuweichen. In diesem Kampf durfte
sich Felder keine gewagten Spielchen mehr erlauben.
Zwei Schritte vor, schlagen, ausweichen, Schritt nach links. Aber
da war kein Platz mehr. Überall waren Männer mit
Schwertern. Er saß fest. Ducken, schlagen, Drehung. Was war
aus diesem wundervollen Gefühl geworden, dem Nervenkitzel?
Jetzt war ihm einfach nur noch übel. Felder war zu betrunken
zum Kämpfen, und zu betrunken, um das zu merken. Tarnil hatte
ihn immer gewarnt, daß so etwas eines Tages passieren
mußte.
Deine Deckung, verdammt! Achte auf deine Deckung!
Zu spät.
»Lonnìl, paß
auf! Hinter dir!« schrie Schwinges Stimme im Baum direkt
über ihm. Er sah nach oben. Aber er durfte sich jetzt nicht
ablenken lassen - nicht einmal von Schwinge. Sonst waren sie
vielleicht alle verloren.
Schnell drehte er sich in die Richtung, die Schwinge ihm deutete.
Es war Rettung im letzten Moment. Dort stand ein grimmig
dreinblickender Mann, sein Schwert erhoben, und um ein Haar
hätte es ihn erwischt. Einzig Schwinges Warnung hatte
Lonnìl das Leben gerettet. Wie betäubt riß er dem
Stab herum und schlug zu.
Wieder hatte er das Gefühl, daß die Zeit um ihn herum
zusammenbrach. Alles geschah gleichzeitig, und alle Geräusche
vermischten sich zu einem. Felders Brüllen, das Knacken der
Zweige, der Schlag und das Krachen, als er im Herumfahren die Knie
des Angreifers traf - für Lonnìl gehörten sie alle
nur zu einem Laut: dem Schrei, den Schwinge ausstieß, als sie
direkt in das noch erhobene Schwert des zusammenbrechenden Feindes
stürzte.
Danach gab es nichts mehr. Nur noch Schwinge.
Nicht die Flöte war aus
Eis - er selber war es. Sie lebte in seinen Händen, heiß
und unglaublich mächtig, während Keil sich nicht bewegen
konnte. Selbst sein Herz schien stillzustehen, es war erstarrt, wie
alles andere. Er konnte nichts tun, nur zusehen.
Er sah, wie Schwinge direkt aus dem Baum in das Schwert zu
springen schien. Er sah sie sterben. Er sah, wie plötzlich
Morren vor ihm stand und die Hände ausstreckte, und er
hörte ihn sagen: »Närrisches Kind, wenn du es nicht
tust, dann tue ich es!« Er sah die Flöte in Morrens
Händen. Er sah die Flöte an Morrens Lippen. Aber er
konnte nichts machen.
Und Morren spielte auf der Flöte.
Er blies einen einzigen Ton, hoch, dünn und leise, aber doch
allesdurchdringend.
Im selben Moment schrie der Zauberer auf. Die Flöte entglitt
seinen Händen und fiel zu Boden, rollte noch einige Fuß
weiter, als ob eigenes Leben in ihr wohnte. Morren schrie weiter.
Es war das Schrecklichste, was Keil jemals gehört hatte.
Blutrote Flammen schlugen aus dem Körper des Zauberers,
hüllten ihn ein, während er immer noch schreiend zu Boden
stürzte. Er zuckte noch einmal. Das Feuer erstarb. Dann
herrschte Stille.
Jetzt erst kam wieder Leben in Keil. Aber anstatt zu Schwinge oder
zu Morren zu laufen, um zu sehen, ob er ihnen irgendwie noch helfen
konnte, tat er etwas anderes. Er sprang vor und ergriff die
Flöte, bevor sie noch in den falschen Händen noch mehr
Unheil anrichten konnte. Sie fühlte sich wieder so an wie
früher, kalt und leblos, nichts weiter als ein kunstvoll
geformtes Stück Eis, das nicht schmelzen wollte.
Keil blickte sich um. Die feindlichen Menschen waren verschwunden
bis auf einige, die reglos am Boden lagen. Zu Füßen des
großen Baumes hockte Lonnìl und hielt Schwinge in
seinen Armen. In einem Kreis aus verbranntem Gras lag Morren
ausgestreckt. Er sah völlig unversehrt aus, aber seine Augen
waren geschlossen, sein Gesicht weiß, und er rührte sich
nicht.
Die schreckliche Stille dauerte an, Keil konnte nicht sagen, wie
lange, bis ein Aufschrei von Felder sie zerriß.
»Morren!«
Der Mensch stolperte quer über die zertretene Wiese zu der
Stelle, wo der Zauberer lag. Er kniete nieder und schüttelte
ihn, wobei es ihm egal zu sein schien, daß er selbst stark
blutete. »Morren! Sag was! Du kannst nicht einfach sterben!
Du bist unsterblich, vergiß das nicht!« Felders Stimme
klang schrill wie die eines Kindes. »Steh auf! Rühr
dich! Wo kommen wir denn hin, wenn auch die Unsterblichen tot
umfallen? Sag doch etwas!«
»Und was«, fragte Morren, »soll ich deiner
Ansicht nach sagen?«
Felder stieß einen neuen Schrei aus. »Du
lebst!«
»Selbstverständlich lebe ich. Es heißt, wer auf
der Flöte spielt, den zerstört sie. Aber mich kann man
nicht zerstören. Der einzige, der das könnte, wäre
mein eigener Bruder, und der würde das niemals tun. Es hat
mich nur einige Überredungskraft gekostet, dies auch der
Flöte beizubringen. Was ist geschehen?«
»Ich hatte ein Gefühl, als müßte ich
entweder tot umfallen oder schreiend wegrennen. Da ich noch nie vor
etwas weggerannt bin, außer vor meiner Zukunft, habe ich mich
für das erste entschieden, während meine Gegner schreiend
wegrannten. Ich wußte nicht, daß du auf der Flöte
gespielt hast. Ich hörte einfach nur diesen Ton. Mehr
weiß ich auch nicht, außer, daß ich
plötzlich ganz allein da stand mit meinem Schwert und sah, wie
du … Aber mit dir ist alles in Ordnung?«
»Ich bin erschöpft«, murmelte Morren und setzte
sich auf. »Ich brauche etwas Ruhe. Dieser Kampf hat mich eine
Menge Kraft gekostet.«
»Kann ich dir irgendwie helfen? Ich kann zwar mit meinem
linken Arm im Moment nicht viel anfangen, aber das kann ich sonst
auch nicht, und du -«
»Laß mich in Ruhe!« sagte Morren so
schneidend, daß Felder zurückfuhr. Er zuckte die
Schultern, ließ den Zauberer am Boden sitzen und ging statt
dessen zu Lonnìl hinüber. Keil blickte ihm nach, aber
er sah seine Umgebung nur noch verschwommen, wie durch einen
Schleier von Tränen. Alles war seine Schuld.
Lonnìl hatte nichts von
dem, was mit Morren geschehen war, mitbekommen. Er kauerte am
Boden, und die Welt stand für ihn still. Es gab nur noch
Schwinge, die in seinen Armen lag. Erst als Felder an ihn herantrat
und ihm die Hand auf die Schulter legte, sah er auf. Sein Blick
fiel auf Morren, der scheinbar untätig herumsaß, und er
schrie ihn verzweifelt an.
»Tu etwas, Zauberer! Du kannst sie retten, du hast die Macht
dazu! Warum tust du nichts?«
»Das kann und darf ich nicht«, sagte Morren. »Es
ist zu spät.«
»Aber sie darf nicht sterben! Es ist nicht
gerecht!«
»Das Leben ist nicht gerecht, Lonnìl. Daran wirst du
dich gewöhnen müssen.« Die Stimme des Zauberers
klang leise und sanft. Vielleicht hätte er Schwinge retten
können, aber er mußte viel Kraft verloren haben.
Schwinges Augen waren geschlossen, ihr Gesicht entspannt, als ob
sie nur schliefe. Doch ihre Tunika war blutdurchtränkt, da, wo
das Schwert eingetreten war. Lonnìl hielt die Elfe fest an
sich gedrückt. Tränen liefen über das Gesicht des
großen Mannes.
»Nein«, sagte Felder. »Es ist gerecht. Sie ist
genau den Tod gestorben, den sie verdient hatte.«
»Wie kannst du so etwas sagen?« schrie Lonnìl.
»Sie war viel zu jung, um zu sterben!«
»Jung?« fragte Felder. »Was meinst du mit
‘jung’? Sie war mehr als dreihundert Jahre alt! Egal,
wie sehr wir uns anstrengen, wir werden doch nur einen Bruchteil
davon erreichen können. Sie hat ihr Leben gehabt, und sie ist
auf eine Art gestorben, wie man es einer Jägerin nur
wünschen kann: Schnell, und in einem Kampf.«
Seine Worte verfehlten ihr Ziel. Lonnìl sah Felder nur noch
anklagender an.
»Du hast sie nie gemocht! Ihr Tod geht dir nicht einmal
nahe. Du bist gar nicht in der Lage, um irgend jemanden zu
trauern!«
»Wenn wir um jemanden trauern, dann trauern wir doch in
Wirklichkeit nur um uns selbst, weil wir in Zukunft ohne diese
Person auskommen müssen. Der Tod ist Bestandteil unseres
Lebens. Es ist wahr, es herrschte keine Freundschaft zwischen mir
und Schwinge. Sie mochte mich nicht, und ich mochte sie nicht, aber
ich habe sie respektiert. Ich trauere nicht um sie, aber ich zolle
ihr eine letzte Ehre, indem ich sage, daß sie zumindest einen
guten Tod hatte.«
Aber es war unmöglich, Lonnìl jetzt zu trösten.
Er wollte in seinem Leid alleine sein, und Felder wußte
nicht, was er noch hätte sagen sollen. Schwinges Tod war ihm
nicht wirklich gleichgültig. Er berührte ihn nur auf
andere Weise. Um Lonnìl irgendwie seine Anteilnahme
auszudrücken, stieß Felder das Schwert neben ihm in die
Erde, als Zeichen dafür, daß es immer noch seines war.
Lonnìl merkte es nicht. Erst jetzt fiel Felder auf,
daß seine Klinge fast bis zum Heft blutverschmiert war.
Natürlich. Irgendwo mußten diese Toten schließlich
herkommen. Langsam begriff Felder, was er da gerade
überlebt hatte und weswegen ihm so übel dabei geworden
war. Plötzlich spürte er auch seine Verletzungen wieder.
Jeder Atemzug bereitete größere Schmerzen. Felder
blickte an sich herunter. Er war über und über
blutbesudelt, und er konnte sich unmöglich einreden, daß
es nur das seiner Gegner war. Fahrig, mit Händen, die
plötzlich zitterten, wand er sich aus den Resten seines
Hemdes. Wenn das Blut erst einmal geronnen war, würden alle
Wunden wieder aufreißen, sobald er versuchte, auch nur sein
Wams abzulegen. Schwinge hatte jedesmal einen Aufstand gemacht,
wenn er ohne Hemd herumlief. Aber Schwinge war tot, und
überhaupt war es Felder herzlich egal, was sie von ihm
dachte.
Keil stand reglos einige Schritt entfernt. Sein Blick war starr
auf die Flöte gerichtet, die er in seinen Händen hielt.
Felder ging zu ihn hinüber.
»Wie geht es dir?« fragte er. Es war nicht unbedingt
das, was er hatte sagen wollen, aber der Elf reagierte sowieso
nicht darauf. Felder wußte nicht, was er sonst noch
hätte tun können, und er haßte es, untätig
herumzustehen und sich nutzlos vorzukommen. Außerdem
mußte er sich irgendwie davon ablenken, daß sein Arm
blutete und pochte, und das gleiche galt für die Stelle
über seinen Rippen, wo es ihm um ein Haar die Seite
aufgerissen hatte. Am liebsten hätte er auf irgend etwas
eingedroschen, aber hier gab es nichts Geeignetes, und
außerdem gehörte das Schwert jetzt wieder Lonnìl.
Schließlich fiel sein Blick auf einen von den Männern,
die sie niedergemacht hatten. Sein Schwert lag neben ihm. Er
würde es nicht mehr brauchen. Und bestimmt hatte er noch
andere nützliche Sachen bei sich, ebenso wie seine toten
Kumpanen. Für einfache Bauern waren diese Männer
bemerkenswert gut ausgerüstet. Aber vielleicht waren es ja
auch junge Landadlige.
Seine Schmerzen ignorierend, kniete Felder sich hin und
wälzte den Toten herum. Wer ein derart feines Schwert hatte,
der besaß auch den passenden Dolch dazu. Und tatsächlich
- er trug ihn an seinem Gürtel, in einer hübsch
verzierten Scheide. Es war kein Problem, beides an sich zu nehmen,
denn offensichtlich war auch der Gürtel durchtrennt worden,
als das Schwert dem Mann den Bauch aufriß. Ein lederner
Geldbeutel, blutverschmiert, aber prall gefüllt, weswegen
Felder auch diesen an sich nahm. Ein Räuber durfte nicht
zimperlich sein. Er hatte diesen Kerl ehrenvoll im Kampf besiegt,
und nun war es sein gutes Recht, die Wertgegenstände an sich
zu nehmen. Was sollte ein Toter auch damit? Aber der wohl
erfreulichste Ausrüstungsgegenstand des Erschlagenen war seine
Feldflasche. Nicht mehr viel drin, aber es war immer noch besser
als nichts. Gierig trank er. Vielleicht hatten die anderen Toten
noch mehr. Eine Sekunde lang schoß Felder durch den Kopf, was
für einen Anblick er in diesem Moment bieten mochte, wie er
halbnackt, blutbesudelt und abgerissen die Taschen von toten
Männern ausleerte, gleich einer Krähe, die über ein
Stück Aas herfiel. Aber was sollte er jetzt noch mit einem
Gewissen? Es war sicherlich verwerflicher, diese Menschen
getötet zu haben, als sie nun auszurauben. Und in der Reihe
der Leute, die er schon umgebracht hatte, fielen sie auch nicht
weiter ins Gewicht. Felder hatte nur, wie jedesmal nach einem
Kampf, aus dem er siegreich hervorgegangen war, das dringende
Bedürfnis zu trinken. Immerhin hätte es genauso gut er
sein können, der da lag.
Gerade als er sich wieder aufrichten wollte, hörte Felder ein
leises, gurgelndes Röcheln. Der Mann war überhaupt noch
nicht tot! Einen Moment lang wurde Felder übel. Wenn bei einem
Toten die Gedärme freilagen, war das nicht weiter tragisch.
Aber bei einem Lebendem … Egal, was dieser Mann getan hatte,
als er das Elfendorf überfiel, zumindest hatte er das
Grundrecht, das Felder jedem zubilligte: Einen angenehmen,
schnellen Tod. Ohne noch länger zu zögern, zog er den
neuen Dolch aus der Scheide und durchschnitt mit einer schnellen,
glatten Bewegung die Kehle des Mannes. Das Röcheln verstummte.
Die Klinge war wirklich gut.
Felder wischte sie an einer Stelle im Gras ab, wo es noch sauber
war, denn das Blut schien hier wirklich überall zu sein, und
befestigte dann die Scheide an seinem Gürtel. Es juckte ihn in
den Fingern, nun auch das Schwert auszuprobieren, und er stand
vorsichtig auf. Bis die Wunden richtig verheilt waren, würde
er sich etwas schonen müssen, aber das war schon in Ordnung.
Das hier war kein Anderthalbhänder, sondern eine reine
Einhandwaffe, und so würde er den linken Arm in der
nächsten Zeit nicht unbedingt brauchen. Und was die andere
Stelle anging - das war nur eine Fleischwunde, ein groß
geratener Kratzer, der schlimm aussah, aber keine Folgen
außer einer weiteren interessanten Narbe mit sich bringen
würde.
Die Schmerzen in seinem Arm und seiner Seite endeten schlagartig.
Felder sah an sich hinunter und konnte einen Aufschrei knapp
verhindern. Dort, wo eben noch die frischen Wunden geklafft und
geblutet hatten, war nun nichts mehr zu sehen als unversehrte,
sonnengebräunte Haut, als hätte er sich alles nur
eingebildet. Alles, was er nun noch spürte, war der Blick des
Zauberers, und er drehte sich um, das Schwert erhoben.
»Du schaffst es jedes Mals aufs Neue, mich in Erstaunen zu
versetzen«, stellte Morren trocken fest. »Jedesmal,
wenn ich denke, du kannst nicht noch tiefer sinken, überzeugst
du mich vom Gegenteil. Nun bist du also auch noch ein Räuber
geworden.«
»Hast du was dagegen?« fragte Felder. Das Schwert lag
gut in seiner Hand, wenn es auch ein Stück kürzer und
leichter war als sein altes. »Irgendwas muß ich
schließlich tun.« Es war ein gutes Schwert. Vielleicht
würde er es eines Tages Schwert nennen. In
nächsten Moment stellte er bedauernd fest, daß Morren
ihn schon wieder nicht bloß geheilt, sondern auch
ausgenüchtert hatte. Nun waren auch die kleinsten Spuren des
Rausches weggewischt, und um ihn war nichts mehr als ein
entsetzliches Schlachtfeld, auf dem ein Gemetzel stattgefunden
hatte. In der Luft überlagerte sich der Blutgeruch mit dem
stechend süßlichen Gestank von verbranntem Fleisch. Und
Felder, der so oft dem Tod gegenübergestanden hatte, merkte,
daß er kurz davor stand, sich zu übergeben.
Der Zauberer lachte. Schwinges Tod schien ihn nicht weiter zu
berühren. Es war etwas an Morren, das Felder zuvor nicht
aufgefallen war, eine Kälte in seiner Stimme.
»Du bist wirklich sicher, daß mit dir alles in Ordnung
ist?« fragte er vorsichtig. Ihm hatte nicht viel an Schwinge
gelegen, aber der Zauberer war sein Freund, und es hatte ihm einen
merkwürdigen Stich versetzt, als er zu Boden ging. Er
hätte ihm gefehlt.
»Mir kann niemand etwas anhaben«, lachte Morren.
»Wie ich schon sagte - Unsterblichkeit hat einiges für
sich. Aber du hast Recht, Felder. Jeder bekommt den Tod, den er
verdient. Und wie ich dich so ansehe, als Räuber, Trinker und
Leichenfledderer, bezweifle ich stark, daß dein Ende so edel
sein wird wie Schwinges, noch, daß irgend jemand dann eine so
anrührende Rede halten wird wie du vorhin. Ich hatte
eigentlich immer angenommen, daß du dich eines Tages zu Tode
trinken würdest, aber ich denke nicht, daß es
überhaupt so weit kommt. Wenn du nicht gerade vorher
gehängt wirst, schneidet dir jemand in einer dunklen Gasse die
Kehle durch.«
Felder fröstelte. Er begriff nicht, warum der Zauberer das in
diesem merkwürdigen Tonfall sagen mußte. Es wäre
nicht nötig gewesen, ihm seine Sterblichkeit so direkt vor
Augen zu führen. Er wußte, was auf ihn zukam, und das
war auf jeden Fall besser, als irgendwann vor Altersschwäche
einzugehen. Morren hatte auch früher schon derartige Dinge
gesagt. Aber das war immer nur die Warnung vor einem
unrühmlichen Ende gewesen. Jetzt klang es wie eine
feststehende Tatsache.
»Du weißt es, nicht wahr?« fragte Felder und
schauderte bei dem Gedanken. »Es ist doch etwas passiert, als
du auf der Flöte gespielt hast. Du kannst jetzt in die Zukunft
sehen.«
»Nein«, sagte Morren. »Das kann niemand. Die
Zukunft hängt von den Handlungen einzelner ab. Deine auch.
Aber du hast nicht mehr lange zu leben, wenn du dich nicht
änderst. Und du wirst dich nicht mehr ändern.«
Felder überlegte einen Moment lang. Dann nickte er.
»Nein. Das werde ich wirklich nicht.«
Sie bestatteten Schwinge
zusammen mit den beiden toten Elfen so, wie es in Keils Stamm
Gebrauch war: Auf dem Fluß. Morren hatte vorgeschlagen, die
toten Elfen zusammen mit den im Kampf getöteten Männern
zu verbrennen, aber das kam nicht in Frage.
»Es würde bedeuten, sie zu entweihen«, sagte
Keil. »Es ist schon schlimm genug, daß ich nicht
weiß, was ihr Volk mit seinen Toten macht.«
Lonnìl dachte an den Tag, an dem er ganz allein seine
Familie begraben hatte. Es war niemand dagewesen um ihm zu helfen.
Jetzt war es Keil, der die Schilfboote baute, auch wenn die anderem
ihm ihre Hilfe anboten. Dies war etwas, das nur er tun konnte. Sie
hätte niemals gewollt, daß sie von Menschen begraben
wurde. Lonnìl respektierte diesen letzten Wunsch, aber es
machte den Umgang mit Schwinges Tod nur noch schwerer,
verstärkte seine Schuldgefühle. Sie war gestorben, indem
sie ihm das Leben rettete, so als ob sie ihn im letzten Moment
ihres Lebens freigesprochen hätte von ihrem Haß.
Vielleicht war sie wirklich nicht in der Lage gewesen, ihn zu
lieben. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nicht damit leben
können, daß sie es doch tat. Sie würden es nie
erfahren.
Als seine Familie starb, hatte Lonnìl das Gefühl
gehabt, daß auch ein Teil von ihm gestorben war. Nun war mit
Schwinge ein weiteres Stück gestorben. Und der einzige, mit
dem er seinen Schmerz teilen konnte, war Keil. Felder konnte nichts
weiter, als den Tod zu einem alltäglichen Bestandteil des
Lebens herunterzuspielen, und Morren … Lonnìl
versuchte, sich nicht vorzustellen, was Morren wohl denken
mochte.
»Ich möchte, daß ihr dabei seid«, sagte
Keil. »Ihr seid zwar Menschen, aber ihr wart ihre Freunde,
auch wenn sie das nicht wahrhaben wollte.« Er hatte sich doch
von Morren mit den drei Booten helfen lassen. Allein wäre er
niemals damit fertig geworden.
»Ihr legt eure Toten einfach in ein Boot und laßt sie
auf dem Fluß schwimmen?« fragte Felder, der die
Vorbereitungen mit ungerührtem Interesse verfolgt hatte.
»Aber was ist, wenn sie an Land getrieben werden?«
»Sie werden nicht an Land getrieben«, antwortete Keil.
»Unser ganzes Leben lang nehmen wir vom Fluß. Nun
bekommt er seinen Anteil zurück. Niemand weiß, was er
damit macht. Es genügt, wenn der Fluß es
weiß.«
»Gruselig«, sagte Felder. »Tote Elfen, vom
Fluß verschlungen.« Sein einziges Eingeständnis an
das traurige Ereignis hatte darin bestanden, sich zu besaufen.
»Was, glaubt ihr, passiert mit euch, wenn ihr sterbt? Ist
Schwinge in die ewigen Jagdgründe eingegangen?«
»Ich kann es nicht erklären«, antwortete Keil
nach einer Weile. »Wir sprechen nicht darüber. Wenn
Alifwin sterben, bedeutet das, daß sie eins werden mit der
Unendlichkeit. Das einzige, was sie dahin mitnehmen, ist ihr Name,
während die Seele zurückkehrt zur Natur, aus der sie
gekommen ist.«
»Das leuchtet mir irgendwie ein«, murmelte Felder.
»Wenn Menschen sterben, sind sie einfach nur tot. Es
heißt, daß man nach seinem Tod die Götter trifft,
aber das wage ich zu bezweifeln. Die Götter haben besseres zu
tun, als Audienzen für tote Kerle zu halten. Dafür gibt
es zu viele. Tote, meine ich, nicht Götter. Das einzige, was
ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist das unsere Körper
verrotten. Keine angenehme Vorstellung, beim besten Willen nicht.
Dann doch lieber Boote, die im Nichts verschwinden.«
Lonnìl fragte sich, warum Keil solchen Wert auf Felders
Anwesenheit legte. Die betrunkenen Zwischenbemerkungen des Prinzen
verhöhnten die Trauer. Er gab vor, den Tod als Teil des Lebens
hinzunehmen, aber in Wirklichkeit war er nur zu feige, um ihm
nüchtern gegenüberzutreten. Lonnìl versuchte, ihn
zu ignorieren.
Schwinges Haar umfloß ihr Gesicht wie geschmolzenes Gold.
Lonnìl würde niemals vergessen, wie grün ihre
Augen waren und wie traurig sie ausgesehen hatten, als er sie zum
ersten Mal traf. Jetzt war ihr Gesicht entspannt, der bittere Zug
um ihren Mund verschwunden, und es sah fast so aus, als ob sie
lächelte. Als Keil sie auf das Boot bettete, trug sie immer
noch das blutdurchtränkte grüne Gewand, in dem sie
gestorben war. Er legte ihr ihren Bogen unter die überkreuzten
Arme, so daß man sie im Tod noch als Jägerin erkennen
konnte. Zu ihren Füßen lag der Dolch eines
getöteten Mannes neben dem abgebrochenen, bis zu den Federn
blutgetränkten Schaft eines Pfeiles. Lonnìl hoffte,
daß ihre Eltern jetzt endlich gerächt waren, auch wenn
ihre eigentlichen Mörder seit über hundert Jahren tot
sein mußten.
Es war eine große Würde in der Art, wie Schwinge auf
dem Boot lag. Selbst wenn die Sitten in ihrem Volk vollkommen
anders waren, konnte sie doch keine bessere Bestattung bekommen.
Lonnìl schluckte, als sie die Boote ins Wasser schoben.
Weinen konnte er nicht mehr. Es gab nicht genug Tränen auf der
Welt, um das Leid auszudrücken, das er in sich
spürte.
Langsam glitten die drei Boote den Fluß hinab, während
über den Wassern ein Nebel aufstieg. Die untergehende
Abendsonne tauchte alles in ein blutrotes Licht, und es sah fast so
aus, als stünde der Fluß in Flammen.
Dann begann Keil zu singen. Lonnìl mußte nicht die
Elfensprache verstehen können, um zu wissen, daß es sich
dabei um eine Totenklage handelte. Es war das Lied für eine
große Kämpferin, die gestorben war. Die hohe, klare
Stimme des Elfen hatte etwas Unwirkliches an sich, und
Lonnìl konnte die Bedeutung der Worte spüren. Keil sang
nicht nur von Schwinge, sondern auch von den zwei Elfen, die
ermordet worden waren und deren Tod sie gerächt hatte. Die
Melodie war sehr traurig, aber voller Hoffnung. Es war das
schönste Lied, das Lonnìl jemals gehört hatte.
Schwinge war gestorben, aber sie würde niemals vergessen
sein.
Nach einiger Zeit fiel auch Felder in den Gesang ein.
Zunächst summte er nur die Melodie mit, aber dann begann er
selbst mit seiner dunklen, volltönenden Stimme zu singen. Sein
Lied handelte nicht von Schlachten und Tapferkeit, und es war nicht
direkt an Schwinge gerichtet, sondern an alle Leute, die dem Tod
gegenüber standen:
»Leg sachte dich zur
langen Ruhe nicht:
Kämpf’, kämpfe wenn die Nacht verschlingt das
Licht!«
Vielleicht hatte Felder Schwinge nicht gemocht, aber dennoch hatte
er sie verstanden, besser als Lonnìl es jemals gekonnt
hätte.
Lange standen die vier Männer noch am Ufer und sahen den
Fluß hinab, auch, nachdem die Boote längst in
Dämmerung und Nebel verschwunden waren.
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