The Dark will end the Dark, if
anything
Edwin Arlington
Robinson
Es gab verschiedene Arten von
Dunkelheit. Normalerweise fühlte sich Felder im Dunklen ganz
wohl. Gegenüber dem Licht hatte es den entscheidenden Vorteil,
daß es niemals blendete. Außerdem verbarg es Dinge, die
man lieber nicht sah - und Leute, die lieber nicht gesehen werden
wollten. Natürlich erschwerte es die Orientierung. Aber wer im
Stockdunklen gegen eine Wand rannte, konnte die Schuld den
Lichtverhältnissen zuschieben. Bei Tag mußte man sich da
schon originellere Ausreden ausdenken. Wenn also jemand Felder vor
die Wahl gestellt hätte zwischen Licht und Dunkelheit, so
hätte er zumindest eine Bedenkzeit erbitten müssen.
Vorausgesetzt, daß es sich um die richtige Art von Dunkelheit
handelte.
Diese hier war anders. Dies war nicht die gewöhnliche
Abwesenheit von Licht, sondern die Anwesenheit von Dunkel. Jedes
Licht hätte hier auf verlorenem Posten gestanden. Fast glaubte
Felder, die Schwärze spüren zu können. Sie drang ihm
in Ohren und Nase ein, und er schluckte unwillkürlich, als
habe sie auch seine Zunge belegt. Er schüttelte sich. Was war
dies für ein Ort? War dies überhaupt ein Ort? An
Orten spürte man den Boden unter den Füßen, es sei
denn, man lag - dann spürte man den Boden am Rest des
Körpers. Hier spürte er nichts. Weder Boden, noch Luft.
Einfach nur Dunkelheit. Und wo waren die anderen?
»Hallo?« fragte er. »Lonnìl, Morren,
Elfen? Irgend jemand zu Hause?« Er streckte tastend die Arme
aus. Dies war nicht so unglaublich und ungewöhnlich,
wie es vielleicht auf den ersten Blick aussah. Er war schon an den
merkwürdigsten Orten aufgewacht. Für alles gab es eine
logische Erklärung. Seine Erinnerung endete damit, daß
sie alle im Wald standen. Vielleicht war ihm ein abgebrochener Ast
auf den Kopf gefallen und hatte ihn außer Gefecht gesetzt?
Aber genaugenommen hatte er nicht das Gefühl, daß ihm
irgend etwas fehlte. Eben noch war er im Wald, jetzt stand er im
Dunklen. So einfach war das. Und da war auch schon die logische
Erklärung. Er mußte sich keinerlei Sorgen machen. Sie
waren immer noch im Wald. Es war nur plötzlich stockfinster
geworden. Mit Magie war vieles -
Falsch, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Du hast vollkommen
unrecht. Es war nicht direkt eine Stimme. Felder war
sich vollkommen sicher, daß er sie nicht mit seinen Ohren
gehört hatte. Und es war auch nicht direkt eine Stimme.
Es klang wie unzählige Stimmen, die gleichzeitig sprachen.
Nicht durcheinander. Auch nicht wie ein Chor. Man konnte keine
einzelnen Stimmen ausmachen. Es klang einfach wie Viele.
»Wer ist da?« fragte Felder. Etwas Dümmeres fiel
ihm in diesem Moment nicht ein. Vermutlich bekam er auch deswegen
keine Antwort. Zumindest nicht von denen, die zuletzt gesprochen
hatten.
»Felder?« fragte Lonnìl. Felder konnte ihn
nicht ausmachen. Es gab kein Rechts und Links mehr. Alles war ein
einziges Irgendwo. Aber immerhin war Lonnìl da. Es gab
keinen Grund, sich Sorgen zu machen.
Lonnìls Stimme klang ängstlich, was man ihm in
Anbetracht der Lage nicht weiter übel nehmen konnte. Und was
war mit Felder selbst? Er war angespannt bis in die Zehenspitzen.
Jeder Sinn in seinem Körper schrie ‘Gefahr!’.
Diese seltsame Situation war so neu und so unerwartet, daß er
keine Ahnung hatte, wie er sie einschätzen sollte. Mit anderen
Worten: Er fühlte sich großartig. Dies versprach ein
wirkliches Abenteuer zu werden. Wahrer Nervenkitzel von oben bis
unten. Felder liebte neue Gefahren.
»Lonnìl, schön, daß du da bist!«
rief er fröhlich. »Stell dir vor: Ich sehe nichts, habe
die Orientierung verloren und höre viele kleine Stimmen in
meinem Kopf. Und was machst du so?«
Es scheint dir hier ja ausgezeichnet zu gefallen.
»Mit euch habe ich nicht geredet! Aber wo wir schon einmal
dabei sind - wer seid ihr?«
Wir sind die Dunklen. Und wir sind erfreut, daß ihr euch,
unserer Einladung folgend, so zahlreich versammelt habt.
Irgendwo tauchte ein heller Fleck auf - sicherlich steckte
wieder Morren dahinter. Aber das Licht machte die Finsternis nicht
einen Deut heller. Es schien die Schwärze der Umgebung nur
noch stärker zu betonen.
»Einladung? Was für eine Einladung?« fragte
Morren. Seine Stimme klang fordernd. Noch einer, der sich nicht
einschüchtern ließ. »Und wo sind wir
hier?«
Dies ist das Dunkel.
»Na wunderbar«, sagte Felder. So, wie es aussah, blieb
ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten, was nun passieren
würde. Da konnte er sich auch gleich auf den Boden setzen.
Nur, daß es keinen Boden gab. Aber wenn er schon einmal im
Nichts festsaß, konnte er es sich zumindest bequem machen. Es
war ein wenig wie Schwimmen, oder noch mehr wie Tauchen, wo man
auch nichts als Raum rund um sich herum hatte. Nur weniger
naß. Und das Atmen fiel Felder bedeutend leichter als unter
Wasser. Zumindest Luft schien es zu geben.
So ist es recht. Macht es euch gemütlich.
Ein dunkles Lachen folgte, das durch Mark und Bein ging. Felder
empfand sich selbst nicht als besonders zimperlich, und so
schreckte er normalerweise davor zurück, andere Leute als
grausam zu bezeichnen (abgesehen von Morren, gelegentlich), aber
dieses Lachen war so ziemlich das Grausamste, was er je gehört
hatte.
Wir haben euch nicht ohne bestimmten Grund herbestellt, sagten
die Stimmen in seinem Kopf. Eure faszinierende Suche ist nicht
unbemerkt geblieben. Wir haben immer einen interessierten Blick auf
die Vorgänge in eurer Welt, und euer bedauernswertes Scheitern
in der Trommel hat uns gerührt, so daß wir beschlossen
haben, euch zu helfen. Wir halten die Idee, die sagenhaften
Instrumente der Hohen zusammenzutragen, für ausgesprochen
löblich, insbesondere, da wir selbst eines dieser Instrumente
besitzen. Wie ist es - seid ihr interessiert?
»Was habt ihr denn so zu bieten?« fragte Felder.
Sollten die anderen ruhig ihm das Feilschen überlassen!
Dafür hatte er eine gewisse Begabung, und außerdem
schien er von allen diese Situation am gelassensten zu
nehmen.
Ratet doch einfach.
»Die Harfe aus Laub?« schlug Felder vor, obwohl er
wußte, daß sie es nicht sein konnte. ‘Auf der
Harfe spielt das Licht’, das hatte er sich gemerkt, und das
war hier schwer möglich. Aber man mußte sich in einem
wichtigen Handel immer dumm stellen, bevor man seinen Gegner
über den Tisch zog. Wie erwartet begannen die Dunklen zu
lachen.
Falsch. Wir lassen den Feen ihr Vergnügen.
Selbstverständlich besitzen wir die Laute.
»Wie kommt ihr an Instrumente der Hohen?« fragte
Morren.
Es wurde uns gewissermaßen zugespielt. Aber offen gesagt,
können wir nicht viel damit anfangen. Daher wäre es uns
ein Vergnügen, sie euch zur Verfügung zu stellen. Die
Hohen Völker müssen schließlich
zusammenhalten.
»Wer seid ihr?« fragte Morren noch einmal,
vorsichtiger. »Ich weiß alles über die Hohen
Völker, aber von euch habe ich noch niemals
gehört.«
Auch Zauberer können nicht alles wissen. Wir Dunklen leben
ein wenig zurückgezogen, außerhalb von dem, was ihr Raum
und Zeit nennt. Gefällt es euch nicht bei uns?
»Nicht entsetzlich gut«, gab Felder offen zu.
‘Gefallen’ war nicht das richtige Wort. »Aber ich
kann natürlich nur für mich sprechen, solange ich meine
Freunde nicht sehen kann.« Wie als Antwort hörte er ein
ganz schwaches Wimmern von irgendwoher. »Was ist mit den
Elfen?«
»Den Alifwin geht es ziemlich schlecht«, sagte Morren.
»Sie vertragen die Dunkelheit nicht, und ich weiß
nicht, wie lange sie hier noch durchhalten.«
Das ist nicht weiter verwunderlich. Leben ist für sie gleich
Licht, folglich sind auch Dunkelheit und Tod eins. Aber sorgt euch
nicht. Wir werden nicht zulassen, daß ihnen wirklich etwas
passiert. Wir töten niemanden. Es ist euer Leben, an dem wir
uns erfreuen.
»Laßt uns von hier fort«, rief Morren.
»Schnell! Quält sie nicht länger!«
Ihr wollt die Laute nicht mitnehmen? Da seid ihr durch die halbe
Welt gereist, und nun, wo ihr am Ziel seid, wollt ihr
unverrichteter Dinge wieder gehen?
»Dann gebt uns endlich diese verdammte Laute!« Es
fehlte nicht mehr viel, bis Felder seine Geduld verlieren
würde. Warum stellten sie nicht endlich ihre Forderungen? Denn
Forderungen würde es geben. Diese Dunklen waren nicht von der
Art, die Geschenke machte.
Euch ist doch hoffentlich klar, daß wir das nicht einfach so
können. Dafür ist uns unsere Laute viel zu lieb geworden,
als daß wir sie einfach so an die Erstbesten verschenken
können, egal, wie löblich ihr Ansinnen auch sein
mag.
Er hatte es gewußt! »Was wollt ihr von
uns?«
Diese Laute ist unbezahlbar. Verkaufen können wir sie daher
nicht, und auch nicht eintauschen. Aber wenn sich auch nur einer
von euch bereit erklären würde zu einem kleinen Spielchen
…
»Was muß ich tun?« fragte Felder. Dies war eine
Herausforderung, die keiner von den anderen angenommen hätte.
Aber er war in seinem Element. Es war lange her, daß
er zuletzt ein richtiges Spiel gehabt hatte. In letzter Zeit war er
viel zu selten gefordert worden.
Die Regeln sind einfach. Einer von euch setzt alles, was ihm
gehört. Wenn er - oder sie - gewinnt, erhält er - oder
sie - die Laute. Habt ihr das verstanden? Akzeptiert ihr?
»Ich akzeptiere!« sagte Felder schnell, bevor die
anderen auf die Idee kommen könnten, ihn daran zu hindern.
Spiele mit hohem Risiko machten den meisten Spaß, auch wenn
es bedeuten konnte, daß man plötzlich kein Pferd mehr
hatte, so wie im letzten Herbst.
»Tu das nicht!« warnte Morren auch schon. »Es
ist zu gefährlich!«
»Ich denke, wenn es um die Laute geht, ist nichts zu
gefährlich. Ihr wollt sie haben, oder etwa nicht? Und es
muß sich schließlich für euch auch lohnen, mich
die ganze Zeit ertragen zu haben. Wir dürfen keine Zeit mit
Skrupeln verlieren, sonst sind nachher die Elfen hin. Es muß
also schnell gehen. Ich möchte, wenn dies hier vorbei ist,
Schwinge gegenübertreten können und sagen: ‘Da hast
du es, Menschen sind doch zu etwas gut.’ Und ich habe bereits
zugesagt. Es gibt kein Zurück mehr.«
Du kannst es dir noch einmal überlegen.
»Da gibt es nichts zu überlegen. Ich spiele jetzt, und
wenn ich verliere, dann habe ich eben verloren. Viel habe ich
ohnehin nicht zu bieten. Ich bin ein weitgehend mittelloser
Herumstreuner, was das betrifft. Natürlich weiß ich
nicht, was ihr unter ‘alles’ versteht. Schlimmstenfalls
verliere ich mein Leben. Für den Fall möchte ich ein paar
Vorsorgen treffen. Das darf ich doch noch, oder?«
Tu, was du nicht lassen kannst.
Es wäre ein Jammer, wenn das Schwert den Dunklen in die
Hände fiel. Von allen seinen Besitztümern war es sicher
das wertvollste, und das, woran sein Herz am meisten hing. Felder
hatte noch nie irgendwo sein Schwert gesetzt. Und er würde es
auch jetzt nicht tun.
»Lonnìl«, sagte er mit ernster Stimme.
»Es ist relativ gut möglich, daß ich das hier
nicht überstehe. Falls dem so sein sollte, möchte ich dir
jetzt sagen, was für ein guter Freund du mir geworden bist,
trotz deiner Versuche, mich zu Mus zu verarbeiten. Deine Geduld mit
mir und deine Treue möchte ich gerne belohnen, indem ich dir
etwas schenke. Komm her!« Felder tastete um sich. Irgendwo
mußte Lonnìl schließlich sein. Im Nichts konnte
es keine unendliche Weite geben. Das widersprach sich. Folglich war
Lonnìl in direkter Nähe. Schließlich bekam Felder
tatsächlich eine Hand zu fassen, die zu seinem Freund
gehören mußte. Er hatte lange genug mit dem Bauern
trainiert, um zu wissen, wie sich dessen schwieligen Pranken
anfühlten. »Lonnìl von Dunistan, ich schenke dir
hiermit mein Schwert. Hüte es gut.«
»Das kann ich nicht annehmen«, entgegnete
Lonnìl wie erwartet. »Und ich will es auch
überhaupt nicht.«
»Du wirst mir doch nicht den letzten Gefallen abschlagen
wollen, um den ich dich bitte? Du mußt es nicht einmal auf
Dauer behalten. Wenn ich das hier nicht überlebe, dann bringe
das Schwert nach Thoria, damit man dort weiß, was aus mir
geworden ist. Man wird dich fürstlich belohnen, und auf dem
Weg kannst du noch ein paar Grafen plätten. Wenn ich es doch
überlebe oder sogar gewinnen sollte, behalte das Schwert
trotzdem, als mein Freund. Wirst du das für mich
tun?«
Lonnìl war ein extrem edler Mann. An seinen Edelmut zu
appellieren funktionierte immer. Jetzt konnte er nicht mehr nein
sagen. »Das werde ich.« Es war schön, wenn man
sich auf seine Freunde verlassen konnte.
Felder überlegte fieberhaft, was für wertvolle Sachen er
sonst noch hatte, die er schnell verschenken konnte. Aber das
Einzige, was ihm einfiel, war sein silberner Stirnreif. Er lag
wieder ganz oben im Beutel. Auf die Dauer neigte er dazu,
Kopfschmerzen zu verursachen, weil er etwas drückte. Wie
schwer würde dann erst diese verdammte Krone sein? Aber Keil
hatte den Reif immer gemocht. Er sollte ihn haben.
Hast du jetzt alles erledigt, Mensch? fragten die Dunklen.
»Ich denke schon.«
Dann kann das Spiel beginnen.
Felder wartete gespannt, was nun geschehen würde. Die Dunklen
hatten nicht gesagt, was für ein Spiel es sein würde,
aber das war ihm auch egal. Jedes Spiel war gut, auch wenn in
diesem Fall die Dunklen alles daran setzen würden, zu
betrügen. Jetzt wußte er auch, woher der Ausdruck
‘jemanden hinters Licht führen’ stammte. Es war
gut, daß er nüchtern war. Hierfür würde er
jeden einzelnen Sinn brauchen, über den er verfügte, und
extrem scharfe Gedanken. Seltsam, daß er sich eines Tages
wünschen würde, klar zu denken!
Was ist? Warum spielst du nicht? Du hast den ersten Zug.
Sie hatten also schon angefangen? »Sehr witzig! Ich kann
überhaupt nichts erkennen! Es ist mir zu dunkel, wie ihr
durchaus wißt! Zu einem fairen Spiel gehört, daß
beide Parteien sehen können, was los ist.«
Es sei denn, man spielt ‘Blinde Kuh’. Aber du hast
natürlich recht. Wie nachlässig von uns.
Aus dem Nichts tauchte ein Spielbrett vor Felder auf. Es schien in
sich schwach zu leuchten, ohne dabei Licht an seine Umgebung
abzugeben. Die flachen, unregelmäßigen Spielsteine
schimmerten ebenfalls fahl, und sie schienen aus Knochen gemacht zu
sein. Von woher sie plötzlich aufgetaucht waren, wollte Felder
lieber gar nicht erst wissen, aber sie fühlten sich immerhin
ziemlich wirklich an. Aber das war nicht einmal das Wichtigste. Das
Wichtigste war, daß Felder nun erkannt hatte, um was es sich
überhaupt handelte.
»Dieses Spiel kenne ich«, murmelte er zufrieden.
»Und ich bin wirklich gut darin.«
Lange Zeit war nichts zu
hören als ein gelegentliches leises Klappern und Rascheln. Die
Spannung stieg immer weiter und war schon fast so erdrückend
wie die Dunkelheit selbst, als plötzlich, nach einer Ewigkeit,
wie es Lonnìl vorkam, Felder das Schweigen mit einem frohen
Aufschrei unterbrach.
»Hey, ich glaube, ich habe gewonnen!«
Falsch, sagte die unheimliche Stimme. Du hast verloren,
Dhelin von Thoria.
»Aber das geht nicht! Ich kenne dieses Spiel! Nach den
Regeln habe ich gewonnen.«
Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht, Dhelin. Vielleicht
hättest du dich vorher nach den Regeln erkundigen sollen? Dies
war gar nicht das Spiel, welches du zu kennen glaubtest. Es war
unser Spiel.
»Also hatte ich von Anfang an keine Chance«, sagte
Felder. Seine Stimme zittere vor unterdrückter Wut. Aber dann
lachte der Prinz, auch wenn es etwas erzwungen klang. »Nun
gut, ich gebe es zu, ihr wart besser als ich. Ihr habt mehr oder
weniger redlich gewonnen, und niemand soll sagen, daß ich
nicht verlieren kann. Nehmt von mir aus mein Gepäck und meine
Kleider. Sonst besitze ich nichts, was ich euch geben könnte.
Bis auf mein Leben.« Versonnen wiederholte er es noch einmal,
als versuche er vergeblich, sich über die volle Bedeutung der
Worte klarzuwerden: »Bis auf mein Leben … bis auf mein
Leben …«
Und dein Land.
Jetzt lachte Felder wirklich. »Ich besitze kein Land«,
sagte er vergnügt.
Jetzt nicht mehr.
Ȇberhaupt nie. Ihr habt euch den falschen Thorianer
geschnappt. Versucht euer Glück bei meinem Vater. Obwohl es
schwer sein dürfte, ihn zu einem Spiel zu bewegen. Er ist ein
ernster und gewissenhafter Monarch.«
Das war er. Oh! Wie unachtsam von uns. Wir müssen vergessen
haben, es dir zu sagen. Du konntest es natürlich noch nicht
wissen. Dein Vater ist tot, Dhelin. Er ist gestern
gestorben.
»Das habt ihr gewußt!« schrie Felder. »Das
war Absicht!«
Vielleicht … Aber wie auch immer. In diesem Moment befinden
sich Thoria und seine Bewohner bereits in unserer Macht. Und in
unserer Welt.
»Dazu habt ihr kein Recht! Ich kann Thoria gar nicht
verlieren! Ich habe es nicht gesetzt!« Felders Stimme klang
schrill vor Panik.
Erinnere dich, Dhelin. Was hast du gesetzt? Wie war der genaue
Wortlaut? ‘Alles, was dir gehört’. Dies beinhaltet
Thoria, egal, ob du davon wußtest oder nicht. Aber Kopf hoch,
Dhelin! Gräme dich nicht. Deine Kleider kannst du behalten.
Wir begnügen uns mit den Thorianern.
Das Lachen, welches nun folgte, ließ Lonnìl das Blut
in den Adern gefrieren. Mit Entsetzen bemerkte er, wie sich seine
Umgebung zu verändern begann. Zwar herrschte immer noch
pechschwarze Dunkelheit, aber Lonnìl konnte spüren,
daß sie nun nicht mehr vollkommen leer war. Unter seinen
Füßen entstand so etwas wie Boden, und da waren auch
Wände, die das Lachen schaurig widerhallen ließen.
Morren mußte es auch bemerkt haben, denn er machte wieder ein
wenig Licht und leuchtete um sich. Diesmal gelang es ihm, seine
Umgebung zu erhellen. Es war zwar immer noch mehr als nur
schummrig, aber zumindest konnte Lonnìl jetzt ausmachen,
daß sie in einer großen Halle standen. Außer
ihnen war niemand dort, zu dem die Stimme gehören konnte, aber
da waren auch Schatten, die dem Licht nicht auswichen und bei denen
nicht zu erkennen war, was sich dahinter verbarg. Die Halle schien
völlig leer zu sein bis auf einen großen Stuhl, der an
einem Ende stand. Und als er ihn sah, wußte Lonnìl
auch schlagartig, wo sie waren: Dies mußte Thoria sein. Sie
standen in der Halle der Könige.
Keil und Schwinge hockten zusammengekauert am Boden und
rührten sich nicht. Morren stand bei ihnen und leuchtete sie
mit einer Hand voll Licht an. Der Raum war jetzt deutlicher
geworden, so als gewönne er nur langsam, nach und nach, an
Substanz. Große schwere Teppiche hingen an der Wand hinter
Morren, aber in diesem Licht war nur zu erkennen, daß sie da
waren, nicht, was sie zeigten. Der Boden bestand aus abgenutzten
Holzplanken.
Als Lonnìls Blick unwillkürlich einer dunklen Rille
zwischen zwei Brettern folgte, fiel er endlich auch auf Felder. Da
stand er, so gerade aufgerichtet, als hätte er einen Stock
verschluckt, und starrte unverwandt auf den Thron, als könne
er nicht fassen, was da um hin herum geschah. Lonnìl
bemerkte, daß der Prinz leicht schwankte, und sprang auf ihn
zu, um ihn stützen zu können. Felder sah ihn nicht einmal
an, aber er klammerte sich wortlos an Lonnìls Arm fest und
wies die Stütze nicht ab. Lonnìl legte ihm beruhigend
einen Arm auf die Schulter und merkte, daß der Mann mehr als
nur leicht bebte. Er zitterte am ganzen Körper, doch er
ließ sich nichts von dem, was in ihm vorging, anmerken. Es
konnte der Tod seiner Vaters sein, der ihn bewegte, oder das
plötzliche Auftauchen der Burghalle, oder auch nur die
Tatsache, daß er verloren hatte und nicht wußte,
wieviel. Die einzigen Laute, die er von sich gab, waren sein
ungleichmäßig schnaubender Atem und das Knirschen seiner
Zähne. Plötzlich verstärkte sich Felders Griff, so
als wollte er Lonnìl den Arm aus der Schulter reißen,
er straffte sich und hörte auf zu zittern.
»Ha!« schrie er. »Ha! Das hättet ihr euch
so gedacht!« Er ließ Lonnìl los und stürzte
mit ausgestreckter Hand auf die Schatten im dunklen Teil den Halle
zu. »Ihr habt mich reingelegt, aber ihr seid selber
reingefallen! Ihr könnt die Thorianer nicht
bekommen!«
Warum sollten wir nicht? Es ist dein Volk, und du hast es
verloren. Die Stimme kam nicht von dort, wo die Schatten waren.
Sie füllte den ganzen Raum, ohne irgendeinen Ursprung -
sichtbar oder hörbar - zu haben. Aber das hielt Felder nicht
weiter auf.
»Weil sie mir nicht gehören!« schrie er
triumphierend. »Ich weiß nicht, was ihr für ein
merkwürdiges Volk seid oder wie es die Elfen halten, aber wir
Thorianer sind Menschen, und ein jeder Mensch, egal ob reich oder
arm, König oder Bettler, gehört sich selbst und keinem
anderen Menschen. Das Volk gehört nicht dem König. Das
Volk gehört dem Volk! Es hat Anrecht auf einen König, der
es regiert und verwaltet, damit dort alles seinen geregelten Gang
geht, aber der König hat kein Recht am Volk. Er hat das Recht,
ihm zu befehlen, und das Volk muß machen, was der König
will, aber all das geschieht zum Wohle aller, nicht zum
Vergnügen des Königs. Mir hat vielleicht für den
Bruchteil eines Tages lang Thoria gehört, und nicht einmal
das, weil ich nicht ordentlich gekrönt worden bin und nicht
offiziell König war, aber niemals, und das wird euch jeder
bestätigen können, niemals hat irgendein Thorianer mir
gehört. Und was mir nicht gehört, das kann ich nicht
verlieren. Dies ist meine Burg. Behaltet sie von mir aus, wenn ihr
wollt, aber laßt die Menschen aus dem Spiel. Eure Welt ist
nicht geschaffen für die Thorianer. Schickt sie zurück in
die Welt, aus der sie gekommen sind, und wagt es nicht, sie noch
einmal wieder anzurühren! Denn es ist meine Pflicht als
König, mein Volk zu schützen, auch vor solchen Unwesen,
wie ihr es seid! Tut, was ich sage - oder ihr verstoßt gegen
eure eigenen Regeln!«
Lonnìl beobachtete Felder erstaunt. So hatte er ihn noch
nie erlebt. Nicht einmal in der Elbenfeste, als er den Prinzen
herausgekehrt hatte, hatte Felder derart königlich gewirkt.
Zum ersten Mal sah er wie der Mann aus, der zu sein er geboren
worden war: ein wahrer, fähiger König. Lonnìl
hatte sich niemals vorstellen können, daß ein Herrscher
seinem Volk eine derartige Freiheit zusprach, und erst recht hatte
er es nicht von Felder erwartet. Aber hier stand der Prinz, bereit,
die volle Verantwortung zu übernehmen, solange seinem Volk
kein Schaden zugefügt wurde.
Auch Felders Stimme hatte sich verändert. Sie hatte ihren
schelmischen Beiklang völlig verloren - zum ersten Mal
hörte er sich so an, als würde er das, was er sagte,
wirklich ernst nehmen. Diese Stimme war tief und durchdringend und
beinahe so eindrucksvoll wie die von Morren, und sie schien nicht
Felder zu gehörten, sondern etwas weitaus Größerem,
das seinen Platz eingenommen hatte. Lonnìl hatte schon von
Leuten gehört, die über sich selbst hinaus wuchsen, aber
bis dahin hatte er es immer nur für eine Redewendung gehalten.
Nun konnte er es förmlich mit ansehen.
»Denn es gibt eines, das ihr über Menschen wissen
solltet, wenn ihr das nächste Mal versucht, welche zu
verschleppen«, fuhr Felder fort. Er zappelte nicht mehr
herum, sondern stand völlig gerade und ruhig, und Morren, der
überrascht an ihn herangetreten war, beleuchtete ihn von
hinten mit einem geheimnisvollen Schein. »Ein Mensch ist
nicht in erster Linie ein Bestandteil seines Volkes, sondern eine
Einzelperson, weswegen auch so ziemlich jeder, wenn es darauf
ankommt, nur an sich selbst denkt. Ein Mensch ist durchaus in der
Lage, ohne sein Volk zu leben. Ich bin das beste Beispiel
dafür, denn es ist beinahe zwei Jahre her, daß ich
zuletzt auf Thorianer gestoßen bin, und es geht mir trotzdem
hervorragend. Und so wie ich sind alle Menschen. Wir gehören
uns selbst, wir sind die Meister unseres eigenen Schicksals, und
niemand kann uns in unser Leben hineinreden. Habt ihr mich
verstanden?«
Bevor Lonnìl ihm sein Lob und seine Zustimmung aussprechen
konnte, fielen ihm wieder die Dunklen ins Wort. Sie schienen kein
Bißchen gerührt zu sein.
Das war ein sehr eindrucksvoller Vortrag, Dhelin. Wir müssen
zugeben, daß du uns verblüfft hast. Wir hätten dir
am Allerwenigsten eine derartige Einsicht zugetraut. Wie es
scheint, geht an dir doch kein so schlechter Herrscher verloren.
Leider hat es erst eine Krisensituation gebraucht, damit es sich
herausstellte. Um zu zeigen, daß wir dich in der Tat
verstanden haben und wie sehr wir das individuelle Wesen des
Menschen schätzen, erfüllen wir dir deinen Wunsch. Von
diesem Moment an befinden sich alle Thorianer wieder in der Welt,
aus der sie gekommen waren, und wir geben dir unser Ehrenwort,
daß wir niemals wieder auch nur einen von ihnen in unser
Reich holen werden. Bist du nun zufrieden, Dhelin?
»Danke«, sagte Felder, und seine Stimme war wieder so
wie früher. »Mehr wollte ich von euch nicht. Und ich
bevorzuge es, wenn ihr mich Felder nennt.«
Langsam merkte Keil, daß
er wieder Luft bekam. Der Druck auf seinem Brustkorb und das
Rauschen in seinen Ohren ließen nach, und er hatte nicht mehr
das Gefühl, als tränke die Dunkelheit sein Leben. Er lag
auf einem harten Holzboden, und das vermittelte ihm ein Gefühl
der Sicherheit. Jetzt hatte er eine Vorstellung davon, wie es war,
wenn man starb. Irgendwie war er immer weniger geworden, ohne
daß er wußte, was er dagegen hätte tun
können. Jetzt ging es wieder etwas besser, obwohl er die
Anwesenheit der Dunklen noch immer spürte. Über ihn
beugte sich Morren und leuchtete mit seiner Hand.
»Geht es wieder?« fragte er. »Ich hätte
nicht gedacht, daß ihr euer Leben im Licht derart
wörtlich nehmt.«
Keil nickte. Zum Reden fehlte ihm noch die Kraft, wie auch dazu,
sich über die Veränderungen um ihn herum zu wundern. Es
war jetzt vielleicht etwas heller, aber viel angenehmer war diese
Welt immer noch nicht. Da war immer noch dieses schreckliche
Gefühl, daß es kein Leben außer ihrem gab. Wer
waren die Dunklen?
Und was war mit Felder? Keil hatte alles, was geschehen war,
gehört, aber erst jetzt begann er langsam, es auch zu
begreifen. Sie hatten die Laute nicht bekommen, aber dafür
möglicherweise Felder verloren.
Morren half ihm vorsichtig, sich aufzusetzen, und versuchte, ihm
Felders Reif aus den Händen zu nehmen. Aber Keils Finger waren
so verkrampft, daß es lange dauerte, bis er sie lösen
konnte. Morren hielt ihm etwas Glattes, Längliches hin.
»Hier, vielleicht hilft es dir.«
»Was ist das?« fragte Keil. Er hatte das Gefühl,
diesen Gegenstand kennen zu müssen, aber dieses Ding sagte ihm
nichts. Er umklammerte es, um wieder etwas zum Festhalten zu haben,
und spürte, wie sich Löcher in seine Haut prägten.
Es war seine Beinflöte! Man konnte darauf spielen! Vorsichtig
setzte er die Flöte an die Lippen und blies ein paar
Töne. Aber die Musik erklang nur in seinem Kopf. Sie schien
das Instrument nicht verlassen zu können.
Hier gibt es keine Musik. Schade eigentlich. Aber spiele nur ruhig
weiter. Es ist eine gute Vorbereitung für das, was auf dich zu
kommt.
»Ihr müßt keine Angst haben«, sagte
Lonnìl, der bei Schwinge kniete und ihr etwas Wasser gab.
Sie wehrte ihn nicht ab »Es wird alles wieder gut. Geht es
so?«
Keil sah auch, wie Morren bei Felder stand und mit ihm redete. Er
spitzte die Ohren, um zu hören, was sie sagten.
»Was hast du getan?« fragte der Zauberer.
»Frag lieber, was sie getan haben. Ich bin
hereingelegt worden«, murmelte Felder und starrte ins Leere,
durch Keil hindurch.
»Das meine ich nicht. Ich habe gesehen, wie du gegen die
Dunklen verloren hast, und das wundert mich auch nicht im
Geringsten. Aber hinterher - was du dann gesagt hast, über die
Freiheit des Volkes. Solche Reden kommen allenfalls von
Lonnìl, aber doch nicht von dir! Warum hast du immer so sehr
damit kokettiert, ein vollkommen unfähiger Herrscher zu
werden?«
»Weil es stimmt!« erwiderte Felder ärgerlich.
»Und ich wäre dankbar, wenn ihr es mir nicht immer
wieder unter die Nase riebet. Was ich gerade gesagt habe, hat
nichts mit königlicher Fähigkeit zu tun. Das war nur
Gerede, und reden kann ich gut. Aber man wird kein guter König
davon, daß man gute Reden hält. Das war nur ein Mittel,
um mein Volk frei zu bekommen. Darum habe ich auch alles etwas
vereinfacht. Das Volk ist überhaupt nicht frei, jedenfalls
nicht alle. Aber es hätte mir meine eigenen Argumente
kaputtgemacht, wenn ich denen etwas von Gefangenen, Leibeigenen und
Ehefrauen erzählt hätte, nicht wahr? Wie auch immer, es
hat funktioniert, und meine Leute sind auf freiem Fuß. Mehr
wollte ich nicht.«
»Es hat mich trotzdem beeindruckt«, sagte
Morren.
Uns ebenfalls. Die Dunklen lachten. Sie hatten das
Gespräch natürlich mitverfolgt. Du hast deine Sache
dennoch gut gemacht, Dhelin. Dein Volk ist frei für alle Zeit.
Freier, als du es jemals wieder sein wirst.
Felder antwortete nicht. Immer noch ins Leere blickend, hockte er
sich langsam auf den Boden, nahm ein paar Würfel aus der
Tasche und ließ sie gedankenverloren über die Boden
rollen. Sicherlich brauchte er mehr Zeit als die anderen, um zu
begreifen, was passiert war. Morren merkte, daß der Mensch
allein sein wollte, und kam wieder zu Keil hinüber, um ihm
aufzuhelfen.
»Kann ich einen Moment
lang allein sein?« fragte Felder. »Ich würde gerne
etwas durch die Gänge hier laufen, um in Ruhe ein paar
Gedanken zu fassen und mir klar zu werden, was hier überhaupt
los ist. Oder habt ihr etwas dagegen?«
Ganz im Gegenteil, sagten die Dunklen. Wir finden, es ist
eine gute Idee, wenn du dich mit der Situation hier
anfreundest.
»Ich bräuchte aber etwas Licht dazu.« Felder ging
zur nächsten an der Wand befestigten Fackel und nahm sie.
»Darf Morren sie mir anzünden?«
Selbstverständlich. Es soll dir an nichts mangeln.
»Danke«, sagte Felder und nahm die brennende Fackel in
Empfang. Dann trat er langsam wieder in die Mitte der Halle. Es gab
etwas, das er sein ganzes Leben lang hatte tun wollen, und jetzt
war der Moment dafür gekommen. Er lachte leise in sich hinein.
Niemand ahnte, was er vorhatte.
Mit der freien Hand löste er die Feldflasche von seinem
Gürtel und zeigte sie grinsend den anderen. Als er den Korken
mit den Zähnen entfernte, sah er, wie Morren entnervt das
Gesicht verzog. Auch das freute ihn. Nicht einmal der Zauberer, der
sonst immer vorgab, Gedanken lesen zu können, kannte seine
Absichten. Den Rest machte Felder so schnell, daß niemand
mehr hätte eingreifen können. Er schüttete den
Inhalt der Flasche auf den Fußboden und ließ die Fackel
fallen. Wenn das trockene Holz noch nicht von selbst gebrannt
hätte, so trug der Schnaps seinen Teil dazu bei. Der Boden
brannte wie Zunder. Von der Burg würde nur noch die
Grundmauern übrigbleiben. Es hatte Felder schon seit Jahren in
den Fingern gejuckt, sie abzufackeln, aber irgendwie hatte er zu
große Skrupel gehabt wegen all den Leuten, die sich immer
darin aufhielten. Nun war die Burg leer, und niemandem würde
etwas passieren. Felder trat einen Schritt zurück, um das
Schauspiel zu genießen, solange er noch Boden unter den
Füßen hatte und durch den Rauch atmen konnte.
Die anderen schrien entsetzt auf, als sich die leuchtendroten
Flammen auf sie zu bewegten. An sie hatte Felder überhaupt
nicht mehr gedacht. Aber Morren würde schon dafür sorgen,
daß niemand verbrannte. Er konnte gut mit Feuer umgehen.
Felder sah zu, wie das Feuer nun auch auf die Wandbehänge
übergriff, und lachte. Aber er lachte nicht allein.
Welch entzückendes Schauspiel, sagten die Dunklen.
Aber nun ist es genug.
Die Flammen erstarben lautlos. Zurück blieb ein
Fußboden, der nicht einmal versengte Stellen hatte, und die
Fackel, die sich wieder in Felders Hand befand, ohne daß er
sagen konnte, wie sie dort hingekommen war.
Wie unachtsam von dir, sie einfach fallenzulassen. Paß
besser auf sie auf bei dem kleinen Spaziergang, den du doch machen
wolltest.
In den Gesichtern seiner Freunde stand keine Erinnerung daran,
daß sie gerade um ein Haar verbrannt wären, weder
Ärger noch Erleichterung. Es war, als hätte es nie ein
Feuer gegeben. Felder seufzte und wollte einen Schluck aus seiner
Flasche nehmen, aber die war leer.
Er zuckte die Achseln, hielt die Fackel so, daß sie ihm gut
leuchten konnte, und verließ die Halle. Es war wahrscheinlich
wirklich das Beste, ein wenig für sich zu sein. Erst jetzt
fiel ihm auf, daß er sich gerade beinahe selbst umgebracht
hätte. Aber der Gedanke machte ihm keine Angst. Er war schon
oft genug beinahe gestorben und hatte doch immer überlebt.
Eigentlich brauchte er nicht einmal die Fackel. In der Burg
hätte er sich sogar blind, im Schlaf oder volltrunken
zurechtgefunden. Zumindest mit letzterem hatte er ausreichend
Erfahrung. Es gab kaum einen langweiligeren Ort als diese Burg.
Felder hatte nichts gegen Thoria. Das Land war ihm einfach nur
gleichgültig. Aber die Burg hatte er schon immer gehaßt.
Sie war wie ein Gefängnis. Wenn er dort war, versuchten alle,
ihm Vorschriften zu machen, wie er sein Leben zu gestalten habe,
welche Frauen er traf und so weiter. Der einzige Weg, dem zu
entgehen war sich zu betrinken. Dann wußten die Leute,
daß es zwecklos war, ihm Befehle zu geben. Als ob er sie
sonst befolgt hätte …
Erst jetzt merkte Felder, daß er dabei war, die Treppe zum
Weinkeller hinunter zu steigen. Hier war er oft gewesen.
Natürlich gab es eigentlich genug Diener, um ihm Getränke
zu bringen, ganz abgesehen vom königlichen Mundschenk, dessen
Lebensaufgabe aus nichts anderem bestand, aber Felder war einfach
gerne dort unten. Der Kellermeister gehörte zu den Leuten, mit
denen er sich ganz gut verstand. Er hatte immer gute Laune, wenn
ihn jemand besuchen kam, und Lust auf ein kleines
Würfelspielchen. Außerdem mochte Felder den Gedanken,
daß niemand eine Ahnung hatte, wo er war und die Leute
vielleicht stundenlang vergeblich nach ihm suchten. Niemand
erwartete, daß der Prinz selbst in den Keller ging.
Morren hätte vermutlich überhaupt nichts mehr gesagt,
wenn er gewußt hätte, welche Mengen Felder in der Burg
in sich hinein schüttete. Hier wäre tatsächlich noch
ein Säufer aus ihm geworden. So aber war er nur in Morrens
Augen einer. Aber was passierte? Kaum er war wieder hier,
führte ihn sein erster Weg in den Weinkeller.
Einen Moment lang vergaß Felder, wieso er überhaupt
wieder in Thoria war. Erst, als er sich wunderte, warum der
Kellermeister nicht da war und warum er auch sonst niemanden auf
seinem Weg getroffen hatte, wurde ihm wieder seine Situation
bewußt. Er fragte sich, woran sein Vater wohl gestorben war.
Vielleicht hatte ihn endlich der Schlag getroffen. Oder er war
krank geworden. Innerhalb von zwei Jahren konnte vieles passieren.
Und er war auch schon alt gewesen.
»Hättest du dir nicht noch etwas Zeit lassen
können?« murmelte Felder. »Zumindest bis ich,
sagen wir mal, dreißig gewesen wäre? Oder
fünfunddreißig?«
Jetzt ist es zu spät, um noch etwas zu ändern.
Hatte er etwa geglaubt, allein zu sein? Die Dunklen waren
überall. Die ganz Burg war voll von ihnen. Es war kalt. Einzig
die Fackel verbreitete ein wenig Wärme. Aber innerlich
fühlte sich Felder wie eingefroren.
»Ich bin nicht wirklich in Thoria, oder?« fragte
er.
Du bist in Thoria. Aber Thoria ist jetzt hier.
»Ich verstehe. Laßt mich in Ruhe.« Er wollte
keine weiteren Gedanken daran verschwenden, was dann an der Stelle
war, an der Thoria vorher gelegen hatte. Es war besser, wenn er das
nicht wußte.
Felder fühlte sich merkwürdig. Nicht schwermütig -
das war er schon lange nicht mehr gewesen - aber irgendwie leer,
ausgebrannt. Hier konnte er nicht bleiben. Er würde gleich
zurückgehen zu den anderen, und dann mußten sie
irgendwie zusehen, daß sie wegkamen, auch ohne die Laute. Es
störte Felder noch immer, daß er sie nicht gewonnen
hatte. Vielleicht hätte er nicht versuchen sollen, zum so
ziemlich ersten Mal in seinem Leben ehrlich zu spielen. Aber die
Dunklen hätten es sofort gemerkt, wenn er betrogen hätte.
Sie hatten sicher nur darauf gelauert.
Nie wieder Thoria. Nie wieder die Burg. Aber Felder würde
sich ein paar Andenken mitnehmen. Vielleicht ein paar frische
Kleider. Er konnte ein neues Hemd brauchen, und natürlich
etwas Geld - nicht zuviel, schließlich mußte er es
selbst tragen. Vor allem aber brauchte er etwas zu trinken.
Schließlich befand er sich genau am richtigen Ort. Felder sah
sich suchend um und überlegte, in welchen Fässern sich
der königliche Wein befand. Er wollte nicht aus Versehen das
Gesöff erwischen, von dem die Diener und Höflinge
tranken. Außerdem mußten doch irgendwelche leeren
Weinschläuche herumliegen. Krüge waren unmöglich zu
transportieren, und in seine Feldflasche ging nicht genug hinein.
Endlich hatte er gefunden, was er suchte. An dieser Stelle hatte
immer das Faß gestanden, aus dem sich der Kellermeister immer
selbst bediente. Folglich mußte es den Wein enthalten, der
für Angehörige der königlichen Familie und ihre
Gäste reserviert war. Aber bevor Felder seinen Schlauch
füllte, war es vielleicht besser, wenn er zuerst ein Becher
voll probierte. Innerhalb von zwei Jahren konnte der ganze Keller
umgeräumt werden.
Im Schein der Fackel, die er an der Wand befestigt hatte, sah der
Wein ganz normal aus, rot und dunkel. Aber er roch nicht so, wie er
sollte. Felder nahm einen Schluck.
Im nächsten Moment spuckte er aus. Sein ganzes Leben lang
hatte er noch nie einen derart widerwärtigen Geschmack erlebt.
Was immer das war - Wein war es keiner. Es war nicht sauer oder
schal, sondern unbeschreiblich bitter und noch etwas anders, das er
nicht beschreiben konnte oder wollte. ‘So schmeckt der
Tod’, schoß es ihm durch den Kopf, bevor er es
verhindern konnte. Und egal, wie sehr er auch schluckte und
hustete, er wurde den Geschmack des klebrigen Gebräus nicht
mehr los. Ein Hauch von ihm blieb zurück.
Und so kehrt der verlorene
Sohn heim zu den Hallen seiner Väter, höhnten die
Dunklen, als Felder mit bitterer Miene zu ihnen zurückkam. In
seiner Hand hielt er ein undefinierbares Bündel, und er
taumelte leicht. Lonnìl vermutete, daß er getrunken
hatte.
Welch ein erhebender Anblick. Nimm Platz auf dem verwaisten Stuhl,
Dhelin, und walte deines neuen Amtes. Deine Krone liegt
bereit.
»Ich denke überhaupt nicht dran!« brüllte
Felder und ließ sein Bündel fallen. »Ihr werdet
uns gehen lassen, und zwar sofort!«
Warum sollten wir das tun?
»Ihr meint, trotz allem, was ihr getan habt, bin ich hier
immer noch König? Also gut. Als König befehle ich euch,
uns gehen zu lassen.«
Gutes Argument. Aber es zieht nicht. Du bist zwar unser
König, nicht aber unser Herrscher. Warum möchtet ihr
schon fort?
»Ich habe gesehen, was ihr aus der Burg gemacht habt! Sie
ist tot! Alles hier ist tot! Sogar der Wein ist tot! Aber wir
leben, und wir gehören nicht hierher. Die Elfen haben eine
Aufgabe zu erledigen. Ihr behauptet, wie sie zu den Hohen
Völkern zu gehören. Warum hindert ihr sie dann? Und mein
Freund Lonnìl ist verliebt. Wollt ihr, daß seine Liebe
hier stirbt, wie alles?«
Aber es ist schön, auch ein wenig Liebe und Leben hier zu
haben. Es gefällt uns ausgesprochen gut.
»So, es gefällt euch?« tobte Felder. Er
stürzte auf Lonnìl zu und riß ihm das Schwert aus
dem Gürtel, hinter den er es provisorisch gesteckt hatte.
»Leben wollt ihr? Wenn ihr uns zwingt, hier zu bleiben, dann
töte ich uns alle, selbst Morren, wenn es ein muß. Ihr
werdet kein Vergnügen an unserem Leben haben!«
»Felder, sei still!« rief Morren durchdringend.
»Mach keinen Unsinn!«
»Wenn wir hierbleiben, sterben wir so oder so! Besser
schnell als langsam, sage ich immer! Falls ihr es noch nicht
gemerkt habt, Dunkle, ich bin ein mindestens so guter Erpresser wie
ihr!« Felder lachte schrill.
Morren war plötzlich bei ihm, ohne daß Lonnìl
eine Bewegung bemerkt hätte, und hielt das Schwert fest, als
ob die Klinge ihn nicht schneiden konnte - was sie auch wirklich
nicht tat.
»Sei still!« warnte er noch einmal. »Du
weißt nicht, was du sagst. Du bist betrunken.«
»Das bin ich nicht!« brüllte Felder. »Ich
wünschte, ich wäre es, aber ich trinke keinen toten Wein.
Gib mir das Schwert wieder!«
Aber Morren hatte ihn bereits die Waffe entwunden und es
ließ sie mit einem gezielten Tritt über den Boden zu
Lonnìl schlittern, der sie eilig aufhob. Felder war nicht
mehr wiederzuerkennen.
Er hat recht, sagten die Dunklen. Im Moment ist er wirklich
nüchtern. Aber wir finden ihn trotzdem ganz amüsant. Es
ist immer nett, jemanden zu haben, mit dem man spielen
kann.
»Dann habt ihr das mit ihm gemacht!« sagte
Morren.
Natürlich. Du weißt doch selbst, was für einen
Spaß es macht, andere zu manipulieren. Hast du schon einmal
einen Menschen Amok laufen lassen?
»Es tut mir leid, aber das muß sein.« Morren
berührte Felder kurz mit zwei Fingern an der Schläfe,
woraufhin dieser ohnmächtig zu Boden sank. »Das Spiel
ist aus. Wenn er wach wird, kann er sich an nichts mehr erinnern,
und das ist auch gut so. Sucht euch einen Gegner, der euch
gewachsen ist!«
Den gibt es nicht. Es tut uns leid, dir deine Illusionen rauben zu
müssen, Freund Morren, aber keiner von euch reicht an unsere
Macht heran. Möchtest du uns herausfordern?
»Ja, das will ich,« sagte Morren ruhig. Er streckte
seinen Arm hoch über den Kopf, und im nächsten Augenblick
war er ganz in eine Wolke aus Licht gehüllt. »Meine
Macht gegen eure.«
Wir lehnen ab. Was du uns bieten möchtest, ist der uralte
Kampf der Kräfte des Lichts gegen die Kräfte der
Finsternis. Wir sind die Finsternis, das ist richtig. Und wir
kämpfen gegen das Licht. Aber du bist nicht das Licht. Du bist
ein Zauberer. Und falls du vergessen haben solltest - Zauberer sind
neutral. Ihr seid die Grauzone zwischen Licht und Dunkelheit. Und
wir werden nicht gegen dich kämpfen. Geht jetzt. Eure Suche
ist noch nicht beendet. Die Feen wissen von eurem Kommen. Sie
warten auf euch. Und falls es dich interessiert: Die Feen sind die
Kräfte des Lichts, wenn es überhaupt so etwas gibt. Viel
Vergnügen mit ihnen.
»Soll das heißen, ihr laßt uns gehen?«
fragte Morren erstaunt.
Das tun wir. Du hast gut daran getan, uns an unsere Aufgabe, den
Kampf gegen das Licht, zu erinnern. Wir haben unsere Runde
gewonnen. Es wird sich zeigen, wie das Rückspiel
ausfällt. Steh auf, Dhelin.
Felder rührte sich und richtete sich wieder auf.
»Na prima«, sagte er, während er das aufgeplatzte
Kleiderbündel wieder zusammenklaubte. »Jetzt bin ich
auch noch hingefallen. Mir bleibt heute wirklich nichts
erspart.«
Stell dich zu deinen Freunden. Versammelt euch in der Mitte dieser
Halle.
Felder tat, wie ihm geheißen, und Lonnìl trat schnell
zu ihn hinüber, um ihn bändigen zu können, sollte er
ein zweites Mal durchdrehen. Vor ihnen erschien ein Lichtfleck. Es
sah aus, als ob der Raum, in dem sie sich befanden, einen Riß
bekommen hätte. Aus diesem Riß drang ein Leuchten, so
hell, daß Lonnìl geblendet die Augen schloß. In
seinem Kopf dröhnte das Lachen der Dunklen.
Dies ist euer Tor. Es führt euch direkt in eure geliebte
Welt. Durchschreitet es, einer nach dem anderen … wenn ihr
könnt. Die Alifwin zuerst. Du, Dhelin, gehst als
letzter.
Keil und Schwinge blickten sich an. Dann nickte Schwinge,
umfaßte ihr Jagdmesser und ging auf den Riß zu. Das
Licht hüllte sie ein, und sie war verschwunden. Keil folgte
ihr, etwas zögerlicher, aber dann war auch er hindurch.
»Jetzt du, Lonnìl«, sagte Morren.
»Ja, gut«, sagte Lonnìl. Er schloß die
Augen, aber er spürte das Licht auch so. Auf der anderen Seite
war Schwinge. Jetzt mußte er ihr nur folgen.
Als er die Augen öffnete und die Helligkeit ihn nicht mehr so
stark blendete, erkannte er, daß sie in einem Wald standen.
Keil und Schwinge schienen beide wohlauf zu sein. Aber von Morren
und Felder war noch nichts zu sehen. Lonnìl schüttelte
den Kopf, um die letzten Schatten der Dunkelheit zu vertreiben.
Jetzt, wo sie entkommen waren, kam es ihm mehr wie ein böser
Traum vor. Die Sonne schien warm, Vögel sangen, und der Geruch
nach Erde und Blumen lag in der Luft. Noch nie zuvor hatte
Lonnìl seine Umgebung derart intensiv wahrgenommen. Er
konnte nicht anders, als vor Glück zu lachen und Schwinge in
seine Arme zu schließen.
»Ich habe dir doch gesagt, daß alles gut werden
wird!«
Sie entwand sich seinem Griff, aber auch sie schien zu
glücklich, um ihn jetzt ihren Haß spüren zu lassen.
Noch nie zuvor hatte Lonnìl sie derart befreit lächeln
sehen. Es machte sie noch schöner, als sie ohnehin schon war.
Keil hatte die Silberflöte an die Lippen gesetzt und spielte
eine fröhliche Melodie, die im Sonnenlicht zu tanzen
schien.
Dann kam Morren. Er tauchte einfach aus dem Nichts auf. Der
Riß war von dieser Seite nicht zu sehen.
»Ich wußte, daß sie uns früher oder
später gehen lassen würden«, sagte er
lächelnd. »Das war eine üble Überraschung. Bis
zum heutigen Tag hatte ich nicht gewußt, daß es die
Dunklen gibt, auch wenn ich es hätte ahnen müssen. Sie
sind das fehlende Glied.«
»Haben die Dunklen die Hohen vernichtet?« fragte Keil
und ließ die Flöte sinken. Morren schüttelte den
Kopf.
»Nein. Es wird für euch unglaublich klingen, und ich
kann es euch auch jetzt noch nicht erklären, aber die Dunklen
sind wir ihr ein Hohes Volk, Kinder der Hohen. Deswegen
wußten sie auch von den Instrumenten, und deswegen hatten sie
die Laute.«
»Aber was sind die Dunklen? Warum konnten wir sie
hören, aber nicht sehen?« fragte Lonnìl.
»Sie haben keine Körper«, antwortete Morren.
»Sie sind das Dunkel selbst, konzentrierte Macht. Darum gibt
es auch keine Einzahl von ihnen. Sie sind eine Einheit, ein Volk,
aber sie haben die Kraft von vielen. Darum konnte keiner von uns
sie besiegen, nicht einmal ich. Es gibt keine mächtigeren
Einzelwesen als die Zauberer. Aber die Dunklen haben den
größten Teil der Macht der Hohen geerbt. Der Preis
dafür war, daß sie nicht in unserer Welt existieren
können. Darum haben sie ihr eigenes dunkles Reich
gewissermaßen ein Stück außerhalb. Aber man kann
diese Entfernung nicht messen. Beide Welten liegen direkt
nebeneinander, und doch sind sie so weit auseinander, wie …
wie Licht und Dunkel, eben.«
»Ich frage mich, wo Felder bleibt«, sagte Keil.
Morren blickte ihn ernst an und öffnete den Mund, als ob er
etwas dazu sagen wollte, aber in diesem Moment war Felder bei
ihnen.
»Freiheit!« rief er und ging mit dramatischer Geste in
die Knie. »Licht! Luft! Wie sehr ich mich danach gesehnt
habe! Laß dich umarmen, Welt! Habe ich schon erwähnt,
daß ich dich liebe?«
»Zeitverzerrung«, sagte Morren zu Keil. »Dort
drüben gibt es keine Zeit, während sie hier
weiterläuft. Wollen wir hoffen, daß wir nicht mehr als
einen Monat verloren haben.«
Felder ließ von dem Baum, den er umarmt hatte, ab und
blickte Morren an. Das Lachen starb in seinem Gesicht. Aber dann
kehrte sein Grinsen zurück. »Selbst wenn hier die Zeit
vergangen ist - wir sind doch keinen Tag älter als
früher, nicht wahr? Also haben wir nicht wirklich Zeit
verloren.«
Lonnìl kannte die Geschichten von jungen Männern und
Frauen, die einen Tag bei den Unterirdischen verbrachten, und wenn
sie am nächsten Tag an die Oberfläche zurückkehrten,
waren siebzig Jahre vergangen. Er hoffte, daß dies nicht mit
ihnen passiert war, und seine Freude wurde etwas gedämpft.
Aber egal, wieviel Zeit auch vergangen war - sie alle lebten, und
er konnte weiterhin in Schwinges Nähe sein.
»Mehr noch als die Frage, wann wir sind, interessiert
mich im Moment, wo wir sind«, sagte Morren. »Die
Dunklen haben sehr direkt gesagt, daß wir zu den Feen gehen
sollen, und ich hoffe inständig, daß sie uns in
Nähe des Th’enlathíels abgesetzt haben. Dies ist
nämlich nicht die Gegend von
Dolua’d’llán.«
»Was bitte ist der Th’enlathíel?« fragte
Felder.
»Man nennt ihn auch den Feenforst«, erklärte
Keil. »Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem die Feen
leben können. Ein Wald, um den sich viele Legenden ranken. Ich
bin noch niemals dagewesen.«
»Ich schon«, sagte Morren. »Ein hübscher
Wald, dagegen kann man nichts sagen, aber trotzdem nicht nach
meinem Geschmack. Zu viele Feen. Und eine Begegnung mit den Feen
kann mindestens so unangenehm sein wie das, was wir gerade
durchgestanden haben.«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Felder.
»Ich denke trotzdem, daß wir dem Wink folgen
sollten«, fuhr Morren fort. »Alles deutet darauf hin,
daß die Feen die Harfe besitzen. Ich habe mir sowieso schon
fast etwas in der Art gedacht. Es ist nur immer etwas
problematisch, den Th’enlathíel zu finden. Man
gerät hinein, wenn man es eigentlich nicht will, aber ich habe
noch nie von jemandem gehört, den ihn gesucht und gefunden
hätte. Der Feenforst selbst ist von dichten Wäldern
umgeben. Gewissermaßen ist er das Herz des Waldes. Aber wenn
die Feen uns tatsächlich erwarten, müßten sie uns
auch zu sich kommen lassen. Und ich habe das Gefühl, daß
dieses Gebiet hier bereits zu den angrenzenden Wäldern
gehört. Meine Kugel kann mir da weiterhelfen.«
Nach einiger Zeit, die er über seinem Kristall gebrütet
hatte, blickte Morren auf und lächelte siegesgewiß.
»Ich weiß, wo wir sind«, sagte er. »Und
ich weiß, wo der Th’enlathíel ist, zumindest
vage. Leider sind wir doch noch nicht in der direkten Nähe -
so einfach wollten es uns die Dunklen wohl doch nicht machen. Aber
es könnte weiter sein. Ich kenne den Weg. Folgt mir! Genauer
gesagt: Folgt mir morgen früh. Heute ist zuviel geschehen.
Schlagen wir das Lager auf.«
In seinem Leben hatte Lonnìl schon viele Lagerfeuer
gesehen, aber dieses war das schönste und wärmste von
allen. Eigentlich hätte er jetzt vollkommen glücklich und
zufrieden sein müssen. Aber da war immer noch etwas, das an
ihm nagte, und je länger er darüber nachdachte, desto
stärker spürte er, daß es mit Felder zu tun haben
mußte. Er hatte eine furchtbare Wut auf den Thorianer. Und
plötzlich wußte er auch, woran es lag. Felder waren
Lonnìls Blicke nicht entgangen, und er stellte ihn zur
Rede.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« fragte er.
»Was machst du für ein grimmiges Gesicht? Man sollte
meinen, du wärst froh, daß wir es hinter uns haben. Wir
sind lebendig, unversehrt, und du bist außerdem um ein
formschönes, prächtig gearbeitetes Schwert
reicher.«
»Darum geht es nicht«, knurrte Lonnìl.
»Nicht? Was hast du dann gegen mich? Hat es dir nicht
imponiert, wie ich mit ganz untyrannischen Argumenten den Dunklen
mein Volk abgeschwatzt habe? Wo bleibt mein Lob? Warum so
grimmig?«
»Du hast mich angelogen«, sagte Lonnìl.
»Wie bitte?« fragte Felder perplex. »Wann?
Jetzt?«
»Du hast behauptet, dein Name sei Felder. Und du hast
niemals auch nur mit einem Wort erwähnt, daß du in
Wirklichkeit ganz anders heißt! Und dann verlangst du,
daß wir dir noch vertrauen?«
»Ich sehe das Problem nicht ganz«, sagte Felder.
»Du hast uns von Anfang an belogen«, wiederholte
Lonnìl. Er konnte nicht einmal sagen, weswegen ihn gerade
das jetzt so ärgerlich machte. Aber es war genau diese
Unehrlichkeit, die ihn dazu bewegte, Felder das Schwert noch nicht
wieder zurückzugeben. Es war zuviel Berechnung dabei gewesen,
daß Lonnìl es sofort zurück schenken würde.
Jetzt sollte Felder erst einmal sehen, wie er zurecht kam.
Natürlich wollte Lonnìl das Schwert nicht für
immer behalten. Aber es war an der Zeit, dem Prinzen eine Lehre zu
erteilen.
»Ich habe dich nicht angelogen!« rechtfertigte sich
Felder vehement. Er wirkte ernsthaft entrüstet. »Meinen
Freunden gegenüber bin ich so aufrichtig wie gegen mich
selbst, auch wenn sie das weder glauben noch schätzen. Ich
habe niemals behauptet, mein Name wäre Felder. Was ich gesagt
habe war, daß ich Felder bin, und das entspricht der
Wahrheit.«
»Aber warum trägst du einen falschen Namen?«
fragte Lonnìl. »Du reist vielleicht unerkannt, aber
uns hast du gesagt, daß du ein Prinz bist. Warum dann nicht
auch deinen wirklichen Namen?«
»Dhelin ist kein wirklicher Name«, erwiderte Felder.
»Alle Könige von Thoria hießen so, seit über
dreihundert Jahren. Dhelin, Sohn des Dhelin, Sohn des Dhelin, Sohn
des Dhelin, und so weiter, bis hin zu einem, der Dhylan hieß,
weil man damals noch anders geschrieben hat. Es bedeutet einfach
nur Hauptmann, Anführer. Niemand hat mich je so genannt. Mein
Vater ist … war Dhelin der Vierzehnte. Es hätte
zu viele Verwechslungen gegeben, wenn man mich mit seinem Namen
angeredet hätte.«
»Also hat man dich Felder genannt?« fragte
Lonnìl.
»Nein. Man hat mich Prinz genannt. Gelegentlich auch
Hoheit oder junger Herr. Es gehört sich nicht
für Untergebene, jemanden wie mich mit Namen
anzureden.«
»Aber wie haben dich deine Eltern genannt?«
»Meine Mutter hat mich gar nichts genannt. Sie ist bei
meiner Geburt gestorben. Vielleicht war sie mit vierzehn noch etwas
jung, aber mein Vater hatte es eilig. Immerhin war er schon
über dreißig, und seine erste Frau hatte keine Kinder
bekommen. Zu seinem style="mso-spacerun: yes"> Glück war
sie am Fieber gestorben, so daß er dann meine Mutter heiraten
konnte.«
»Und dein Vater? Wie hat er dich genannt?« fragte
Lonnìl, den es bei dieser Gefühlskälte
schüttelte, um schnell das Thema zu wechseln. Um die Toten
trauerte man. Er würde seine Familie niemals vergessen. Und
vor allem würde er niemals derart abfällig von ihr denken
oder sprechen.
»Der hat mich auch gar nichts genannt.« Felder
schnaubte verächtlich. »Nachdem ich da war und der
Erhalt der Blutlinie gesichert, war die Sache für ihn
gelaufen. Er hatte keine Verpflichtungen mir gegenüber.
Familie funktionierte an meinem Hof anders als auf deinem. Ich war
ihm egal und er mir. Falls du dich gefragt hast, warum mir sein Tod
nicht nahezugehen scheint … es liegt daran, daß er mir
tatsächlich nicht nahe geht. Ich habe immer gehofft, daß
mein Vater so lange wie möglich lebt, aber nur, damit ich kein
König werden muß. Und wie es scheint, komme ich jetzt
selbst darum herum.« Er rieb sich mit einer fahrigen Geste
die Haare aus der Stirn. Sicher lag es nicht nur an der Hitze des
Feuers, daß er jetzt schwitzte. Man konnte es ihm nicht
verübeln.
»Aber wer hat dich dann Felder genannt? Das ist doch kein
Name.« Lonnìl stellte unglücklich fest, daß
er das Gespräch in noch beklemmendere Bahnen gelenkt hatte,
und versuchte, irgendwie zum Ausgangspunkt
zurückzugelangen.
»Dazu komme ich jetzt.« Felder lachte erleichtert auf
- dieses Thema schien auch ihm selbst lieber zu sein. »Als
ich ungefähr dreizehn oder vierzehn war, fiel mir zum ersten
Mal störend auf, daß ich eigentlich nichts zu tun hatte.
Da war natürlich mein Unterricht, aber das meiste davon -
dieser ganze politische Kram - war extrem langweilig, und ich
wollte nicht für die nächsten zwanzig Jahre damit
weitermachen. Und so fragte ich meinen Schwertmeister, was für
Beschäftigungen es für einen Kronprinzen auf der
Warteliste gibt. Tarnil, also mein Schwertmeister, überlegte
kurz und sagte dann das erste, was ihm in seinen alten
Soldatenschädel gekommen war: ‘Du könntest Feldherr
werden’. Das war das, was alle von mir erhofften. Mein Vater
war nie entsetzlich scharf auf Schwerter gewesen, aber ich konnte
schon damals extrem gut damit umgehen, und alle Grafen und so
hofften, daß ich einen großen Eroberungsfeldzug
anführen würde, damit Thoria endlich auch ein Stück
Küste bekommen kann. Wie auch immer, Tarnil ist zwar ein
phantastischer Lehrer und, in meiner Abwesenheit, der beste
Schwertkämpfer des Landes, und er hat wirklich eine Menge
für mich getan, aber leider hatte er schon damals keine
besonders deutliche Aussprache mit den paar Zähnen, die er
noch hat. Jedenfalls begriff ich erst Jahre später, daß
er wohl Feldherr gemeint haben mußte. Damals verstand
ich nur Felder, und das klang so unsinnig, daß ich
sofort zustimmte. Die unbegrenzten Möglichkeiten faszinierten
mich. Und so wurde ich Felder. Seitdem bin ich
glücklich.«
Lonnìl schüttelte ungläubig den Kopf. Da, wo er
herkam, war es üblich, sich mit seinem Namen anzureden. Es war
für ihn schwer vorstellbar, wieso es anders sein sollte.
Schließlich war es das, wofür Namen da waren. »Und
niemand hat dich jemals Dhelin genannt?«
»Niemand. Nein - laß mich nicht lügen. Eine
Person gab es da schon, die mich so genannt hat. Eine ganz
besondere Person.«
»Und wer war das? Eine deiner … Frauen?«
»Ja, so kann man es nennen«, sagte Felder und
kicherte. »Das kann man so sagen. In der Tat. Es war meine
Frau.«
Erst sehr viel später begriff Lonnìl, daß er
damit nicht bloß eine weitere seiner Geliebten gemeint haben
mußte. Aber da war die Gelegenheit, nachzufragen, längst
vergangen.
Wenn Felder erwartet hatte, sein Schwert zurück zu bekommen,
so erwähnte er das mit keinem Wort, ebensowenig, wie er
über sein Abenteuer bei den Dunklen oder den Verlust Thorias
sprach. Sein Hauptinteresse schien in erster Linie darin zu
bestehen, auf dem nächsten Bauernhof seine Feldflasche
aufzufüllen und das an Trinken nachzuholen, was er in den
letzten Tagen versäumt hatte.
Zum ersten Mal erlebten sie ihn wirklich betrunken. Zunächst
stieß er noch wüste Flüche gegen die Dunklen aus,
aber dann wurde er still und zog sich immer weiter in sich
zurück. Die Elfen beobachteten ihn mit einer Mischung aus
Faszination und Abscheu, aber Lonnìl konnte ihn, in
Maßen, verstehen. Einen Verlust wie der, den Felder erlitten
hatte, konnte niemand leicht verkraften, und auch wenn er den Tod
seines Vaters herunterspielte und die anderen Ereignisse
ignorierte, so mußten sie ihn in Wirklichkeit schwer
getroffen haben. Gerade diejenigen, die viel redeten, hatten oft
die größten Probleme, über ihre wirklichen Sorgen
und Nöte zu sprechen. Felders Methode, sie
herunterzuspülen, war sicher eine der gängigsten.
Lonnìl fragte sich, was aus ihm selbst geworden wäre,
wenn er sich nicht aufgemacht hätte, um die Tyrannen zu
bekämpfen. Vermutlich wäre er an seinem Leid zerbrochen.
Aber im Unterschied zu Felder mußte er sich nicht die Schuld
an dem, was passiert war, geben. Natürlich konnte Felder
nichts für den Tod seines Vaters, aber was mit Thoria passiert
war … Niemand konnte wissen, was jetzt noch dort war.
Lonnìl hoffte, daß die Dunklen ihr Wort gehalten und
das Volk zurückgeschickt hatten. Aber wie würde das Land
aussehen?
Felder selbst schien sich diese Gedanken nicht zu machen. Am
nächsten Tag war er wieder so lustig und lebensfroh wie eh und
je, wenn nicht sogar noch mehr. Keine Schuldfrage schien ihn zu
bedrücken. Selbst sein Trinken hielt sich wieder in Grenzen.
Aber es war nicht zu übersehen, daß diese jetzt weiter
gesteckt waren als zuvor.
Was sich ebenfalls änderte, war der Unterricht, den er
Lonnìl gab. Da dieser jetzt sein Schwert trug, hielt Felder
es wohl für angebracht, ihm die Handhabung dieser Waffe
beizubringen. Lonnìl sträubte sich zuerst, aber da er
das Geschenk angenommen hatte, fehlten ihm die Argumente.
Außerdem hatte er das Gefühl, daß Felder diese
Lektionen brauchte, nicht nur, um sich überlegen fühlen
zu können, sondern um sein Schwert benützen zu
dürfen, ohne darum bitten zu müssen und sich die
Blöße zu geben, daß er es nur aus Eigennutz
verschenkt hatte. So kam es, daß Lonnìl, während
sie zum Wald der Feen reisten, die ersten Grundzüge des
Schwertkampfes lernte. Sie trainierten weiterhin früh am
Morgen, weil dies Felder dazu zwang, aufzustehen, und er am
Nachmittag nicht mehr unbedingt nüchtern genug war, um
sinnvolle Erklärungen zu geben. Das sagte er selbst, und er
hatte sicher recht damit. Alle Bemerkungen, die Morren zu dem Thema
abgab - und der Zauberer sparte weiterhin nicht an Mahnungen -
kommentierte er nur mit einem ungerührten Nicken.
Lonnìl gab die Hoffnung auf, daß der Prinz sich jemals
zum Guten ändern würde. Man konnte sich nur
wünschen, daß es nicht noch viel schlimmer werden
würde.
»Hat es eigentlich einen Namen?« fragte Lonnìl
eines Abends, während er auf Felders Anweisung hin das Schwert
putzte. Aus Sagen und Legenden kannte er Waffen, die große,
phantastisch klingende Namen, wie Drachenschlitzer oder
Silberflamme, hatten. Felder hatte zwar niemals etwas
derartiges erwähnt, aber wenn er sich schon selbst umbenannt
hatte, lag es nahe, daß es auch für sein Schwert eine
andere Bezeichnung geben mußte.
Ein fast verträumter Ausdruck trat in Felders Gesicht, und er
lächelte. »Selbstverständlich hat es einen
Namen«, sagte er. »Es hat den besten Namen, den man
einem Schwert nur geben kann, und der alles ausdrückt, was es
für mich bedeutet.«
»Wie heißt es denn?« fragte Lonnìl.
»Oder ist es geheim?«
Felder sah ihn an, und seine Augen glänzten. »Es gibt
nur einen einzigen Namen für ein Schwert«,
flüsterte er. »Es heißt
Schwert.«
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