For nought is left worth
looking at since my delightful land is gone.
Christina Rosetti
Thoria gab es nicht mehr. Vor
ihnen erstreckte sich ein düsteres Ödland. Wenige kahle
Büsche und abgestorbene Bäume reckten ihre Arme durch die
dichten Nebelschwaden. Obwohl es bereits Mittag sein mußte,
gelang es keinem Sonnenstrahl, das Land über den
Dämmerzustand hinaus zu erhellen. Aber am Unheimlichsten war
die vollkommene Stille. Kein Vogel, kein Tier, kein Windhauch gab
einen Laut von sich. Thoria war tot.
»Irgendwie sehe ich keinen Unterschied zu
früher«, sagte Felder. »Thoria war immer schon
öde«. Es sollte wohl munter klingen, aber er konnte
nicht verbergen, daß seine Stimme zitterte, und seine
Hände hatten sich zu so verkrampften Fäusten geballt,
daß die Knöchel weiß wurden. Er lachte schrill und
hysterisch.
Lonnìl wußte nicht, was er ihm hätte sagen
können, und so legte er ihm nur seine Hand auf die Schulter.
Aber Felder schüttelte sie ab und ging in die Knie. Es war
nicht ganz zu erkennen, was er am Boden tat, aber es sah so aus,
als risse er tote Grashalme aus. Er sagte nichts, und er lachte
auch nicht mehr.
»Die Dunklen haben nichts übrig gelassen«, sagte
Schwinge traurig. »Es sieht so aus, als hätten sie
Thoria gegen ein Stück ihrer Welt eingetauscht.«
»Ihre eigene Welt ist das Nichts«, sagte Morren mit
seiner ruhigen Stimme, die keinerlei Gefühlsregung verriet.
»Thoria ist immer noch mehr als Nichts. Ich denke, es ist
eine Art Zwischenwelt geworden, eine Verbindung zwischen unserer
Welt und dem Dunklen Reich.«
»Wenn man nicht weiß, was es ist, könnte man es
für ein Moor halten«, meinte Keil. »Und bestimmt
wird eines Tages hier wieder neues Leben wachsen können. Mach
dir keine Vorwürfe, Felder. Es war nicht deine
Schuld.«
»Ich weiß, daß es nicht meine Schuld war!«
fauchte Felder. »Aber für was haltet ihr mich? Glaubt
ihr, nur weil ich ein fröhlicher Mensch bin, kann ich kein
Leid empfinden? Mir hat nie viel an Thoria gelegen, und ich habe es
nicht besonders gemocht, aber es war meine Heimat! Wenn ihr in
euren Wald zurückkämet, und er wäre niedergebrannt,
würdet ihr dann ein Jubelfest veranstalten wollen? Der
König, der gestorben ist, war immerhin mein Vater, und ich
hatte hier Freunde, und …« Er brach ab und ließ
sich ganz zu Boden sacken.
»Es erscheint alles so sinnlos«, murmelte
Lonnìl bedrückt. »Ein fruchtbares Land, von einem
Volk in Jahrhunderten besiedelt, und nun … nichts mehr, als
hätte es hier nie etwas gegeben. Aber wo sind die Thorianer?
Die Dunklen sagten doch, sie hätten die Leute
zurückgeschickt!«
»Sie haben mich betrogen«, sagte Felder bitter.
»Von Anfang bis Ende.« Er vergrub das Gesicht in den
Händen und machte keine Anstalten, wieder aufzustehen.
»Es hilft alles nicht«, sagte Morren. »Wir
müssen hindurch. Du kannst doch kaum hierbleiben wollen,
Felder? Möchtest du vielleicht vorher noch etwas
trinken?«
Felder schüttelte den Kopf. »Nein. Dieser Anblick ist
kein Grund, um sich ein bißchen zu betrinken. Er ist vielmehr
ein Grund, um sich vollkommen zu betrinken, und das werde
ich ganz sicher nicht tun, solange ich mich noch in Reichweite der
Dunklen befinde, abgesehen davon, daß meine Vorräte
nicht ausreichen würden. Wenn wir aus diesem Moor heraus sind,
werde ich eine Pause bei einem Bauern einlegen und mich eindecken.
Solange muß ich es wohl noch aushalten.«
»Ich wußte nicht, daß du deine Besäufnisse
immer so genau planst«, sagte Morren. Sein spöttischer
Tonfall klang herzlos, war aber vielleicht das Beste, um Felder
wieder aufzurichten.
»In Notsituationen sollte man immer überlegt handeln.
Und ich denke, dies ist eine ausreichende Notsituation. Bis es
soweit ist, werde ich versuchen, Haltung und Fassung zu bewahren.
Und ich trommle mein Volk zusammen, damit wir gemeinsam Thoria aus
den … Händen will ich es nicht direkt nennen …
der Dunklen befreien.«
»Ich wußte nicht, daß du das vorhattest«,
sagte Lonnìl erstaunt. »Ich dachte, du hättest
Thoria aufgegeben.«
»Du konntest es auch nicht wissen. Ich habe es gerade erst
beschlossen. Frag nicht, wieso. Vermutlich irgendein letztes
Pflichtgefühl meinen Leuten gegenüber. Ich habe niemals
Herrscher werden wollen, aber ich tue, was ich
muß.«
»Also bist du jetzt soweit?« fragte Schwinge.
»Wir können losgehen?«
Felder, der wohl doch nicht so zuversichtlich war, wie er sich
gab, schluckte. Dann nickte er. »Ich denke schon. Es ist in
Ordnung, solange ich nicht daran denke, daß es Thoria war. Es
ist einfach nur ein Moor. Und vor Mooren habe ich mich noch nie
gegraust.«
Doch es war unmöglich, in diesen ‘Mooren’ seine
Zuversicht zu behalten. Der Nebel verschluckte sie wie ein kalter
Mund und legte sich um sie, wie ein klammer Mantel. Es war, als
müßten sie gegen einen Widerstand anlaufen. Thoria
ließ sie nur ungern passieren.
Auch ihre Gespräche verebbten nach einiger Zeit. Der Nebel
erstickte das, was sie sagten, und Lonnìl konnte nie sicher
sein, ob er nun Keils Antwort nicht gehört oder dieser seine
Frage gar nicht erst verstanden hatte. Um Felder war es sowieso
still geworden, als sie in den Nebel traten. Zwar versuchte er, es
zu überspielen, aber es gelang ihm nicht besonders gut, seine
Verzweiflung zu verbergen. Lonnìl konnte ihn verstehen, Er
hatte auch nicht erwartet, daß das Land so vollständig
ausgelöscht war. Vielleicht hatte Felder nur aus diesem Grund
immer den Anschein erweckt, als mache ihm der Verlust gar nichts
aus. Erst angesichts der Ödnis konnte er begreifen, was
passiert war. Felder war jemand, der sich wenig um Konsequenzen
scherte. Wenn ein Leben vorbei war, dann war es vorbei. Und wenn
sein Land verloren ging, dann ging es eben verloren. Bis er es dann
am eigenen Leib erleben durfte.
Sie hielten einander bei den Händen, um zusammenzubleiben.
Lonnìl hätte gerne Schwinge geführt, um sie vor
möglichen Gefahren zu beschützen, aber er war am
äußeren Rand der Kette gelandet, und die einzige Person,
die er festhielt, war Felder. Dessen Hand hatte sich so fest um
seine gekrallt, als wolle er ihm sämtliche Knochen brechen.
Auf der anderen Seite wurde Felder von Morren gehalten, und
Lonnìl hoffte, daß der einen beruhigenden
Einfluß auf den Prinzen ausüben würde. In
Anbetracht der Lage hielt er sich tatsächlich ausgesprochen
gut.
Der Nebel war inzwischen so dicht, daß Lonnìl nicht
einmal mehr seine eigenen Hände sehen konnte, und ihm grauste
vor dem, was sich hinter den undurchdringlichen Schleiern verbergen
mochte. Vermutlich war es sogar besser, daß sie es nicht
sehen konnten. Aber am schlimmsten war die Stille. Nach und nach
löschte sie alle Geräusche aus. Langsam befiel
Lonnìl das Gefühl, vollkommen allein und verlassen zu
sein. Die anderen waren verschwunden. Der Nebel hatte sie
verschluckt, so wie er alles Leben verschluckte. Lonnìl
hörte nicht einmal mehr die Geräusche, die er selbst
machen mußte - seinen Atem, das leise Rascheln seiner
Kleidung, seine Schritte auf dem unebenen Boden. Der letzte
Strohhalm, an dem er sich festhalten konnte, um nicht völlig
den Kontakt zu verlieren, war Felders Hand, die seine immer noch
umklammert hielt. Aber auch sie war kalt, wie alles ringsumher, und
Lonnìl hatte fast vergessen, daß sie zu einem lebenden
Menschen gehörte. Immer wieder mußte er sich ins
Gedächtnis rufen, daß seine Freunde noch da waren. Eine
solche Einsamkeit überkam ihn, daß er meinte, sich nicht
mehr rühren zu können.
Lonnìl rief nach Felder und den anderen. Aber obwohl er die
Worte auf seiner Zunge spürte, konnte nicht einmal er selbst
sie hören. In verzweifelter Panik griff er fester nach der
Hand, um Felder zu sich hinüberzuziehen.
Aber er war nicht mehr Felders Hand. Es waren Knochen.
Lonnìl schrie, ohne daß ein Laut über seine
Lippen kam, und riß sich aus dem kalten Griff los. Im
nächsten Moment war er wirklich allein. Um ihn herum war
nichts als Nebel.
Keil hörte Lonnìl
schreien. Es klang, als sei der Mensch auf eine Gefahr
gestoßen, aber danach war nichts mehr von ihm zu
hören.
»Lonnìl? Was ist los?« rief Keil, doch er bekam
keine Antwort. »Wo bist du, Lonnìl?«
Morren blieb stehen. Der Zauberer ging in der Mitte der Kette,
damit sein Licht für alle zu sehen war. Aber er konnte nicht
weit durch den Nebel leuchten. Es sah so aus, als hielte er eine
Kugel aus Licht auf seiner Hand, von der aber nichts an die
Außenwelt drang. Keil fragte sich, ob das Licht vielleicht
nur für Morren und ihn, der an seiner Seite ging, sichtbar
war. Er hielt Schwinges Hand fest, damit auch sie stehenblieb.
»Ich glaube, wir haben Lonnìl verloren«, sagte
Morren. »Was ist mit ihm passiert, Felder?«
»Ich weiß es nicht«, erklang die Stimme des
Menschen undeutlich durch den Nebel. »Er war immer an meiner
Seite, und plötzlich schrie er und riß sich los. Ich
muß gestehen, ich habe nicht sehr darauf geachtet. Ich war
mit meinen Gedanken woanders.«
»Wir müssen aufeinander aufpassen!« fuhr Morren
ihn an. »Jetzt müssen wir zusehen, wie wir ihn
wiederfinden, und das ist im Nebel so gut wie
unmöglich.«
»Kannst du denn nicht in deiner Kugel finden? Du siehst doch
sonst alles!« schrie Felder. »Wozu bist du sonst ein
Zauberer? Und warum läßt du nicht den Nebel einfach
verschwinden?«
»Ich habe es bereits versucht. Aber ich kann nicht.«
Die Stimme des Zauberers klang gereizt. Nun war er schon zum
dritten Mal an seine Grenzen gestoßen, und das mußte
schlimmer an ihm nagen als das tote Land. »Und selbst, wenn
ich ihn in meiner Kugel sähe, würde uns der Anblick von
Lonnìl, der durch der Nebel tappt, nicht weiterhelfen. Wir
wüßten immer noch nicht, wo er ist.«
»Wie kannst du das wissen, wenn du es noch nicht einmal
probiert hast?« rief Felder mit schriller Stimme.
»Lonnìl kann doch nicht einfach verschwinden und mich
hier zurücklassen! Nimm deine Kugel, Morren!«
»Also gut«, sagte Morren. »Ich will es
versuchen. Aber das bedeutet, daß ich dich loslassen
muß, Felder.«
»Das ist egal! Ich kann auf mich selbst aufpassen. Aber
finde Lonnìl.«
Morren seufzte und griff nach seiner Kugel, während seine
andere Hand weiterhin Licht verbreitete. Keil, der seinen Arm nicht
loszulassen wagte, sah beinahe fasziniert zu, wie die Kristall- und
die Lichtkugel miteinander zu verschmolzen. Nun schien das Licht
direkt aus der Kugel zu kommen.
»Ich kann ihn nicht finden«, sagte Morren nach einiger
Zeit. »Meine Kugel ist voller Nebel. Aber ich habe es
zumindest versucht, Felder … Felder?«
»Sag nicht, daß wir ihn auch noch verloren
haben!« rief Schwinge ärgerlich und zugleich
erschrocken. »Und wie sollen wir jemals hier herausfinden?
Dieser Nebel ist nicht natürlich!«
»Felder ist verschwunden«, bestätigte Morren.
»Und wenn wir uns loslassen, verlieren wir uns auch noch. Es
sind die Dunklen, vermute ich. Sie wollen uns trennen. Und ich
weiß nicht, was wir dagegen tun können.«
Aber Keil wußte, daß es noch eine Möglichkeit
gab. Er mußte es versuchen.
»Ich werde Lonnìl rufen, und du mußt mir
helfen, Schwinge. Ich kann meine Flöte nicht benutzen, ohne
euch loszulassen, und dann wären wir alle verloren. Aber wir
können es mit Singen schaffen, zusammen. Ich weiß,
daß du sonst niemals vor anderen singst. Wirst du es
tun?«
»Ich soll für einen Menschen singen? Das kannst du
nicht von mir verlangen!« rief Schwinge aufgebracht.
»Doch, das kann ich!« sagte Keil ärgerlich.
»Es wird langsam Zeit, daß du aufhörst, dich
derartig aufzuführen! Lonnìl ist unser Freund und ein
angenehmerer Reisegenosse als du! Er hat dir schon mehr als einmal
geholfen, und es wird Zeit, daß du einmal etwas für ihn
tust. Du mußt nicht weiter tun, als seinen Namen
auszusprechen.«
»Ich kenne seinen Namen nicht. Ich bin eine Jägerin,
kein Barde.«
»Du hast die Magie, genau wie ich! Das ist es, was uns von
den Menschen unterscheidet! Willst du nun tun, als hättest du
auch keine? Wenn ich dir seinen Namen sage - wirst du es
tun?«
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Schwinge. Keil
hätte nicht erwartet, daß sie derart halsstarrig sein
konnte. Sie ging zu weit in ihrem Haß und ihrer
Rachsucht.
»Dann werde ich es allein versuchen«, sagte er.
»Und ich werde dich loslassen, damit dir das gleiche passiert
wie Lonnìl und Felder. Aber ich werde dir nicht helfen,
jemals wieder aus Thoria herauszufinden.«
»Du läßt mir keine Wahl!« flüsterte
Schwinge wütend. »Sein Name?«
»Du kennst seinen Namen«, sagte Keil. »Er
heißt Clòn Lonnìl Dhub.«
Sie sangen gemeinsam Lonnìls Namen, damit er zu ihnen
zurückfinden konnte. Schwinge benutzte dieses Lied selbst
manchmal, um Wild anzulocken. Sie durfte also nicht so tun, als ob
sie es nicht kannte. Nun konnten sie nur noch hoffen, daß
Lonnìl es durch den Nebel hindurch hören konnte.
Darüber, wie sie Felder ohne Namen aufspüren sollten,
versuchte Keil sich lieber keine Gedanken zu machen. Erst einmal
mußten sie Lonnìl wiederfinden. Aber wenn er seinen
Namen hörte, mußte er zu ihnen kommen. Und so sangen sie
immer: Clòn Lonnìl Dhub, komm zu uns! Wir sind
hier, und wir warten auf dich.
Lonnìl hörte sie. Zunächst leise, dann immer
lauter drang sein Rufen durch den Nebel, mit dem eine
Veränderung vorging: Je länger sie sangen und je
näher ihnen Lonnìl kam, desto klarer wurde die Sicht.
Zwar hing noch immer eine naßkalte Wolke über Thoria,
aber nun war sie nicht mehr undurchdringlich. Die Umrisse der toten
Bäume waren selbst in mehr als einem Dutzend Schritt
Entfernung wieder zu erkennen und ebenso die dunkle Gestalt
Lonnìls, der langsam auf sie zu kam. Es schien fast, als
würde der Gesang der Alifwin den Nebel besänftigen oder
ihn zurückweichen lassen.
»Ihr habt es geschafft!« rief Morren, als
Lonnìl sicher wieder bei ihnen angekommen war. »Und
jetzt dürfte es auch nicht mehr so schwer sein, unseren Freund
Felder wiederzufinden.«
Keil wagte nicht, das Singen abzubrechen, aus Angst, der Nebel
könne sich wieder verdichten. Aber Schwinge verstummte, kaum
daß Lonnìls Umrisse zu erkennen waren. Ihre Hand war
kalt vor Wut, und Keil befürchtete, daß es lange dauern
würde, bis sie ihm verzieh.
Eigentlich war es ja auch merkwürdig, daß ein
unnatürlicher Nebel ausgerechnet auf den Namen eines Menschen
reagieren sollte. Vielleicht war es auch nur ein Zufall, oder der
Gesang selbst - vielleicht hätte jedes andere Lied die gleich
verblüffende Wirkung gezeigt. Trotzdem ließ Keil es
lieber nicht darauf ankommen.
»Ich bin so froh, euch wiedergefunden zu haben!« sagte
Lonnìl. »Es war furchtbar! Ich habe geglaubt, ich
wäre ganz alleine, und Felder … wo ist
Felder?«
»Verschwunden«, sagte Morren kurz. »Aber er wird
wieder auftauchen.«
»Jedenfalls bin ich blind durch den Nebel geirrt«,
fuhr Lonnìl fort, »und ich konnte nicht einmal meinen
eigenen Atem hören, aber dann … es ist merkwürdig.
Plötzlich war da euer seltsamer Gesang, und ich wußte
genau, wohin ich meine Füße setzen mußte, um zu
euch zurückzufinden. Es ist Magie, nicht wahr? Wie habt ihr
das gemacht?«
»Wir haben dich bei deinem Namen gerufen«,
erklärte Schwinge geringschätzig. »Du konntest
nicht anders, als zu kommen.«
»Mein Name? Aber wie … Wie habt ihr mich
genannt?«
»Du bist Clòn Lonnìl Dhub«, sagte
Morren. »Und du tust gut daran es, es niemals zu vergessen.
Aber wenn du jemand anderem diesen Namen sagst, kann er damit Macht
über dich ausüben, wenn er weiß, wie. Behalte ihn
für dich.«
»Aber ihr wißt meinen Namen. Und ihr könnt damit
umgehen. Bedeutet das, daß ich jetzt in eurer Gewalt bin?
Habt ihr Macht über mich?«
Keil hörte auf zu singen. »Wir könnten es«,
sagte er. »Aber ich verspreche dir, daß wir sie niemals
gegen dich einsetzen werden. Ich möchte keine Macht haben
über meine Freunde.«
Trotzdem wich Lonnìl zurück. Ihm war anzusehen,
daß er Angst bekommen hatte vor der Macht der Alifwin, und
Keil fürchtete, daß Schwinge auf die Idee kommen
könnte, diese Angst auszunutzen, wenn sie nicht
tatsächlich Gebrauch von Lonnìls Namen machen
würde. Wenn sie wollte, konnte sie den Menschen jetzt dazu
bringen, die Gefährten zu verlassen und ihr nicht weiter zu
folgen. Keil mußte sie im Auge behalten. Was er früher
niemals für möglich gehalten hätte, war passiert. Er
war bereit, für einen Menschen Partei gegen die Alifwin zu
ergreifen. Und doch fühlte er sich nicht als
Verräter.
Sie stolperten mehr über
Felder, als daß sie ihn fanden. Er kauerte am Boden, ein
kleines, verlorenes Häuflein Mensch, und im ersten Moment
glaubte Lonnìl, so etwas wie das Wimmern eines kleinen
Kindes gehört zu haben. Aber als der Thorianer dann aufstand
und Lonnìl freundschaftlich gegen die Schulter boxte, wirkte
er ganz ruhig und gefaßt.
»Ich dachte, ich könnte dich suchen gehen«,
erklärte er. »Aber der Nebel war dichter, als ich
gedacht hatte, und da habe ich etwas die Orientierung verloren.
Darum habe ich mich einfach mal darauf verlassen, daß ihr
mich schon irgendwann findet würdet. Ich bin wirklich froh,
wenn wir aus diesem Moor wieder raus sind.«
»Es ist kein Moor, auch wenn du versuchst, dir das
einzureden«, sagte Morren. »Es ist das Land, das einmal
deine Heimat war, und du solltest aufhören, dich selber zu
belügen.«
»Und was bringt es, wenn ich sage, daß es einmal
Thoria war? Wem sollte ich erklären, daß dies alles
meine Schuld wäre? Mein Volk ist verschwunden. Wenn ich auf
Überlebende träfe, dann würde ich dafür sorgen,
daß Thoria befreit wird, auch wenn ich allein in die
Unterwelt hinabsteigen müßte. Aber so, wie es jetzt ist,
fällt mir der Aufenthalt hier bedeutend leichter, wenn ich
sage, daß es nicht Thoria ist.
Plötzlich mußte Lonnìl an den Tag denken, an dem
er Felder kennengelernt hatte: Wie er sich Stück für
Stück aus seiner Verkleidung geschält und zu guter Letzt
die Augenklappe abgenommen hatte, um das zu zeigen, was er in
Wirklichkeit war. Jetzt erst begriff Lonnìl, daß
Felder die ganze Zeit noch eine Maske getragen hatte, die er
niemals abnahm. Und selbst wenn er es täte, käme darunter
vermutlich nur wieder eine weitere Maske zum Vorschein. Aber hier,
in den Mooren von Thoria, hatten all diese Schichten Risse
bekommen, und es schimmerte das hindurch, was vielleicht der wahre
Felder war: Ein hilfloser, einsamer kleiner Junge.
»Es ist nicht länger nötig, dich zu verstellen,
Felder«, sagte Lonnìl leise. »Wir wissen jetzt
alle, wie du in Wahrheit aussiehst. Du kannst uns ruhig dein
Gesicht zeigen.«
Verächtlich begann Felder zu lachen. »Wer bist du,
daß du glaubst, die Welt dreht sich nur um dich? Glaubst du
vielleicht, ich würde mich euretwegen verstellen? Nein,
Morren hat das schon ganz richtig erkannt. Ich mache das alles nur
für mich. Wenn es um euch ginge - ich weiß, daß es
zwecklos wäre zu glauben, daß die Elfen nicht geradewegs
durch mich hindurchschauen könnten. Aber ich kann es nicht,
und ich will es überhaupt nicht. Ich könnte anfangen,
mich zu entblättern, eine Hülle nach der anderen
fallenlassen, und darunter wäre gar nichts mehr. Seit ich
beschlossen habe, Felder zu werden, bestehe ich nur noch aus
Hüllen. Und ich möchte nicht wissen, wieviel von mir noch
übrig ist, seit wir bei den Dunklen waren. Deswegen ist es
auch hier besonders schlimm, und es fällt mir ziemlich schwer,
meine Täuschung aufrechtzuerhalten, nicht nur, weil dies meine
Heimat war, sondern auch, weil dies jetzt das Gebiet der Dunklen
ist und ich verdammt aufpassen muß, alle meine Sinne
beisammen zu halten. Das bedeutet, daß ich es nicht wagen
kann, auch nur einen Schluck zu trinken. Und das wiederum bedeutet,
daß ich früher oder später anfange zu denken. Hast
du das verstanden, Lonnìl? Laßt mich einfach sein, was
ich sein will. Ich habe Thoria vor Jahren aufgegeben, weil ich hier
immer nur als Prinz gesehen wurde. Und ich habe nie ein Prinz sein
wollen. Die ganze Zeit höre ich dich reden über
unfähige Herrscher und daß man sie alle töten
sollte, und dabei weiß ich genau, daß ich den
unfähigsten Herrscher von allen abgegeben hätte. Und es
gab für mich keine Möglichkeit, dem zu entkommen,
außer meinen eigenen Tod. Dann stellte sich heraus, daß
es noch eine andere Möglichkeit gab, und daß ich sie
ohne es zu wissen genutzt hatte. Kannst du dir vorstellen, wie
froh ich war, Thoria loszusein? Und jetzt stehe ich hier und
sehe, auf was ich mich in Wirklichkeit eingelassen habe. Laßt
uns schnell weitergehen. Es denkt bereits in mir, und ich
möchte hier raus sein, bevor es schlimmer wird.«
Sie ließen Felder reden, während sie sich langsam durch
den Nebel, der immer noch dicht genug war, vorwärtsarbeiteten.
Das, was er jetzt erzählte, unterschied sich stark von seinem
üblichen Gerede. Langsam baute sich vor Lonnìl das Bild
eines kleinen Jungen in einer großen Burg auf. Seine Mutter
war schon lange tot, und sein Vater »kümmerte sich einen
Dreck« um ihn, wie Felder es ausdrückte. Aber da waren
Bedienstete, die für ihn sorgten, und der Junge war schlau und
merkte schnell, daß sie alles taten, was er wollte. Er
genoß diese Macht eine Zeitlang, aber dann wurde sie ihm
langweilig, und er merkte, daß er im Grunde seines Herzens
einsam war.
»Das ist nicht wahr«, sagte Felder. »Ich bin
niemals einsam gewesen. Ich hatte Unmengen an Freunden, die besten,
die man sich kaufen konnte, und ich hatte eine Menge Spaß mit
ihnen. Ich habe im Leben immer nur ein einziges wirkliches Problem
gehabt.«
»Daß du ein Prinz warst?« fragte Lonnìl.
»Daß man Dinge von dir erwartete, von denen du
wußtest, daß du sie nicht konntest?«
»Nein«, antwortete Felder. »Das war das weitaus
kleinere Übel, oder es resultierte aus dem ersten. Mein
Problem ist, daß ich, wann immer ich lange an einer Stelle
bin und mir die Abwechslung und Gefahr fehlt - oder ich vollkommen
nüchtern bin, so wie jetzt - anfange, mir Gedanken zu machen
über die wirklich ernsten Dinge. Du glaubst vielleicht, du
bist unglücklich, weil du verliebt bist, Lonnìl, aber
ob du sie nun bekommst oder nicht ist gleichgültig in
Anbetracht einer Tatsache: Egal, was du machst, egal, wie du lebst,
eines Tages stirbst du. Und dann ist es egal, wie lang dein Leben
gedauert hat. Dann bist du einfach nur tot. Die Zeit ist das
größte Problem, das man haben kann, glaub mir.
Verglichen mit ihr gibt es nichts, was stärkere Macht
hätte. Seit ich klein bin, habe ich immer gegen die Zeit
angekämpft. Ich muß sich überlisten, ich muß
schneller sein als sie, damit ich, wenn sie mich einmal einholt,
fertig bin und sagen kann: Ich hatte mein Leben. Ich habe es
geschafft, in die Jahre, die ich bis jetzt hatte, mehr
hineinzuquetschen, als mancher nicht in hundert Jahren schafft. Ihr
Elfen seid weit über hundert, nehme ich an?«
»Ich bin ungefähr hundertundachtzig Jahre alt«,
sagte Keil. »Und ich bin noch ziemlich jung, nach unserer
Vorstellung.«
»Siehst du? Mein Vater, der jetzt gestorben ist, war
achtundfünfzig. Und für uns ist das ziemlich alt. Wollt
ihr mal wissen, wie alt ich bin? Fünfundzwanzig. Ich wette, in
dem Alter seid ihr noch Wickelkinder. Da seht ihr, was ich meine.
ich habe das Beste daraus gemacht. Aber es gibt Momente wie jetzt,
da kommt die Zeit und macht mir vor, sie sei noch lange nicht
überwunden. Und das ist mein Problem. Genügt euch das?
Habe ich eurer Ansicht nach genug von meiner Selbsttäuschung
aufgegeben? Gefällt es euch besser, mich depressiv am Boden zu
sehen? Oder gefiel ich euch doch besser, als ich meine muntere
Maske aufhatte und glücklich war?«
»Probleme verschwinden nicht einfach davon, daß man
sie ignoriert«, sagte Keil ernst. Felders Bericht schien ihn
bedrückt zu haben, vermutlich, weil sich für ihn als
langlebigen Elfen dieses Problem nie gestellt hatte. Lonnìl
hatte sich allerdings auch nie große Gedanken darüber
gemacht.
»Sie verschwinden vielleicht nicht wirklich. Aber zumindest
machen sie einem dann Ersteinmahl keine weiteren Probleme mehr. Und
wenn ihr gestattet … Darf ich bitte meine Maske wieder
aufsetzen?«
Lonnìl hatte immer das Gefühl gehabt, daß ihm
Felder in seinem Wesen mindestens so fremd war wie Schwinge oder
Morren, obwohl er sich eigentlich gut in andere Menschen
einfühlen konnte. Aber langsam begann er, ihn zu
verstehen.
»Du kennst dich selbst besser, als ich dachte«, sagte
Morren. Dann fügte er für Keil und Schwinge etwas in der
Elfensprache hinzu, was Lonnìl nicht verstehen konnte. Er
nickte dabei.
Thoria würde ihr Grab
sein. Während es schon tagsüber immer dämmrig war,
verschwand bei Nacht jeder noch sie kleine Funken Lichts, und weder
der Mond noch die Sterne durchdrangen den Nebel, der bei Nacht
wieder stärker und zäher wurde. Ohne Morrens Gabe, in
seiner Hand Licht zu machen, hätten die Elfen wahrscheinlich
nicht einmal den ersten Abend überstanden. Die Gefährten
schliefen nur wenig, denn im Schlaf gelang es der Düsternis
wieder, Einzug in ihre Gedanken zu nehmen und ihre Träume zu
vergiften. Auch mit ihren Vorräten mußten sie sparsam
umgehen, denn es gab in Thoria nichts, was sie hätten essen
können. Aber irgendwie verspürte ohnehin keiner von ihnen
großen Hunger oder Durst.
Felders Stimmung sank mehr und mehr. Im Laufe des zweiten Tages
stellte er das Reden gänzlich ein und ging dazu über,
dumpf vor sich hinzubrüten. Er war auch nicht mehr
ansprechbar. Die Gedanken, die ihn quälten, wurden immer
erdrückender, und er hatte keine Ahnung, was er gegen sie
unternehmen sollte. Es gab nichts, das ihn hätte ablenken
können. Jeder Winkel Thorias sah gleich aus, der einzige
Unterschied lag darin, daß der Nebel mal stärker und mal
schwächer war, und Felder hatte das Gefühl, auf der
Stelle zu treten. Die Zeit stand still, und sie waren in einem
einzigen, sich ständig wiederholenden Tag gefangen. Jeden
Schritt hatte er schon einmal gemacht. Es würde ihnen niemals
gelingen, den Mooren zu entkommen. Die Dunklen hatten ihn also doch
noch erwischt.
Aber immerhin konnte er jetzt endlich Morren und den anderen
beweisen, daß sie tatsächlich immer maßlos wegen
seiner Trinkerei übertrieben hatten. Wäre er wirklich ein
Säufer gewesen, dann hätte er nicht diese langen Tage in
den Mooren durchstehen können, ohne etwas zu trinken. So aber
hielt ihn das Wissen um die körperlosen Klauen der Dunklen
zurück, und er tröstete sich mit dem Gedanken daran,
daß er sich hinterher so sehr betrinken würde, wie er es
in seinem Leben noch nie getan hatte. Ein zugegeben schwacher
Trost, aber immerhin.
Am dritten Tag stand Felder kurz davor, sich selbst aufzugeben. Er
war erschöpft, und zu jedem weiteren Schritt mußte er
sich zwingen. Eigentlich wollte er sich nur noch hinsetzen und
ausruhen, gar nicht wieder aufstehen … Aber er ging weiter,
mit einer Verbissenheit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Um
ihn herum stand die Zeit still, aber er konnte spüren, wie sie
für ihn weiterlief, ihn mit jedem Schritt älter machte.
Von den anderen konnte er keine Hilfe erwarten. Dies war die
Strafe. Er war immer schneller gewesen als die Zeit, und jetzt
hatte sie ihn gefangen und sorgte dafür, daß er nun das
an Alter wieder aufholte, was er sich an Leben ermogelt hatte. Er
war ein Teil Thorias, der letzte lebende Teil, und bald würde
er genauso aussehen wie der Rest des Landes. Er war verloren. Die
Dunklen hatten sein Leben so gut wie in der Tasche.
Plötzlich griff eine Hand aus dem Nebel nach seinem
Knöchel und ließ ihn straucheln. Felder schrie auf und
schalt sich im nächsten Moment für seine
Schreckhaftigkeit. Vermutlich war er nur an einer Wurzel
hängengeblieben. Aber warum ließ sie dann seinen
Fuß nicht mehr los, und warum krallten sich Finger in sein
Gelenk? Felder schrie noch einmal, um die anderen zu warnen,
schüttelte seinen Fuß und schlug danach, um wieder
freizukommen. Es war wirklich eine Hand, und sie gehörte zu
einem Arm. Aber es war keine kalte Klaue eines Ungeheuers. Sie
gehörte zu einem Menschen.
»Gib mir Licht, Morren!« rief er. »Hier ist
jemand!«
Wer immer es war, er lag am Boden und hielt sich nach wie vor an
Felders Fuß fest. Felder ging in die Hocke, um das Gesicht
sehen zu können und dem Menschen aufzuhelfen. Eine zweite Hand
griff nach seiner, und er zog den anderen hoch.
Oberhalb des Bodens war der Nebel weniger stark, und dank Morrens
Licht konnten sie nun genau sehen, mit wem sie es zu tun hatten. Es
war eine alte Frau, und sie trug die Tracht einer Thorianerin.
Felder hätte fast vor Freude aufgeschrien. Er hatte sein Volk
gefunden. Jetzt konnte alles wieder gut werden.
Lonnìl hielt die Alte in seinem Arm und stützte sie.
»Wie geht es dir, Großmutter?«
Die Frau starrte ihn an und versuchte etwas zu sagen, aber sie
brachte nur ein paar krächzende, halberstickte Geräusche
hervor.
Wahrscheinlich war sie seit Tagen ohne Nahrung und Wasser durch
die Moore geirrt. Felders Hand zuckte instinktiv zu seiner
Feldflasche, als ihm einfiel, daß sie das vermutlich
umgebracht hätte. Und Keil hatte auch schon den Wassersack
geöffnet.
Beim Anblick des Elfen stieß die Frau einen gurgelnden
Schrei aus und wich zurück, und wenn Lonnìl sie jetzt
nicht gehalten hätte, wäre sie sicher gestürzt.
Felder wunderte sich nicht weiter. Vermutlich hatte die gute Frau
noch nie einen Elfen gesehen. Er hatte auch noch nie davon
gehört, daß in den letzten Jahren noch welche nach
Thoria gedrungen wären. Und außerdem hatte die Alte hier
in den Mooren sicher schon einiges durchgemacht. Als Felder Keil
das Wasser aus der Hand nahm und es der Frau reichte, nahm sie es
zögerlich an. Vermutlich überwog ihr Durst doch ihre
Furcht vor den Elfen. Irgendwie war es Felders Aufgabe, dafür
zu sorgen, daß sie überlebte. Sie war nicht unbedingt
das, was er sich als Volk vorgestellt hatte, und sie war auf ihre
Art sogar noch schlechter als nichts, aber Pflicht war Pflicht.
Wenn man ihm früher gesagt hätte, daß eines Tages
von der ganzen thorianischen Bevölkerung nur noch er und eine
Frau übrig sein würden, dann hätte er sich
vielleicht sogar gefreut, aber er hätte sich ganz sicher eine
andere Frau vorgestellt.
Kaum hatte die Alte gierig einige Schlucke getrunken, als sie
wieder anfing zu schreien, diesmal schon kraftvoller, und
versuchte, sich Lonnìls Griff zu entwinden. Jetzt war es
wohl Zeit, daß Felder etwas sagte und sich zu erkennen
gab.
»Sei still!« sagte er laut. Es war vielleicht nicht
der beste Anfang, aber ein König mußte schließlich
auf eine gewisse Weise seine Dominanz klarmachen. Außerdem
mußte man hysterische Leute anschreien, damit sie wieder zu
sich kamen. »Dir wird kein Unheil zugefügt werden, wenn
du bereit bist, mit uns zusammenzuarbeiten. Du tätest gut
daran, uns etwas Respekt zu zollen, denn ich bin Dhelin von Thoria,
dein König und Herrscher!« Es war das allererste Mal,
daß er sich unter diesem Namen vorstellte, und es klang nicht
nur ungewohnt, sondern auch unüberzeugend, so als wäre er
wirklich nur Felder, ein Hochstapler, der sich als König
ausgab. Vermutlich deshalb schien die Alte ihm nicht zu
glauben.
»Hilfe!« schrie sie mit krächzender Stimme.
»Räuber! Mörder! Hilfe!«
»Aber ich bin Dhelin von Thoria!« sagte Felder,
der es fast selbst nicht mehr glaubte. »Erkennst du nicht
deinen eigenen König, Weib?«
Jetzt erst sah sie ihn an. Ihre Augen waren hellblau und
unheimlich, und unter ihrem Blick fühlte sich Felder
mindestens so unwohl, wie wenn der Zauberer ihn anstarrte. Auch sie
blickte geradewegs in ihn hinein. Dann verzog sich ihr Gesicht zu
einer abscheulichen Fratze.
»Ich erkenne dich!« flüsterte sie heiser.
»Der Prinz mit dem Schlangenauge! Schande deines Vaters und
Schänder der Jungfrauen. Was hast du mit meinen Söhnen
gemacht?« Plötzlich fing sie an zu kreischen, riß
sich von Lonnìl los und stürzte auf Felder zu. Ehe er
sich versah, hatten sich ihre krallenähnlichen Finger in seine
Schultern gebohrt. Felder war überrumpelt und wußte
nicht, was er tun sollte. Schließlich konnte er schlecht eine
alte Frau zu Boden schlagen, auch wenn sie übergeschnappt
war.
»Was hast du mit meinen Söhnen gemacht? Wo ist mein
Sohn Dharkas, der mich schützte und pflegte auf meine alten
Tage? Wo ist mein Sohn Borlik, der stärker war als alle
anderen Bauern? Und wo ist mein Sohn Starnkin, dessen junge Frau
ihr erstes Kind erwartete? Was hast du mit ihnen
gemacht?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst!« sagte Felder und
versuchte, aus ihrem Griff freizukommen. »Du redest irre,
Weib!«
»Oh nein! Die alte Oana weiß, wovon sie redet! In den
Wäldern war ich, um Kräuter und Pilze zu suchen, auf
einer langen Wanderung. Als ich zurückkam, waren meine
Söhne verschwunden, und mein Häuschen, und alles, was es
hier jemals gegeben hat! Ich weiß, was du getan hast! Du
falscher Prinz, du hast Thoria an die Elfen verkauft! Du hast dein
Volk verraten! Du hast meine Söhne verraten!«
»Das habe ich nicht!« schrie Felder. Sie raubte ihm
die Luft, weil sich jetzt seine Tunika in seinen Hals einschnitt.
»Laß mich los, du alte Hexe! Morren, mach daß sie
damit aufhört!«
»Gib mir meine Söhne zurück!« schrie die
alte Oana, taub und blind vor Raserei. Keiner machte Ansätze,
Felder irgendwie zu helfen, auch Morren nicht. Jetzt reichte es. Er
hatte ihr die Gelegenheit gegeben, ungeschoren davonzukommen. Aber
er konnte nicht zulassen, daß sie ihn erwürgte. Er hatte
noch nie zuvor eine Frau geschlagen, und da legte er auch Wert
drauf. Doch jetzt war er derartig in Wut geraten, daß er sich
nicht nur aus dem Griff der Alten losriß, sondern sie
regelrecht von sich weg schleuderte. Es ging ziemlich schnell. Sie
fiel wie ein Bündel Lumpen auf die Erde, wo sie schluchzend
liegenblieb. Immerhin lebte sie noch, und Felder wollte sich gerade
entschuldigen, als Morren ihn schlug.
Morren hatte ihn schon öfters geohrfeigt wie ein unartiges
Kind. Es hatte nie besonders weh getan. Aber dieser Schlag war
anders. Er kam so schnell, daß Felder die Hand des Zauberers
gar nicht kommen sah, und dann zerbarst das Licht in seinem Kopf.
Er konnte nichts mehr sehen, nichts mehr denken, und er bekam nur
noch halb mit, wie er zu Boden stürzte.
Er wußte nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er sich
mühsam aufrappelte. Alles war hell, und er schloß
geblendet die Augen, aber das half nicht. Das Licht kam von innen.
Sein ganzer Kopf war damit angefüllt, so daß nichts
anderes darin mehr Platz hatte. In seinen Ohren dröhnte es.
Was war mit ihm geschehen? Wo war er? Dies waren nicht mehr die
Moore von Thoria. Oder doch? Wenn er nur in der Lage gewesen
wäre, einen klaren Gedanken zu fassen! Und wo kam all dieses
Licht her? Langsam dämmerte Felder, was passiert war. Morren
hatte ihn ins Gesicht geschlagen, was nicht weiter schlimm gewesen
wäre, wenn er es nicht mit seiner Lichthand getan hätte.
So aber hatte er Felder mit einer Handvoll konzentrierter Energie
zu Boden geschlagen. Aber was sollte er jetzt tun? Wie sollte er
dieses Licht wieder aus seinem Kopf hinausbekommen? Die
nächste Frage, die Felder durch den Kopf ging, war die wohl
schrecklichste, die er sich jemals gestellt hatte: Wieso ging er
eigentlich davon aus, daß er überhaupt noch am Leben
war? Er konnte genausogut tot sein.
Langsam begann sich in all dem Licht ein dunkler Umriß
abzuzeichnen, ein schwarzer Schatten. Es dauerte einen Moment, bis
sich Felders Augen daran gewöhnt hatten, gleichzeitig in
hellstes Licht und schwärzestes Schwarz zu sehen, dann konnte
er es deutlich erkennen. Er stand vor einem Thron. Um ihn herum war
nichts als dieses Licht, und mittendrin stand ein Thron aus
Dunkelheit. Sonst gab es nichts.
Fast nichts.
Möchtest du dich nicht setzen? fragte eine Stimme in
seinem Kopf. Es ist dein Thron. Du wolltest ihn zuletzt nicht
haben, und jetzt steht er verwaist hier herum und wartet auf dich.
Du hast es dir nicht vielleicht mittlerweile anders
überlegt?
»Nein!« sagte Felder, oder zumindest dachte er,
daß er es laut sagte. »Vergeßt es. Ihr bekommt
mich nicht. Ich habe diesen Thron niemals haben wollen. Jetzt will
ich ihn erst recht nicht mehr.«
Wir könnten dir ein gutes Angebot machen.
»Ihr denkt, daß ich euch auch nur noch einmal glaube?
Ihr habt mich schon genug betrogen. Ihr habt gesagt, ihr
hättet meinem Volk die Freiheit zurückgegeben! Ihr habt
gelogen. Ihr habt alle Thorianer verschleppt bis auf eine alte
Frau.«
Du irrst dich, Dhelin. Wir haben alle Thorianer in eure Welt
zurück geschickt, wie wir versprochen hatten. Aber du wirst
verstehen, daß wir sie nicht in diese Ödnis setzen
konnten. Dort hätten sie sich nicht wohlgefühlt. Aber
natürlich konnten wir auch nicht alle in einer anderen Gegend
absetzen. Das hätte dort für Überbevölkerung
gesorgt. Man muß immer auch die Belange der Anderen
bedenken.
»Was habt ihr mit ihnen gemacht?«>
Wir haben sie über die Welt verteilt, so daß sie
niemandem direkt zur Last fallen werden. Und wir versprechen dir,
daß wir niemals wieder auch nur einen von ihnen in unser
Reich holen werden. Sie sind auf alle Ewigkeit vor uns sicher. Bist
du jetzt beruhigt, Dhelin? In seinem Kopf lachte es.
»Nennt mich nicht Dhelin!« schrie Felder, der jetzt
merkte, worauf die Dunklen aus waren. »Ich bin Felder!«
Wenn er auf den anderen Namen gehört hätte, den Namen der
Könige von Thoria, dann hätte er jetzt auf den Thron
steigen müssen. Und dann hätte er den Dunklen
gehört. Er wußte jetzt, daß er den Namen Dhelin
nie wieder aussprechen durfte. Wenn er es noch einmal tat, war er
verloren. »Ich bin Felder!« schrie er noch einmal.
Die Stimme verschwand. Der Thron verschwand. Es gab nur noch
Licht
»Was hast du
getan?« rief Keil erschrocken. Es war alles so schnell
gegangen - die alte Frau, die zu Boden stürzte, Felder, der
verwundert auf seine Hände starrte, Lonnìl, der das
Schwert aus der Scheide riß und auf Felder lossprang, und
Morren, der im selben Moment Felder mit einem Lichtblitz
niederschlug. Jetzt lag Felder am Boden und rührte sich
nicht.
»Ich hatte schon lange keinem von euch beiden mehr das Leben
gerettet«, sagte Morren ruhig. »Wenn du ihn durchbohrt
hättest, Lonnìl, hätte es dir hinterher leid
getan.«
»Aber er hat die alte Frau geschlagen!«
»Das ist kein Grund, ihn dafür umzubringen!« fuhr
ihn Morren ärgerlich an. »Warum könnt ihr Menschen
nicht einmal vernünftig nachdenken, bevor ihr euch die
Köpfe einschlagt?«
Lonnìl antwortete nicht, sondern kniete sich wieder zu der
Thorianerin, um sich um sie zu kümmern. Sie lag
zusammengekrümmt im toten Gras und schluchzte. Felder kauerte
nur einen Schritt neben ihr. Er hatte die Augen zusammengekniffen
und rappelte sich schon langsam auf, aber Keil hatte nicht den
Eindruck, daß der Mensch wahrnahm, was um ihn herum geschah.
Er reagierte nicht, als Keil ihn vorsichtig an der Schulter
schüttelte, sondern bedeckte nur seine Augen mit einer Hand.
Dabei bewegte er die Lippen, wie in einer stummen Konversation.
Schwinge stand dabei und sah ungerührt zu, wie Felder tastend
um sich griff, als wäre da gar kein Keil, der ihn am Arm
hielt.
»Was hast du mit ihm getan, Morren?« fragte sie.
»Ich habe ihn lediglich zu Boden geschlagen«, sagte
Morren. »Vielleicht hätte ich die andere Hand nehmen
sollen. Aber es ist doch irgendwie faszinierend, wie sich Licht als
Nahkampfwaffe einsetzen läßt, nicht wahr? Es hat
annähernd den selben Erfolg erzielt, als wenn ich einen Blitz
geschleudert hätte, nur daß die Streuung geringer ist.
So ein gezielter Schlag kann natürlich viel präziser
eingesetzt werden.«
»Aber du hättest Felder töten können!«
rief Keil. »Und was wird jetzt mit ihm?«
Im gleichen Moment schrie Felder auf, und jetzt konnten sie auch
seine Worte hören. »Nennt mich nicht Dhelin! Ich bin
Felder!«
»Aber das ist doch kein Problem«, sagte Morren und
lachte leise. »Ich habe ihm eine Handvoll Licht in den
Schädel getrieben. Das setzt ihn vielleicht außer
Gefecht, aber es tötet ihn nicht. Und jetzt«, er
bückte sich und macht mit seiner freien Hand eine
Greifbewegung, bei der nicht ganz klar war, ob er nur vor oder
in Felders Gesicht griff, »muß ich es mir nur
wiedernehmen.« Er zog die Hand zurück und hielt in ihr
eine zweite Lichtkugel. Dann formte er aus beiden Händen eine
Art Schale und ließ die Lichtkugeln zusammenfließen,
was im Nebel einfach nur wunderschön aussah. »Man kann
eine Menge Spaß mit Licht haben, auch wenn einige andere
Zauberer, unter ihnen mein geschätzter Bruder, für
derartige Spielereien wenig übrig haben.« Immer noch
lachend, ließ er das Licht von einer Hand in die andere
gleiten oder schnippte es wie einen Ball in die Luft, wo es
regungslos hängenblieb, bis Morren es wieder aufnahm.
»Und was ist jetzt mit Felder?« fragte Schwinge, die
wie ebenfalls wenig Vergnügen an der Vorstellung fand.
»Felder? Der ist wieder in Ordnung«, sagte Morren.
»Nein, das ist er nicht«, sagte Felder langsam. Sein
Gesicht hatte jede Farbe verloren und wirkte so
gräulich-weiß wie der Nebel selbst. »Ich
weiß nicht, ob ihr mich als euer Spielzeug betrachtet, an dem
ihr neue Kunststücke ausprobieren könnt, aber diesmal
seid ihr einen Schritt zu weit gegangen. Ich habe dieser Oana
nichts tun wollen. Ich wollte nur, daß sie aufhört, mich
zu würgen. Vielleicht hatte ich nicht erwartet, daß sie
so wenig wiegen würde. Es war bestimmt falsch von mir, sie so
zu schubsen. Aber das ist noch lange kein Grund, mir meinen Kopf
derart mit Licht vollzupumpen. Drei Tage bin ich jetzt durch dieses
Moor geirrt, und ihr könnt mir glauben, es waren die
schrecklichsten und längsten Tage meines Lebens. Die ganze
Zeit mußte ich mir sagen ‘Was immer du tust, sieh zu,
daß du einen klaren Kopf behältst’, weil ich
wußte, daß sonst die Dunklen wieder versuchen
würden, mich zu bekommen und vielleicht Erfolg haben
würden. Und ich habe auch einen klaren Kopf behalten. Ich habe
kaum geschlafen und nichts getrunken, um meine Gedanken beisammen
zu halten, und ich hatte die klarsten Gedanken seit Jahren, und
einer war unangenehmer als der andere, und ich habe alles
durchgestanden - nur damit man mir im entscheidenden Moment eine
Ladung Licht um die Ohren schlägt und all meine klaren
Gedanken vollkommen außer Kraft setzt. Durfte dann
feststellen, daß meine Befürchtungen richtig waren: Die
Dunklen kommen tatsächlich, wenn man seine Gedanken nicht klar
beisammenhält. Sie hätten mich gerade um ein aar
bekommeHaar bekommen, zu eurer Information, und auch wenn ich jetzt
gelernt habe, wie ich mit ihnen umgehen muß, hätte ich
doch auf diese Erfahrung gerne verzichtet. Und jetzt entschuldigt
mich.«
Er setzte sich auf den Boden, löste die Flasche von seinem
Gürtel und begann zu trinken.
»Was wird das, wenn es fertig ist?« fragte Morren.
»Wolltest du dir das nicht für hinterher aufsparen? Hast
du uns nicht gerade einen Vortrag über klare Köpfe
gehalten?«
»Zu Frage eins: Ich trinke. Zu Frage zwei: nein. Dieser Rest
hier reicht gerade mal aus, mich in das angenehme Stadium am
äußersten Rand der Nüchternheit zu versetzen. Und
da gedenke ich die nächste Zeit zu bleiben. Denn, um auf Frage
drei zurückzukommen: Wenn du mir richtig zugehört
hättest, wüßtest du, daß ich jetzt nichts
mehr von den Dunklen befürchten muß und wie sehr ich es
hasse, klar zu denken. Ich bevorzuge es, wenn alles so ein ganz
bißchen unscharf ist. Und, um der nächsten Frage
vorzugreifen: Mir ist wirklich nicht mehr zu
helfen.«
Schwinge wußte nicht, wie
sie sich verhalten sollte. Es war nicht nur die grauenvolle
Atmosphäre dieser Unwelt, die ihr zu schaffen machte, sondern
vor allem der Anblick dieser Menschenfrau. Wenn Felder bis jetzt
davon gesprochen hatte, daß Menschen alt wurden, hatte sie
sich immer etwas anderes darunter vorgestellt. Sie hatte nicht
damit gerechnet, daß sie dann derart … zerfielen.
Dieses Gesicht würde sie nie wieder vergessen können -
der zahnlose Mund und jede einzelne Falte hatten sich tief in ihr
Gedächtnis eingegraben. Aber was Schwinge so sehr verwunderte,
war, daß sie nicht nur Abscheu empfand angesichts dieser
Kreatur, sondern auch Mitleid. Ihre Hand hatte das Messer schon
halb gezogen. Wäre diese Frau ein Tier in ihrem Wald gewesen,
so hätte sie es jetzt von seinem Dasein erlöst.
»Denke nicht einmal daran!« raunte ihr Keil zu.
Entweder hatte er ihre Bewegung bemerkt, oder ihm waren die selben
Gedanken gekommen. »Du kannst sie nicht einfach so
töten. Sie wird von selbst sterben, wenn sie
hierbleibt.«
»Und das wäre besser?« entgegnete Schwinge. Es
war erstaunlich: Diese Frau war ein Mensch, aber Schwinge wollte
nicht, daß sie litt. Der Tod der Alten hätte für
alle eine Erleichterung bedeutet, aber Schwinge würde ihr
nichts tun. Ihr ekelte bei dem Gedanken, dieses verfallende
Stück Fleisch anzurühren. Dies war es also, was Felder so
sehr fürchtete. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Es war so
armselig. Wenn es das war, was die Zeit - und recht kurze Zeit nur
- aus den Menschen machte, dann würden sie die Welt nicht
lange beherrschen können.
Lonnìl kümmerte sich um die Alte am Boden und
versuchte wohl, sie zum Aufstehen zu bewegen, aber vergeblich.
»Großmutter Oana, du mußt mit uns kommen! Hier
kannst du nicht bleiben!«
»Hier ist der einzige Ort, an dem ich bleiben kann! Thoria
ist die einzige Heimat, die ich jemals hatte, und der einzige Ort,
an dem ich sterben will. Ihr - verschwindet von hier! Verräter
meiner Söhne! Laßt euch nie wieder hier blicken!
Laßt mich allein!«
Schwinge wollte endlich weitergehen. Sie konnte nicht länger
an dieser Ort bleiben, der alles Leben aus ihr sog, und Keil auch
nicht. Es war ein Fehler gewesen, Thoria jemals zu betreten. Sie
hätten es umgehen müssen, auch wenn es einen lange Umweg
bedeutete.
»Laßt uns endlich aufbrechen!« sagte auch
Felder. »Ich finde, wir haben schon bei weitem zu lange
gerastet!«
»Aber sie will nicht mitkommen!« wandte Lonnìl
ein.
»Das ist hervorragend. Ich will nämlich auch nicht,
daß sie mitkommt. Sie soll sich nicht so anstellen. Ihren
Söhnen geht es gut - haben mir die Dunklen zugesichert.
Früher oder später werden sie schon hier auftauchen und
die alte Vettel mitnehmen. Bis dahin kann sie von mir aus
krepieren.«
Ohne weitere Reaktionen abzuwarten, raffte Felder seinen Beutel
zusammen und marschierte los, in den Nebel hinein. Schwinge
hätte nie gedacht, daß sie sich eines Tages einem
Menschen anschließen würde, aber sie folgte ihm. Doch
sah sie ihn nicht an, und sie sagte nichts. Als sie hinter sich
Schritte vernahm, drehte sie sich um. Keil und Morren waren ihr
ebenfalls gefolgt, und hinter ihnen konnte sie die breiten Konturen
von Lonnìl ausmachen. Er war allein. Die alte Frau hatte er
zurückgelassen.
»Wie schön, daß wir endlich einmal alle einer
Meinung sind!« rief Felder fröhlich. »Ihr stimmt
mir doch zu: Bloß weg hier!«
»Du hast deinen Plan, Thoria zu befreien, bemerkenswert
schnell wieder aufgegeben«, meinte Morren, und es klang nicht
im Geringsten überrascht. »Solltest du nicht bei der
Frau bleiben und sich um sie kümmern, wie es als König
deine Pflicht wäre?«
»Damit sie mich wieder würgt? Ich bin hier kein
König. Thoria hätte mir nicht deutlicher zeigen
können, daß es nicht an meiner Hilfe interessiert ist.
Thoria will mich nicht, ich will Thoria nicht, fertig. Das ist es.
Mit Thoria bin ich fertig.«
Mehr sagt er nicht dazu. Noch an diesem Nachmittag durchbrachen
sie endgültig den Nebel. Sie hatten es geschafft. Die Moore
von Thoria lagen hinter ihnen.
An diesem Nachmittag kam es
zwischen Lonnìl und Felder zum Streit. Hinterher konnte
Lonnìl nicht einmal genau sagen, warum er damit angefangen
hatte, denn diesmal war es ganz allein seine Schuld, daß sie
aneinandergerieten. Vielleicht lag es daran, daß er die alte
Frau nicht vergessen konnte, die sie ihrem Schicksal
überlassen hatten. Er mußte immerzu daran denken,
daß Felder all dieses Leid verursacht hatte. Felder dagegen
schien keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Nachdem sie
einmal aus den Mooren heraus waren, verlor er kein Wort mehr
darüber. Er war wieder ganz der Alte, redete munter und
ausdauernd auf Morren ein und versuchte, Keil die Melodie eines
Wanderliedes beizubringen. Offensichtlich war er glänzender
Laune, und Lonnìl bezweifelte, daß dies nur ein
weiterer Teil von Felders Selbstverleugnung war. Mit jedem Moment,
den er Felder ertragen mußte, wuchs Lonnìls Wut. Und
als Felder schließlich wieder nach seiner Flasche griff, um,
wie er es nannte, »den Zustand stabil zu halten«,
riß Lonnìl die Geduld.
»Du trinkst soviel, daß mir schon allein vom Zusehen
übel wird!« schrie er Felder an, der vor
Überraschung einen Schritt rückwärts machte. Aber es
war schwer, den Burschen aus der Fassung zu bringen. Er trank erst
in aller Ruhe weiter, bevor er antwortete.
»Du bist so edel, daß ich dich nüchtern nicht
ertragen kann.« Ein einziger Satz, aber er genügte, um
Lonnìl die Sprache zu verschlagen. Was sollte er auch darauf
antworten? Felder fuhr fort: »Warum bin ich hier der einzige,
dem immer wieder seine mangelnde Selbsterkenntnis vorgehalten wird?
Immer bekomme ich einen auf den Deckel, dabei bin ich hier so
ziemlich der einzige, der sich wirklich kennt. Ich kenne mich zu
gut. Ich weiß, daß ich mich zugrunde richte, mein
eigenes Grab schaufle, was auch immer. Aber euch gefällt es
nicht, daß ich das so genau weiß. Ihr
hättet es doch gerne, wenn ich mich belügen würde,
damit ihr mich aufrütteln und retten könnt. Ihr sagt, ich
bin ein Säufer, ich sage, ich bin keiner, aber wo ist der
Unterschied? Ich trinke davon nicht mehr und nicht weniger.
Zumindest nicht weniger. Ich schade mir vielleicht selbst, aber
euch tue ich doch nur gut. Solange ihr mich vor Augen habt, seid
ihr beschäftigt und müßt euch nicht an eure eigene
Nase packen. Ich bin doch nur Bestandteil eurer eigenen
Lebenslügen.«
»Was willst du damit sagen?« fragte Lonnìl
mühsam beherrscht.
»Daß du endlich aufhören sollst, dich selbst zu
belügen! Dein Edelmut trieft aus jeder Pore, du trägst
ein Schild um den Hals, auf dem in drei Fuß großen
Buchstaben ‘Held’ geschrieben steht, obwohl du nicht
einmal lesen kannst, und du siehst auch nur das, was du wirklich
sehen willst. Weil dir einmal ein Edelmann geschadet hat,
haßt du alle, und egal, was ich tue, du wirst in mir immer
nur einen weiteren Prinzen sehen, dem man am Besten sofort den
Schädel einschlägt. Und doch versuchst du ständig,
mir meine Masken abzunehmen, damit du nicht deine eigene abnehmen
mußt - oder die, die du Schwinge aufgesetzt hast. In deinen
Augen ist Schwinge doch das nobelste, holdeste Geschöpf, das
jemals gelebt hat! Du bildest dir ein, daß du sie
liebst!«
»Ich bilde es mir nicht ein! Ich weiß, daß ich
sie liebe!«
»Gar nichts weißt du! Du glaubst. Du redest dir
ein, daß sie die große wahre Liebe deines Lebens ist.
Du willst sie gar nicht sehen, wie sie in Wirklichkeit ist. Du
erfindest Ausreden dafür, daß sie nicht in der Lage ist,
dich ebenfalls zu lieben. Du schiebst es darauf, daß sie eben
eine Elfe ist. Aber in Wirklichkeit liebst sie dich deswegen nicht,
weil sie nicht in der Lage ist, ein anderes Gefühl zu
empfinden als Haß! Verlieb dich in Keil, wenn du unbedingt
Elfen lieben willst. Es würde keinen großen Unterschied
machen, daß er ein Junge ist, wenn es da bei den Elfen
überhaupt Unterschiede gibt. Der Unterschied wäre,
daß Keil ein fühlendes Wesen ist, und Schwinge nicht.
Das weißt du selbst. Du bist nicht so dumm, daß du es
nicht mittlerweile gemerkt hättest. Aber solange du es nicht
wahrhaben willst, wirst du dich auf alle Zeiten weiter
belügen!«
»Sei still!« schrie Lonnìl. Er wäre am
liebsten in der Erde versunken, weil Schwinge sicher jedes Wort
gehört hatte. Gab es denn keinen anderen Weg, diesen Burschen
zum Schweigen zu bringen, als sich mit ihm zu prügeln? Aber
wenn Lonnìl Felder jetzt schlug, bedeutete das, daß er
ihm Recht gab. »Du bist doch betrunken!«
»Ist das alles, was du mir vorwerfen kannst? Trinker und
Narren reden die Wahrheit. Im übrigen denke ich immer noch
nüchterner als du. Ich habe vielleicht meine Gedanken in etwas
Watte verpackt, aber ich bin nicht blind, im Gegensatz zu Leuten,
die ihren ganzen Kopf in eine rosa Wolke stecken. Worauf wartest du
noch? Schlag mich endlich. Geh mit dem Schwert auf mich los. Ich
habe die Wahrheit gesagt, und du kannst sie nicht mehr verleugnen,
dafür haben mich zu viele gehört. Tu mit mir was du
willst, aber tu es schnell, denn morgen früh werde ich nicht
mehr bei euch sein.«
Lonnìl holte aus und schlug Felder ins Gesicht, so fest er
konnte. Felder mußte seine Hand gesehen haben, aber er wich
ihr nicht aus, sondern sah ihn nur belustigt an, während er
sich das Blut vom Mund wischte.
»Ich gewöhne mich allmählich daran. Irgendwie
trefft ihr immer die selbe Stelle. Geht es dir jetzt besser? Freut
dich der Gedanke, daß er große Kämpfer für
die Gerechtigkeit Leute schlägt, nur weil sie die Wahrheit
gesagt haben? Sonst machen das nur wir Tyrannen. Möchtest du
noch einmal? Keine Angst - ich wehre mich schon nicht. Ich
warte!«
Lonnìl wußte, daß Felder ihn mit Absicht
reizte. Wenn er jetzt noch einmal zuschlug, hatte Felder
endgültig gewonnen. Trotzdem tat er es. Er rammte dem Prinzen
seine Faust in dem Magen, und wäre jetzt nicht endlich Morren
dazwischen gegangen, hätte Lonnìl seinen Gegner
vermutlich mit bloßen Händen erschlagen.
»Das ist genug!« sagte Morren mit schneidender Stimme,
die Lonnìl durch Mark und Bein ging. Gleichzeitig
berührte er eine Stelle in Lonnìls Nacken, so daß
dieser am ganzen Körper erstarrte, wie ein Katzenjunges, das
von seiner Mutter dort gepackt wird. Mehr mußte Morren nicht
tun. Lonnìl erkannte plötzlich was er getan hatte.
Felder hatte Recht gehabt mit seiner letzten Behauptung. Wenn er
Leute schlug für das, was sie gesagt hatten, dann war er
wirklich keinen Deut besser als die, gegen die er kämpfte. Er
war vielleicht kein Mann der großen Worte. Aber wenn er nicht
wußte, was er sagen sollte, war es besser, gar nichts zu tun.
Selbst wenn er sich derart gemeine Anschuldigungen anhören
mußte wie Felders Behauptungen. Anschuldigungen? Oder
Wahrheit?
Plötzlich wurde Felder
klar, wo sie waren, und er sog zischend die Luft durch die
Zähne ein. Zunächst war er so froh gewesen, endlich den
Mooren und auch den Dunklen entkommen war, daß er der
Umgebung keine größere Beachtung geschenkt hatte. Die
Hauptsache war, daß es keinen Nebel mehr gab, das Gras
grün war und die Luft voller Geräusche. Eigentlich hatte
Felder immer so etwas wie Erleichterung gespürt, wenn er
Thoria verlassen durfte, aber diesmal war es natürlich
vollkommen anders. Und außerdem war der Ort, von dem sie
jetzt kamen, gar nicht mehr Thoria.
Aber als die erste Euphorie langsam wieder von ihm abfiel, begann
er sich umzusehen. Er kannte diese Gegend. Für Lonnìl
sah es vielleicht wie ein ganz gewöhnliches Land mit einigen
Äckern und Wäldern und gelegentlichen Bauernhöfen
aus, aber Felder war oft genug hier gewesen, um zu wissen, wo sie
waren. Dies war der südöstliche Rand des Landes Gondria.
Und das war unmöglich.
Drei Tage hatten sie gebraucht, um Thoria zu durchqueren. Das
hieß - sie konnten es gar nicht durchquert haben. Eine
Durchquerung Thorias, wo das Land am breitesten war, dauerte
bestenfalls zehn Tage, und auch nur, wenn man sehr gut zu Fuß
war oder ein Pferd hatte. Sie hatten vorgehabt, Thoria an seinem
nördlichen Rand kurz zu schneiden. Das war innerhalb von drei
Tagen zu schaffen, auch wenn sie vermutlich nur im Kreis
herumgelaufen waren. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit,
daß sie nach diesen drei Tagen hier waren, in Gondria. Sie
waren mehr als fünf Tagesreisen zu weit südwestlich, auf
der völlig falschen Seite der Moore. Diese Strecke konnten sie
unmöglich in drei Tagen zurückgelegt haben. Es sei den
…
Felder begann zu schwitzen. Er war noch zu nüchtern, als
daß er die Gedanken, die ihm jetzt kamen, hätte
abstellen können. Nicht umsonst hatte er in den Mooren das
Gefühl gehabt, mit der Zeit stimme etwas nicht. Mit der Zeit
hatte tatsächlich etwas nicht gestimmt. Es war wie bei den
Dunklen. Außerhalb der wirklichen Welt verstrich die Zeit
schneller. Oder langsamer? Jedenfalls lief sie für jeden so
schnell, wie die Dunklen es wollten. Wieviel Zeit war wohl in der
richtigen Welt vergangen? Wochen? Monate? Das wohl kaum. Das Wetter
noch genauso sommerlich wie vor vier Tagen. Vielleicht waren es
aber Jahre?
»Morren!« schrie Felder. Eigentlich hatte er seine
Überlegungen für sich behalten wollen, aber jetzt liefen
sie auf ein ernsthaftes Problem hinaus. Und der Zauberer war der
einzige, der ihm vielleicht dabei helfen konnte. Es kostete ihn
einige Anstrengung und Nervenkraft, Morren auf sich aufmerksam zu
machen, aber endlich gelang es ihn, seinen Freund in ein
Gespräch zu verwickeln.
Morren hörte sich alles schweigend an, dann nickte er.
»Was deine Beobachtung angeht, so hast du vollkommen recht.
Thoria liegt nicht ganz in der Welt, an die du gewöhnt bist,
und die Zeit läuft auch in anderen Bahnen. Aber es war gut von
dir, mich darauf anzusprechen. Du weißt doch, daß du in
mir immer einen Ansprechpartner hast, wenn es um wichtige Dinge
geht. Ich bin dir in sofern dankbar, als daß ich etwas die
Orientierung verloren hatte und nicht die leiseste Ahnung, wo wir
hier sind. Gondria also. Übel. Es wird mich davon abhalten, in
Zukunft weitere Abkürzungen durch verwunschenes Gebiert zu
nehmen. Aber ich kann dich auch beruhigen. Es gibt eine ganz
einfache Erklärung für das, was du bemerkt hast, auch
wenn du sie vielleicht etwas schwer zu begreifen findest. Es
könnte dich verwirren.«
»Es könnte mich kaum mehr verwirren, als ich ohnehin
schon bin. Versuch es.«
»Die Dunklen haben Thoria entführt, das ganze Land
mitsamt dem Raum, den es einnahm. Zurück blieb nur ein Nichts
im wahrsten Sinne des Wortes. Soweit ist es noch verständlich,
vermute ich. Bist du überhaupt noch
aufnahmefähig?«
»Willst du mich beleidigen?«
»Nichts läge mir ferner. Jetzt kommt der verzwickte
Teil. Alle Länder, die Thoria umgaben, sind noch da, und sie
haben nichts von ihren Grenzen verloren. Das heißt also,
Thoria hat, obwohl es keine Fläche mehr hat, den selben Umfang
wie vorher. Wenn du also Thoria, oder die Moore, wie du es zu
nennen beliebst, umrunden willst, brauchst du Wochen. Aber du
kannst hineingehen, und wenn du hinauskommst, bist du am anderen
Ende. Es ist nicht so, daß gar kein Raum da wäre. Dieser
Ort, der uns tagelang festgehalten hat, ist immer noch wirklicher
als das Nichts, wie dir unschwer aufgefallen ist. Das liegt daran,
daß Thoria von seinen Grenzen zusammengehalten wird. Hast du
verstanden, was ich meine?«
»Ich sehe nicht, wo das Problem sein soll«, sagte
Felder. »Es ist wie deine Tasche, die so klein aussieht, und
man kann die ganze Welt hineinstopfen, nur umgekehrt. Dies
erleichtert mich ungemein. Du meinst also, wir haben wirklich keine
Zeit verloren? Wir waren wirklich nur die drei Tage
dort?«
Möglicherweise hatte Morren eine Vorstellung davon, daß
Felder in seinem ganzen Leben kaum jemals so erleichtert gewesen
war. Aber er zuckte nur die Schultern und lächelte
geheimnisvoll. »Warte auf den Mond, dann weißt du
Näheres.«
Felder war so klug wie vorher. Aber er wußte immerhin,
daß er nicht länger zaudern durfte. Noch in den Mooren
war sein Entschluß gereift. Er mußte diese Gruppe
verlassen. Natürlich war es mit ihnen zusammen nett gewesen,
oder zumindest nicht langweilig. Trotzdem hatte es ihm nicht den
Spaß gebracht, den er sich erhofft hatte. Morren war
unsterblich, aber das würde keinem außer ihm jemals
etwas nutzen. Und der Anblick der langlebigen Elfen rieb Felder
jeden Tag seine eigene Sterblichkeit unter die Nase. Diese Leute
lenkten ihn nicht von seinen Gedanken ab. Vielmehr zwangen sie ihn,
stärker denn je über diese Sachen zu grübeln.
Außerdem machten sie gleich einen Elch aus jeder Ameise.
Niemand in Thoria, von Tarnil einmal abgesehen, der auch an allem
herummeckern mußte, wäre auf die Idee gekommen, Felder
Vorhaltungen wegen des Trinkens zu machen. Aber Lonnìl und
Morren, die immer den Mund so weit aufreißen mußten,
würden niemals begreifen, daß er diese Reisen und
Abenteuer brauchte, um nicht soviel trinken zu müssen. Vor
allem würden sie es ihm dann nicht glauben, wenn er das tat,
was er für den Abend vorhatte.
Es war ein glücklicher Zufall, daß sie gerade in dieser
Gegend gelandet waren. Da gab es einen Bauer ganz in der Nähe,
der ein wirklich phantastisches Zeug brannte. Bei ihm würde
Felder seine Flasche auffüllen, oder am besten gleich noch
eine zweite kaufen. Und am nächsten Tag, oder vermutlich eher
am nächsten Abend, würde er aufstehen und ein neues Leben
beginnen. Keine Elfen, Zauberer oder Dunklen mehr. Dieses Gesocks
hatte ihn schon in genug Schwierigkeiten gebracht. Statt dessen:
Menschen, aller Altersgruppen und vor allem aller Geschlechter.
Seit er mit Schwinge zusammen reiste, hatte Felder schon fast
vergessen, wie eine richtige Menschenfrau aussah. So etwas gedachte
er nun zu finden.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich frei, das zu tun,
was er wollte. Es gab keinerlei Verpflichtungen mehr für ihn.
Er war freier als alle Menschen, die er jemals getroffen hatte.
Sein Leben lag noch komplett vor ihm. Vielleicht gehörte ihm
Thoria nicht mehr. Aber dafür gehörte ihm jetzt die
Welt.
Der Bauer war noch genau da, wo Felder ihn in Erinnerung hatte.
Und er war noch genauso glücklich wie früher, wenn sich
jemand für seinen Schnaps interessierte - oder ihm Gold gab.
Felder bekam alles, was er wollte, auch wenn die Augen seiner
Gefährten aus sicherer Entfernung argwöhnisch bis
haßerfüllt auf ihm ruhten. Vielleicht war es jetzt an
der Zeit, sie in seine Abschiedspläne einzuweihen.
»Ich werde euch jetzt verlassen«, sagte er. Wozu lang
um den heißen Brei herumreden? »Ich habe euch schon
genug in Schwierigkeiten gebracht, und darum ist es wohl das beste,
wenn sich unsere Wege jetzt trennen. Um es genau zu sagen, werde
ich jetzt anfangen, mich zuzukippen, und da ich euch den Anblick
nicht zumuten möchte, solltet ihr gehen, bevor es zu spät
ist. Nehmt diese schmackhafte Wurst hier als Andenken. Der Bauer
hat sie mir geschenkt, weil er fand, sie passe besonders gut zu
seinem Hausgebrannten, aber ich da ich keinen besonderen Hunger
habe, ist es voll besser, wenn ihr sie eßt.«
Das war nicht ganz das, was der Bauer gesagt hatte. In der Tat
hatte der Text gelautet: »Also gut, mein Junge, ich verkaufe
dir wirklich zwei Flaschen, aber dafür bestehe ich auch
darauf, daß du diese Wurst hier vorher ißt. Du solltest
auf jeden Fall etwas Solides im Bauch haben.« Aber warum
hätte Felder auch versuchen sollen, dem gewünschten
Effekt entgegenzuwirken?
Ein Stöhnen und ein kaum
merkliches Zucken deuteten darauf hin, daß langsam wieder
Leben in das nasse Bündel auf dem Scheunenboden kam.
»Er lebt!« rief Lonnìl. »Er kommt zu
sich!«
»Das wurde ja auch langsam mal Zeit«, sagte Morren.
»Vier Eimer voll Wasser! Wenn er auf den nächsten nicht
reagiert hätte, wäre selbst ich mit meiner Weisheit am
Ende gewesen. Dann hätten wir ihm nur noch zu einer gelungenen
Aktion gratulieren können. Saubere Arbeit, allerdings nur im
übertragenen Sinn.«
Das Stöhnen wurde lauter. Felder rührte sich und machte
sogar den Ansatz, ein Auge zu öffnen. Aber es dauerte noch
einige Momente, bis in seinem Blinzeln so etwas wie Erkennen lag,
oder zumindest Wahrnehmung der Umgebung. Dann ertönte ein
weiteres Stöhnen. Das Auge schloß sich wieder.
»Sei so gut, Lonnìl, und hol noch etwas
Wasser«, sagte Morren. »Ich denke, er kann noch etwas
vertragen.«
Lonnìl nahm den leeren Eimer und lief nach draußen,
um ihm am Brunnen zu füllen. Morren bedachte Felder mit einem
unbarmherzigen Blick, und so stand er auch noch, als Lonnìl
zurück kam. Der fünfte Eimer schaffte es endlich, Felder
das volle Bewußtsein wiederzugeben, auch wenn dieser
darüber nur bedingt glücklich schien. Er lehnte sich mit
einem Mittelding aus Liegen und Sitzen gegen die Scheunenwand,
blickte verwirrt zwinkernd um sich und litt offensichtlich.
»Ich frage mich, was du dir dabei gedacht hast«, sagte
Morren nachdenklich. »Es sah weniger so aus, als ob du dich
betrinken wolltest, sondern mehr, als ob du möglichst schnell
aus dem Leben scheiden wolltest. Wie ist es - wolltest du
sterben?«
»Ich bin gerade dabei«, ächzte Felder, »und
ich wäre dir dankbar, wenn du das Licht von meinem Gesicht
wegnehmen könntest.«
Lonnìl schüttelte den Kopf. Die Hände des
Zauberers waren leer. Das einzige Licht fiel von draußen
durch einige Ritzen zwischen den Brettern hinein, und es war eher
schummrig in der Scheune. Aber selbst das war Felder in seinem
derzeitigen Zustand wohl zuviel. Seine Augen waren rot und
verquollen.
»Geht weg! Laßt mich sterben!«
»Wir hätten uns wohl kaum einen Tag und zwei
Nächte darum bemüht, dich ins Leben zurückzurufen,
wenn wir dich jetzt sterben ließen«, bemerkte Morren
trocken. »Das hast du natürlich wie üblich unserem
Freund Lonnìl zu verdanken. Nichts bereitet ihm mehr
Vergnügen, als dir das Leben zu retten. Auch wenn es diesmal
extrem unvergnüglich war, nicht wahr,
Lonnìl?«
Lonnìl antwortete nicht und versuchte, auch nicht mehr an
die vorletzte Nacht zu denken. Es war einfach nur widerlich
gewesen.
»Erwartet keine Dankbarkeit von mir«, nuschelte
Felder. »Ein schöner schneller Tod wäre diesem
Elend eindeutig vorzuziehen gewesen, ganz gleich, ob ich es nun
überlebe oder nicht.«
»Also wolltest du dich wirklich umbringen?«
»Ich glaube, ich hatte die Möglichkeit in Betracht
gezogen. Frag mich doch nicht so was Schweres! Ich versuche gerade
auf die Reihe zu bekommen, wer ich bin, wer ihr seid, und wie ich
in dieses Loch hier gekommen bin. Ihr könntet euch ruhig
einmal nützlich machen, statt da rumzustehen und zu gaffen.
Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich früher weniger
Zunge hatte. Im Ausgleich dazu konnte ich sie so bewegen, wie ich
wollte. Habt ihr nichts zu trinken?«
»Du hast nichts übrig gelassen«, bemerkte
Morren.
»Wasser, ihr Idioten!«
»Man sollte meinen, auch davon hättest du mehr als
genug gehabt. Es ist aber noch ein Rest im Eimer.«
Lonnìl reichte Felder dem Eimer, aber die Hände des
Prinzen zitterten so stark, daß er ihn nicht alleine halten
konnte. Schließlich mußte Lonnìl ihm das Wasser
beinahe einflößen, denn Felder versuchte zu trinken,
ohne dabei den Kopf auch nur einen Deut zu bewegen. Der
größte Teil des Wassers lief ihm über Kinn und
Hals, aber das machte ihm wohl weniger aus als sein
Brummschädel.
»Was hast du mit mir gemacht, Zauberer?« wimmerte er.
»Warum müßt ihr mich derart bestrafen?«
»Weil du es nicht anders verdient hast«, sagte Morren
unbarmherzig. »Mach den Mund wieder auf!« Er zog einen
kleinen Beutel aus der Tasche und schüttete daraus etwas
Pulver in Felders gehorsam geöffneten Rachen. Felder schluckte
reflexartig, verzog das Gesicht, hustete, würgte und riß
ungeachtet aller damit verbundenen Körperbewegungen den Eimer
an sich, um den letzten Schluck Wasser dem Pulver
hinterherzugießen.
»Willst du mich auch noch vergiften? Was war das -
Brechwurz?«
»Nein, das hast du nicht mehr nötig. Du hattest es
vorgestern mindestens so eilig, den Fusel wieder von dir zu geben,
wie du ihn in dich hineingeschüttet hast - was dir
übrigens wohl das Leben gerettet hat. Das hier war
zerstoßene Weidenrinde. Wirkt meiner Erfahrung nach ganz gut
in solchen Fällen. Aus meiner Zeit in diesem Dorf hatte ich
noch ein paar von den hilfreichen Kräutern in der Tasche. Ich
wußte immer, daß es ein Fest gegeben hatte, wenn die
Dorfjugend kam und etwas gegen Kopfschmerzen und Übelkeit
haben wollte. Da mein geschätzter Bruder viel Zeit für
seine Studien braucht, blieb die Aufgabe, sich um diese Kinder zu
kümmern, für gewöhnlich an mir
hängen.«
»Sie gingen zu einem Zauberer?« fragte Lonnìl
erstaunt. »In meinem Dorf hatten wir zu diesem Zweck eine
Kräuterfrau.«
»So etwas gab es in unserem Dorf natürlich auch. Es
gibt sie überall - unsere Freundin Oana zum Beispiel war mit
Sicherheit eine. Aber unser Kräuterweib wurde eines Tages vom
Blitz erschlagen, und das sahen die Leute als Zeichen dafür
an, in Zukunft bei uns um Wunder zu bitten. Sie zahlten ganz
anständig. Vermutlich hatten sie Angst, wir könnten sonst
auch Blitze auf den Hals schicken. Jedenfalls konnte man diesem
Leuten mit Zaubereien nicht viel weiterhelfen. Sie waren an
Kräuter gewöhnt, und darum wollten sie nichts
anderes.«
»Freiwillig?« fragte Felder und schüttelte
sich. Es schien ihm aber tatsächlich schon etwas besser zu
gehen. Er hatte jetzt beide Augen fast voll geöffnet und
stöhnte nicht mehr bei jeder Bewegung auf, und das, was er
sagte, war jetzt auch deutlicher zu verstehen. »Sie
müssen wahnsinnig sein. Glaubt es mir oder nicht, aber dies
ist das erste Mal in meinem Leben, daß es mir derart dreckig
geht, und ich habe beschlossen, daraus meine Lektion zu
lernen.«
»Soll das heißen, du hörst auf mit dem
Trinken?« fragte Lonnìl. Das wäre zwar
phantastisch gewesen, aber er glaubte nicht daran. Es war eine
natürliche Reaktion, am nächsten Tag zu schwören,
nie wieder einen Tropfen anzurühren. Und Felder hatte nicht
einmal das vor.
»Bloß nicht! Aber ich werde es in Zukunft wieder so
unter Kontrolle halten wie früher. Ab einem gewissen Punkt
hört es auf, angenehm zu sein. Es gibt sicher schönere
Arten, sein Leben zu verlieren, und ich habe doch vor, es noch
einige Zeit zu behalten, zumindest für ein paar Jahre. Es gibt
soviel, was ich noch tun kann. Aber … waren wir nicht
früher mal zu fünft? Wo sind die Elfen?«
»Sie konnten deinen Anblick nicht länger
ertragen«, sagte Lonnìl, »und ich kann es ihnen
nicht verdenken.«
»Du hast Keil innerhalb von einem Abend mehr über
Menschen beigebracht, als er jemals wissen wollte«,
fügte Morren hinzu. »Er und Schwinge warten in einem
Wäldchen dort drüben auf uns. Wenn es nach ihnen gegangen
wäre, dann hätten wir dich wirklich deinem Schicksal
überlassen, und wären weg gewesen, noch bevor du weg
warst.«
Felder verzog wieder das Gesicht beim Versuch nachzudenken.
»Zu meiner Information - habe ich irgend etwas … zu
ihnen gesagt? Erzählt mir das nur noch, dann könnt ihr
wirklich gehen und mich allein lassen. Ich werde euch keine
Probleme mehr bereiten. Ich komme schon zurecht. Also … was
habe ich noch getan?«
»Gar nichts. Ich habe in all der Zeit noch nie jemanden
gesehen, der es so eilig hatte wie du. Du hast länger
gebraucht, die zweite Flasche zu öffnen, als sie
hinunterzustürzen, falls es dich beruhigt. Danach dauerte es
nur noch ein paar Augenblicke, und du bist vornüber gekippt.
Vielleicht hättest du vorher die Wurst essen sollen. Drei Tage
hungern und dann das - vermutlich hätte jeder andere nur die
erste Flasche geschafft. Es war wohl ziemlich stark?«
Felder nickte mit nicht zu übersehendem Stolz und brachte ein
verzerrtes Lächeln zustande. »Niemand weiß, wie er
es macht. Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt keinen Bauern, der
ein stärkeres Zeug brennt. Es heißt, man muß es
nur einmal schief ansehen, und es geht in Flammen auf. Abgesehen
davon schmeckt es durchaus passabel. Der Bauer wird sich sicher
wundern, wenn ich heute abend zu ihm gehe und meine Vorräte
wieder auffrische. Wenn er sieht, daß ich noch lebe, wird er
sich sicher daran machen, die Rezeptur noch etwas zu verbessern.
Und jetzt - macht es gut. Viel Erfolg noch auf eurer Suche. Aber
ohne mich dürfte es nicht mehr schwer sein. Wünscht mir
Glück.« Ohne weitere Vorwarnung verdrehte er die Augen,
und sein Kopf kippte nach vorne. Aber sein gleich darauf
einsetzendes Schnarchen machte klar, daß er nicht wieder
bewußtlos geworden, sondern nur eingeschlafen war. Wenn er
wieder wach wurde, würde es ihm sicher besser gehen.
Lonnìl und Morren verließen die Scheune und gingen
zum Wald hinüber. Die Elfen warteten schon auf sie. Jetzt erst
fiel Lonnìl auf, was er vergessen hatte: Felders Schwert
hing immer noch an seiner Seite. Früher hätte er das zwar
nicht für möglich gehalten, aber er hatte sich so sehr an
das sperrige, schwere Ding gewöhnt, daß er vergessen
hatte, es Felder zurückzugeben. Dabei wollte er es doch gar
nicht behalten! Aber jetzt war es zu spät. Lonnìl
überlegte zwar noch kurz, ob er zurücklaufen und das
Schwert neben Felder legen sollte, damit er es fand, wenn er
aufwachte, aber die Elfen waren nicht länger bereit, noch
länger zu warten. Das war auch nur zu verständlich. Wegen
Felders Unvernunft hatten sie schon zwei Tage in diesem
Wäldchen ausharren müssen, obwohl sie es sicher kaum
erwarten konnten, endlich die Flöte in den Händen zu
halten.
Sie waren schon ein ganzes Stück gegangen, als Lonnìl
plötzlich begriff, wie nötig Felder sein Schwert jetzt
brauchen würde. Mit dem Dolch, den er ansonsten noch hatte,
würde er alleine nicht weit kommen. Und von was wollte er
leben? Aber das wollte Lonnìl lieber nicht so genau
wissen.
Erstaunlicherweise konnte Lonnìl nicht einmal sagen, ob
Felder ihm nun fehlen würde oder nicht. Auf der einen Seite
war er froh, diese lästige Nervensäge los zu sein. Aber
auf der anderen Seite … Es war auf einmal so ruhig. Niemand
redete. Zwar hatte Lonnìl nur auf das Allerwenigste von dem,
was Felder sagte, geachtet, weil es sich oft nicht lohnte, ihm
zuzuhören, aber irgendwie war er längst daran
gewöhnt. Dieses Schweigen hatte etwas Bedrückendes an
sich.
Doch trotz aller doch vorhandener Zuneigung, die Lonnìl
dazu bewegt hatte, bei Felder zu bleiben und sich um ihn zu
kümmern, bis sicher war, daß er überlebt hatte, war
es doch das Beste, daß der Prinz nicht mehr dabei war. Dinge,
die ihm Felder während des Streites an den Kopf geworfen
hatte, drängten sich nun wieder in Lonnìls Sinn:
Daß er alles nur so sah, wie er es sehen wollte. Obwohl
Lonnìl vorgegeben hatte, nichts um diese Behauptung zu
geben, konnte er doch nicht verhindern, daß sie nun an ihm
nagte. Und genau deswegen war es gut, daß ihm nun weitere
Konfrontationen mit Felder erspart bleiben würden. Nachdem
dieser Streit einmal angefangen hatte, war er nicht mehr so leicht
beiseitezulegen. Früher oder später hätte
Lonnìl, statt zuzuschlagen, Stellung zu dem beziehen
müssen, was Felder gesagt hatte - und genau das konnte er
nicht. Natürlich liebte er Schwinge - oder liebte er nur das
Bild, das er sich von ihr gemacht hatte? Hatte sie ihm jemals
Anlaß gegeben, sie zu lieben? Was waren seine Gefühle?
Etwas in seinem Innern krampfte sich schmerzhaft zusammen, als
Lonnìl merkte, daß er die ganze Zeit über nur
versucht hatte, Felders Wesen zu ergründen - und dabei
völlig versäumt hatte, sich über sich selbst klar zu
werden.
Bedrückt folgte er Schwinge in einigen Schritten Entfernung,
als Keil an ihn herantrat. »Er wird es doch überleben,
oder? Ich meine - ich habe etwas Derartiges noch nie
gesehen.«
Weder Lonnìl noch Morren hatten gegenüber den Elfen
auch nur ein Wort über Felders Zustand verloren, und die
hatten auch nicht danach gefragt. Lediglich ein leichtes Kopfnicken
Morrens hatte angedeutet, daß jetzt alles wieder in Ordnung
war. Aber Lonnìl hatte erwartet, daß Keil irgendwann
fragen würde.
»Du kannst sicher sein - ich auch nicht. Ich habe sicher
schon etliche Betrunkene erlebt, aber das …« Er
schüttelte sich. »Wenn wir uns nicht um ihn
gekümmert hätten, wäre er gestorben. Ich bin mir
nicht sicher, aber ich glaube, Morren hat etwas mit ihm gemacht,
daß ihn gerettet hat. Etwas … Magisches, meine
ich.«
»Oh«, sagte Keil betroffen. »Hat Felder das
gewußt - daß es ihn umbringen konnte?«
»Mit Sicherheit. Er hat es darauf ankommen lassen. Du kennst
ihn - es ist ihm egal, ob er eine Sache überlebt oder
nicht.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Keil. »Ich bin
kein Mensch, und vermutlich irre ich mich, aber ich hatte immer den
Eindruck, daß Felder so sehr an seinem Leben hängt,
daß er gar nicht mehr daran glaubt, daß er es wirklich
verlieren könnte. Er sagte zwar immer, er wünsche sich
einen schönen schnellen Tod, aber was er in Wirklichkeit
wollte, war Unsterblichkeit. Irgendwann hatte er so viele Gefahren
überlebt, daß er angefangen hat zu glauben, er sei
wirklich unsterblich. Und darum muß er jetzt sein Leben immer
wieder herausfordern, um zu sehen, ob er Recht hat.« Keil
schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Schwinge ist
natürlich froh, daß er weg ist, aber ich glaube, er wird
mir fehlen. Ich mochte ihn. Irgendwie habe ich ihn bewundert,
glaube ich.«
»Aber er hat es überlebt, Keil! Du redest von Felder,
als ob er schon tot wäre!«
»Wenn er nicht wirklich unsterblich ist, wird er es beim
nächsten Mal nicht überleben.«
»Ich denke nicht, daß er es noch einmal tun
wird«, sagte Lonnìl und mußte gegen seinen
Willen plötzlich lachen. »Weniger aus Angst davor,
daß es ihn umbringt, sondern daß er es noch einmal
überlebt.« Und er erzählte dem zugleich
faszinierten und entsetzten Elfen davon, wie sehr der Thorianer
beim Erwachen gelitten hatte.
Aber seine Gedanken waren dabei nicht bei Felder, sondern bei
Schwinge und ihm selbst. Wäre die Elfe in der Lage, seine
Liebe zu erwidern? Hatte sie jemals Liebe zu irgend etwas gezeigt?
Sie mochte keine Menschen, und er konnte es ihr nicht verdenken.
Aber warum nicht? Die Menschen waren doch nicht böse! Es gab
gute und schlechte Menschen, und sicher waren diejenigen, die
Schwinges Eltern getötet hatten, von der sehr bösen Sorte
gewesen, aber das bedeutete doch nicht, daß es überhaupt
keine guten Menschen gab! So zu denken war falsch, es war wie
… wie …
wie zu denken, daß alle Adligen schlecht waren, nur weil
einer von ihnen seine Familie getötet hatte.
Erst, als er Keil besorgt fragen hörte und die schlanke Hand
des Elfen auf seinem Arm fühlte, merkte Lonnìl,
daß er, zum ersten Mal seit vielen Jahren, zu weinen begonnen
hatte.
Diese Gegend wurde ziemlich
stark von den Menschen besiedelt. Seit Felder sie verlassen hatte,
waren sie schon an zwei umfriedeten Ortschaften vorbeigekommen, und
die Getreidefelder der Bauernhöfe umsäumten ihren Weg.
Zum Glück waren genug Bäume geblieben, um ihnen Schatten
und Schutz zu spenden, denn der Sommer war in seinen wärmsten
Abschnitt eingetreten. In den Wäldern waren die Sommer niemals
so heiß gewesen - auch die wärmsten Tage dort waren im
Vergleich zu diesen immer noch angenehm kühl. Vielleicht lag
es aber auch daran, daß sie nun immer weiter nach Süden
wanderten und noch vielleicht einen halben Monat von den
Glühenden Höhen entfernt waren. Schwinge hielt ihre Augen
auf den Horizont gerichtet, in der Hoffnung, dort endlich die
ersten Ausläufer der Berge zu entdecken. Aber nur im fernen
Westen gab es die Schatten einer Bergkette.
Die Reise verlief angenehmer ohne Felder, weniger hektisch.
Endlich konnten sie wieder in ihrer Zeit leben und bekamen nicht
mehr den sehr viel schnelleren, hastigen Rhythmus der Menschen
aufgedrängt. Alles wäre gut gewesen ohne Lonnìl.
Aber nun, da der andere Mensch ihn nicht mehr ablenken konnte,
entwickelte er sich zu einem echten Problem. Immer wieder kam er zu
ihr.
»Schwinge, ich muß mit dir reden … bitte! Es
ist wichtig!«
Warum begriff er nicht, daß sie nicht mit ihm reden wollte?
Alles, was sie ihm zu sagen hatte, war gesagt worden. Was sollte
sie tun? Mehr als zu wiederholen, daß sie nichts weiter von
ihm wollte als ihren Frieden, konnte sie nicht. Schließlich
suchte sie Rat bei Morren.
»Vielleicht solltest du tatsächlich mit ihm
reden?« schlug der Zauberer vor. »Die Sache ist die -
er weiß nicht mehr, was er von dir denken soll. Und er
möchte von dir einen Rat, was er tun soll.«
»Er soll gehen«, erwiderte Schwinge. »Meine
Einstellung ihm gegenüber hat sich nicht geändert.
Natürlich glaube ich jetzt, daß er uns wirklich helfen
will, aber ich kann auf seine Hilfe verzichten, und ich mag die Art
nicht, wie er mich immer ansieht.«
»Dann sage ihm das«, sagte Morren. »Am Besten
noch heute. Vielleicht wird er ja diesmal auf dich
hören.«
Schwinge zögerte lange. Sie konnte nicht einfach zu
Lonnìl hingehen und es ihm sagen. Aber dann nahm
Lonnìl ihr dieses Problem ab. Als sie am Abend um das Feuer
saßen, stand der Mensch plötzlich auf.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er laut. »Das geht
so nicht mehr weiter. Und ich habe einen Entschluß
gefaßt, den du vermutlich begrüßen wirst,
Schwinge. Bevor ich weiß, ob ich dich wirklich immer noch
liebe, muß ich erst einmal Abstand zu dir gewinnen. Morren
meinte auch, es wäre vielleicht das Beste, wenn ihr das letzte
Stück eurer Suche ohne menschliche Begleitung zurücklegt.
Immerhin geht es um die Zukunft der Elfen, nicht um die der
Menschen. Wäret ihr damit einverstanden, mich hier
zurückzulassen? Ich habe euch nie in dem Maße helfen
können, wie ich es gerne getan hätte.«
»Du willst auch gehen, wie Felder?« fragte Keil, und
es klang bedauernd. Aber der Barde schien ja selbst Felder zu
vermissen.
»Ich war sehr gerne mit euch zusammen«, antwortete
Lonnìl. »Und ich wäre es gerne noch immer. Wenn
ihr die Flöte gefunden habt, und ihr glaubt, mich auf dem
Rückweg noch ein Stück lang ertragen zu können, dann
kommt wieder hier vorbei. Wir könnten einen Treffpunkt
ausmachen. Wenn ich dann dort bin, dann hat mein Herz seine
Entscheidung gefällt, und ich weiß, daß ich
Schwinge wirklich liebe. Sollte ich nicht dort sein, dann bin ich
die ganze Zeit hinter einem Traum hergelaufen, den es niemals gab,
und ich werde euch nie wieder belästigen.«
Schwinge hätte ihm niemals derartige Vernunft und
Selbstbeherrschung zugetraut. Sie wußte nichts, was gegen
diesen Vorschlag gesprochen hätte. Immerhin ließ
Lonnìl ihr die freie Wahl, auch wenn sie jetzt schon
wußte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren
würde. Ihr entging nicht, wie schwer dem Menschen diese
Eröffnung gefallen war. Sein Vorschlag war für alle das
Beste, auch für ihn. Sicher würde er schnell merken,
daß er sie nicht wirklich geliebt hatte, und selbst wenn sie
diese Gegend auf dem Rückweg noch einmal durchquerten,
würde er sicher nicht mehr dort sein.
Zum ersten Mal lächelte sie Lonnìl aus freiem Herzen
an. »Ich möchte dein Angebot annehmen.«
Als Lonnìl jetzt zuerst schluckte und dann zu schluchzen
anfing, wußte sie nicht, ob er dies nun vor Erleichterung tat
oder vor Kummer, weil er sie verlassen mußte. Aber eigentlich
war es ihr auch relativ egal.
Am nächsten Morgen, als ihr Weg sie an einem Gasthaus
vorbeiführte, sagte der Mensch: »Wartet! Ich glaube, das
hier ist der beste Ort, um uns später wieder zu treffen - wenn
ihr kommen wollt und ich noch hier bin. Seid ihr
einverstanden?«
Schwinge und die anderen nickten. Lonnìl blickte zu Boden,
dann umklammerte er seinen Stab mit beiden Händen, drehte sich
langsam um und betrat das Haus. Sie waren ihn los, aber
seltsamerweise fühlte sich Schwinge nicht so erleichtert, wie
sie vorher angenommen hatte. Auf eine gewisse Weise hatte sie sich
an ihn gewöhnt, wie auch an Felders verquere Abhandlungen
über die Zeit.
Es war merkwürdig. So plötzlich, wie diese Menschen in
ihr Leben getreten waren, waren sie nun wieder verschwunden. Aber
es war das Beste, so wie es war. Jetzt endlich konnten sie sich auf
das konzentrieren, weswegen sie überhaupt aufgebrochen waren:
Die Flöte aus Eis zu finden.
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