But go, and if you trust her,
she will call.
Edwin Arlington
Robinson
Einige Tage lang rang Keil mit
sich, ob er überhaupt darüber reden sollte. Es war so ein
lächerlicher Gedanke. Aber Schwinge würde nicht
darüber lächeln, sondern wütend werden. Aber
vielleicht konnte der Zauberer ihn verstehen?
Schwinge ging weiter vorne, die Augen wie üblich auf einen
Punkt am Horizont gerichtet. Vielleicht würde sie einfach
nicht auf ihn achten. Schließlich war Keil nur ein junger
Barde und stellte keine Gefahr dar.
»Morren«, sagte er leise. Sofort war der Zauberer bei
ihm. »Ich habe … einen Wunsch. Es ist schwer zu
erklären. Und schwer zu verstehen, fürchte
ich.«
»Es gibt nur wenig, das ein Zauberer nicht verstehen
würde«, erwiderte Morren und lachte. »Versuch
es!«
»Es sind die Menschen. Wir werden uns bald für immer
vor ihnen verstecken, was sicher das Beste ist. Aber niemand von
uns weiß etwas über sie. Ich bin der letzte, der noch
die Möglichkeit hat, etwas über die Menschen zu erfahren,
und es gibt so vieles, das ich wissen möchte: Wer sie sind, wo
sie herkommen, wie sie leben … Glaubst du, daß du mir
helfen kannst?«
Auch Morren sagte nichts, sondern blickte ihn nur ernst an, so
daß Keil einen Moment lang bezweifelte, ob er ihm
überhaupt richtig zugehört hatte. Dann sagte der
Zauberer: »Du weißt, wie gefährlich dieser Wunsch
sein kann?«
Keil nickte. »Schwinge wird wütend sein, wenn sie davon
hört.«
»Das meine ich nicht. Vergiß Schwinge. Denk nur an
das, was du wissen willst: Menschen. Glaub mir, ihr seid besser
dran, wenn ihr so wenig wie möglich über sie
wißt.«
»Sind sie denn so schrecklich?« fragte Keil
entsetzt.
»Nein. Und genau das ist es. Sie sind anders als ihr oder
alle anderen Völker. Aber es ist durchaus möglich, sie zu
mögen. Ich kann mir tatsächlich vorstellen, daß du,
wenn du sie näher kennenlernst, Gefallen an ihnen finden
könntest. Und plötzlich wird dir der Gedanke, dich auf
alle Zeiten in den Wäldern zu verstecken und nie wieder einen
Menschen zu treffen, nicht mehr gefallen. Ich habe volles
Verständnis für deinen Wunsch und bin gerne bereit, dir
zu helfen. Aber dir sollte bewußt sein, daß du dadurch
eure Mission aufs Spiel setzt.«
So hatte Keil das überhaupt noch nicht gesehen. Er konnte
sich nicht vorstellen, daß er Gefallen an den Menschen finden
konnte. Alle, die er bis jetzt getroffen hatte, waren wild und
gefährlich. Nichts an ihnen erschien irgendwie
liebenswürdig. Aber Keil mußte einfach wissen, wer sie
waren!
»Ich bin noch sehr jung«, sagte er schließlich.
»Aber es werden immer wieder solche kommen, die noch
jünger sind als ich. Es werden Kinder geboren werden, wenn wir
in den Wäldern leben; Kinder, die niemals erfahren werden, was
außerhalb der Welt liegt, die sie kennen. Und eines Tages
werden sie anfangen, Fragen zu stellen. Sie werden wissen wollen,
vor wem wir uns verstecken. Dann genügt es nicht als Antwort,
wenn wir sagen ‘Die Menschen sind haarig und unsere
Feinde’. Sie werden ausziehen wollen, um mehr über die
Menschen zu erfahren, und sich selbst und uns in Gefahr bringen.
Deshalb möchte ich alles über die Menschen wissen, damit
ich diese Fragen einmal beantworten kann. Ich glaube, das ist auch
der einzige Grund, warum man gerade mich auf diese Reise geschickt
hat. Ich bin hier, um Wissen zu sammeln und neue Lieder daraus zu
machen.«
»Du bist sehr neugierig«, stellte Morren fest.
»Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht für dich
ist, aber ich fürchte, man kann nichts daran ändern. Die
Alifwin sind normalerweise nicht für ihre Neugier bekannt.
Zauberer forschen. Alifwin singen.«
»Man muß wissen, worüber man singt.«
»Und du glaubst nicht, daß du das Gegenteil von dem
bewirken könntest, was du willst? Wenn du den Kindern von den
Menschen vorschwärmst, wirst du sie nur noch begieriger
machen, die Wälder zu verlassen.«
»Ich glaube nicht, daß man von den Menschen
schwärmen kann«, sagte Keil und schüttelte den
Kopf. »Aber du mußt es besser wissen. Schließlich
hast du lange in ihrer Nähe gelebt. Erzähl mir alles, was
du über sie weißt!«
Morren überlegte kurz. »Das könnte ich «,
meinte er dann. »Aber es wäre nicht gut. Du solltest dir
ein eigenes Bild von ihnen machen, aus Sicht der Alifwin, nicht der
Zauberer. Wir sehen manche Dinge anders, mußt du wissen.
Studiere die Menschen selbst, sonst wird es dir nichts
bringen.«
»Aber wie soll ich das tun, wenn wir weite Bögen um
ihre Ansiedlungen machen?« fragte Keil verzweifelt. Genau das
war doch sein Problem! »Und wenn wir sie treffen, erleben wir
immer nur die wilden Menschen, die uns angreifen, weil wir Alifwin
sind. So werde ich niemals sehen, wie sie wirklich sind. Es ist
unmöglich.«
»Wenn du mit einem Zauberer reist«, sagte Morren
lächelnd, »ist nichts unmöglich.«
Lonnìl saß allein an einem Tisch in der Ecke. Das
Gasthaus war überfüllt, aber niemand kannte ihn in dieser
Gegend. Und vermutlich wirkte er auch nicht gerade einladend, wie
er dort hockte und mit finsterer Miene in sein Bier starrte. Das
war ihm ganz angenehm. Im Moment wollte er einfach nur seine Ruhe
haben, nicht nur vor den Leuten im Gasthaus, sondern auch vor der
ganzen Menschheit. Im letzten Monat hatte er seinen Grafen
umgebracht.
Sie suchten ihn. Wenn ihn die Schergen fanden, würden sie ihn
hängen. Er war ein Mörder. Und was war Graf Oban? Wann
immer Lonnìl die Augen schloß, sah er vor sich Rauch -
nicht den Rauch, der über der Ruine lag, sondern den Rauch,
wie er ihn zuerst gesehen hatte: Eine Rauchsäule, die in der
Ferne zum Himmel aufstieg. Sie hätte von überall kommen
können. Aber Lonnìl spürte sofort, was es war. Er
war rannte. Und dann wurde er immer langsamer, bis er
schließlich erstarrte, auf der Schwelle seines Elternhauses.
Auf der Schwelle von dem, was einmal sein Elternhaus gewesen
war.
Niemand war in den Flammen umgekommen. Sein Vater, seine Mutter
und seine beiden kleinen Schwestern waren schon vorher tot.
Lonnìl fand sie hinter dem Haus. Blut. Hufspuren. Die
Mörder hatten Pferde benutzt. Und Schwerter.
Niemand trug Schwerter außer Graf Oban und seinen
Männern.
Zunächst konnte Lonnìl an nichts denken als an Rache.
Seine einzige Waffe war ein mannslanger Eichenstab, und er schwor
sich, daß er damit eigenhändig den Schädel des
Grafen zerschmettern würde. Aber dann überwog seine
Trauer. Es war ja doch sinnlos. Nichts konnte seine Familie ins
Leben zurückbringen. Und egal, wie hart ein Eichenstab auch
war, ein Schwert war härter und schärfer. Graf Oban
schreckte vor nichts zurück. Er würde hingehen und
weiterhin Höfe niederbrennen und jene töten, die sich ihm
in den Weg stellten oder es wagten, in seinem Wald zu jagen oder
sich weigerten, seine Steuern zu bezahlen - oder es einfach nicht
konnten, weil sie kurz vor dem Hungertod standen. Er konnte machen,
was immer er wollte - solange er lebte.
Als Lonnìl Graf Oban erschlug, tat er das nicht nur
für seine Familie. Er tat es für das ganze Volk der
Grafschaft Dunistan.
»Ich bin Clòn Lonnìl, Sohn von Graw
Lonnìl und Arimaw, Bruder von Jimma und Raegat, die von
deinen Männern erschlagen wurden. Ich bin gekommen, um dich zu
erschlagen.«
Noch bevor der Graf wegreiten oder sein Schwert ziehen konnte,
fegte Lonnìls Stab ihn vom Pferd. Ein zweiter Schlag brach
sein Genick. Ehe seine Jagdfreunde den Grafen erreichten, war
Lonnìl wieder tief im Wald verschwunden. Seither war er auf
der Flucht.
Dunistan hatte er verlassen. Er hatte Angor durchquert, und da man
dort ebenfalls seine Sprache sprach, hatte er schnell begriffen,
daß es den Leuten dort nicht besser ging als in seiner
Heimat. Wo immer er hinkam, herrschte Ungerechtigkeit.
Lonnìl begriff, daß der Tod des Grafen Oban nur der
Anfang gewesen war. Jetzt, wo man ihn ohnehin hängen
würde, konnte er versuchen, auch den Leuten an anderen Orten
zu helfen. Etwas anderes blieb ihm gar nicht mehr übrig. Das
Leben eines Bauern konnte er nicht mehr führen, und er wollte
es auch nicht. Seine Aufgabe war klar. Es würden noch viele
Grafen sterben müssen, bis endlich Gerechtigkeit einkehrte in
der Welt.
Aber erst einmal wollte er seine Ruhe haben.
Lonnìl hatte kein bestimmtes Ziel, nur das Gefühl,
daß er irgendwo im Süden gebraucht wurde. Er half auf
den Feldern, wo er konnte, so daß er nicht betteln
mußte, um sein Brot zu verdienen. An diesem Tag hatte er aber
keine Arbeit bekommen, und so war er mit dem bißchen Geld,
das er besaß, in diesem Gasthof eingekehrt.
Lonnìl mochte Gasthäuser nicht. Es waren zu viele
Leute dort, sie waren laut und betrunken und versuchten immer
wieder, Schlägereien anzufangen. Hier war es nicht anders.
Aber wenn er versuchte, einfach nicht auf die Leute zu achten, zu
vergessen, wo er war und an nichts Bestimmtes zu denken, sah er
Rauch. Eine schwarze Rauchsäule, die in der Ferne zum Himmel
aufstieg.
Unwillkürlich blickte Lonnìl auf und schaute zur
Tür. Ein neuer Gast war eingetreten, und obwohl sich
Lonnìl nicht für die Vorgänge um ihn herum
interessierte, konnte er nicht anders, als diesen Fremden zu
beobachten. Es war etwas sehr Merkwürdiges um ihn. Auf den
ersten Blick war er ein junger Mann, gekleidet wie ein Adliger.
Aber auf den zweiten Blick merkte Lonnìl, daß es
eigentlich unmöglich war, das Alter des anderen auch nur grob
festzulegen. Er konnte jedes Alter haben, oder - so absonderlich
Lonnìl dieser Gedanke auch erschien - gar keines. Und auch
seine Kleidung wirkte nicht wie das, was ein Edelmann tragen
würde. Nichts an den tiefschwarzen, weit geschnittenen
Gewändern war irgendwie überladen oder aufdringlich, und
doch hatten sie etwas ausgesprochen Vornehmes an sich.
Lonnìl wußte nicht, wie er diesen Mann einordnen
sollte. Er war anders als alle Menschen, die er jemals getroffen
hatte, und er konnte seine Augen nicht abwenden.
Der Fremde bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn. Als
Lonnìl in die Augen des anderen blickte, hatte er das
Gefühl zu erstarren. Diese Augen waren schwarz, nicht
bloß von einem sehr dunklen Braun, sondern wirklich schwarz,
und zugleich schien ein eigenes Feuer in ihnen zu liegen.
Unwillkürlich wollte Lonnìl beiseite schauen, aber er
zwang sich, geradeaus zu sehen. Er wußte nicht, wieso, aber
er hatte das Gefühl, diesem Blick standhalten zu müssen.
Gleichzeitig gelang es ihm, das Gesicht des Mannes zu erfassen,
aber das erforderte schon etwas Konzentration. Glatte schwarze
Haare hingen dem Fremden bis auf die Schultern und umrahmten seine
feingeschnittenen Züge.
Weder die Augen noch das Gesicht verrieten die leiseste
Gefühlsregung, doch Lonnìl hatte das unangenehme
Gefühl, als blicke der Fremde direkt durch seine Augen in sein
Herz. Einen Moment lang starrten sich die beiden Männer an,
ohne sich zu rühren. Dann, für den Bruchteil eines
Momentes nur, glitt ein Lächeln über die dünnen
Lippen des anderen, und er hob kaum merklich die geschwungenen
Augenbrauen. Lonnìl konnte förmlich spüren, wie
sein Blick freigegeben wurde.
Und erst jetzt bemerkte er die beiden anderen, die mit dem
seltsamen Fremden hereingekommen waren und hinter ihm in der
Tür standen. Es waren ein junger Mann und ein Frau.
Beide waren sehr hoch gewachsen - noch fast einen Kopf
größer als der Mann in schwarz - und sehr schlank. Ihre
Haare waren lang und glatt, aber während die des Jungen
silbrig weiß waren, schimmerten die der Frau wie reines Gold.
Doch das Bemerkenswerteste an ihnen waren nicht ihre fremdartigen
Kleider aus Leder und glänzendem bunten Stoff, verziert mit
grünen Blättern, Federn und Fellstücken, sondern
ihre Gesichter. Lonnìl hatte noch nie zuvor Elfen gesehen,
aber er wußte, daß er nun zwei vor sich hatte. Ihre
Gesichter waren schmal und lang, ohne dabei knochig zu wirken, mit
ausgeprägten, hohen Wangenknochen, feinen, geraden Nasen und
zarten, dünnen Lippen. Sie hatten seltsam schräge und
langgezogene Augen: Die des jungen Mannes waren türkisblau,
die der Frau so grün wie ein Wald im Sommerlicht; Farben, die
von ihren Gewändern aufgegriffen wurden. Ihre kleinen Ohren
liefen nach hin oben spitz zu.
Lonnìl hatte einige Geschichten über die Elfen
gehört, vor allem über ihre Wildheit und Grausamkeit,
aber als er sie nun lebendig vor sich sah, konnte er nicht mehr
daran glauben. Vielleicht waren sie wirklich wild - ihre Kleidung
ließ das vermuten. Aber wild ist nicht nur der reißende
Wolf, sondern auch das scheue Reh. Und diese beiden konnten nicht
die gefährlichen Bestien sein, als die man die Elfen immer
beschrieb. Sie wirkten bedroht, nicht bedrohlich, wie sie nun neben
dem Schwarzen in der Tür standen und sich umsahen. Es war
Lonnìl unbegreiflich, wie er ihre schillernden Gestalten in
dem tristen Grau und Braun der Umgebung zunächst hatte
übersehen können.
Sie waren so schön, daß Lonnìl glaubte, nicht
mehr atmen zu können, so als könne schon die leiseste
Regung von ihm sie zerstören. Plötzlich kam er sich in
seinem bäuerlichen Kittel sehr grob und plump vor, und er
wünschte sich, unsichtbar zu sein. Am liebsten hätte er
sich unter seinem Tisch verkrochen, und doch konnte er nicht
anders, als die beiden Elfen anzustarren.
Während sich der Elf und die Elfe auf der einen Seite so sehr
ähnelten wie Geschwister, konnte ihre Gesichter auf der
anderen Seite nicht unterschiedlicher sein: Der Junge sah sich
staunend und offenbar neugierig um, und um seine Lippen spielte ein
leichtes Lächeln. Die Elfe dagegen blickte ernst drein, und in
ihren Zügen lag eine Bitterkeit, die auf schweres Leid
schließen ließ. Der Anblick des Grams in ihren Augen
brach Lonnìl fast das Herz. Wer immer dieser Frau ein Unheil
zugefügt hatte, sollte dafür bezahlen, teurer noch, als
es Graf Oban getan hatte.
Sie mußte seinen Blick bemerkt haben, denn plötzlich
glitt sie hinter den Mann in schwarz, als wolle sie den neugierigen
Augen ausweichen. Lonnìl spürte, wie er errötete
und sah schnell weg, tat so, als interessiere er sich für sein
Bier, das längst seinen Schaum verloren hatte. Nun wußte
er, warum er hierher gekommen war, warum er halb Dunistan und ganz
Angor durchquert hatte. Es war irgendwie vorbestimmt gewesen,
daß er auf diese Elfen traf. Zwar gab es keine wirklichen
Hinweise darauf, aber Lonnìl spürte, daß sein
Leben nach dieser Begegnung nie wieder das sein konnte, was es
vorher war.
Menschen, wohin das Auge
blickte, das war es, was er sah. Der ganze Raum war voll von ihnen.
Große und kleine, dicke und dünne, alte und junge
Menschen saßen, standen und lagen herum. Keil wußte gar
nicht, wo er hinsehen sollte: Konzentrierte er sich zu sehr auf die
eine Ecke, dann verpaßte er vielleicht etwas in der anderen,
aber wenn er immerfort seine Augen durch den Raum schweifen
ließ, konnte er gar nichts richtig beobachten. Außerdem
fiel ihm in dieser Luft das Atmen schwer. Menschen mochten zwar
sehr interessant sein, aber sie rochen nicht besonders gut, vor
allem in geschlossenen Räumen. Nur in der offenen Tür war
es möglich, frische Luft zu bekommen, weswegen er davor
zurückschreckte, die Wirtsstube ganz zu betreten. Und es war
laut, so daß es unmöglich war, einer einzigen
Unterhaltung zu folgen. Alle redeten durcheinander, wie die Spatzen
in ihren Büschen, und wie bei den Spatzen war das Einzige, was
er heraushören konnte, ein vielstimmiges »Ich! Ich!
Ich!«
Keil war trotzdem sehr dankbar, daß Morren ihm erlaubt
hatte, in dieses Gasthaus zu gehen. Der Zauberer hatte ihn sogar
gegen Schwinge verteidigt, die so wütend geworden war, wie er
es noch nie erlebt hatte. Aber sie war mitgekommen. Vermutlich
wollte sie nicht alleine vor einem Menschenhaus warten. Sie sagte,
es gehöre zu ihren Aufgaben, den jungen Barden zu
beschützen, und wenn er sich unbedingt in Gefahr begeben
mußte, war es besser, wenn sie auf ihn aufpaßte. Aber
es war weniger die kampferfahrene Schwinge, die ihn jetzt
beschützte, als vielmehr Morren.
»Ich werde etwas versuchen, daß ich noch nie zuvor
getan habe«, sagte der Zauberer, bevor sie die Schankstube
betraten. »Ich werde einen Zauber über euch legen, der
euch zwar nicht unsichtbar machen, aber verhindern wird, daß
euch irgend jemand bemerkt oder auf euch achtet. Ich habe den
Schild noch nie über andere gelegt, und noch nie vor einer
größeren Menge, aber wenn ich mich konzentriere,
müßte es funktionieren.«
Und so war es auch. Da standen sie nun, unbeachtet, und hatten die
Gelegenheit, sich umzusehen. Keil fand es faszinierend, auch wenn
er vorher hätte fragen sollen, was ein Gasthaus oder eine
Schankstube überhaupt waren. Aber er merkte auch, wie
angewidert Schwinge war.
»Ich trau meinen Augen nicht! Hey, Golspie, Brora, seht euch
das an!« Ein über alle Maßen häßlicher
Mensch erhob sich von seinem Schemel und kam direkt auf sie zu. Er
hatte kurze, drahtige rotbraune Haare und einen struppigen Bart im
Gesicht, das rot glänzte und so zerfurcht war wie schlecht
gegerbtes Leder. Sein schmutziges braunes Hemd hing halb aus seinem
Hosenbund und entblößte, da es nicht zugeschnürt
war, einen nicht minder haarigen Oberkörper. Die Stimme des
Mannes war laut und unangenehm. Keil wartete gespannt ab, was als
nächstes passieren würde. Vielleicht sollten sie besser
nicht in der Tür stehenbleiben. Wenn es draußen etwas
Interessantes zu sehen gab, konnte noch einer dieser Menschen
direkt in sie hinein laufen. Schließlich bestanden sie nicht
aus Luft. Schnell trat Keil einen Schritt zur Seite, um den Ausgang
freizumachen. Der Mensch sah nicht gerade sympathisch aus.
»Was’n los, Dornoch?« fragte ein nicht minder
abstoßender Mensch, der am Tisch des ersten saß.
»Hier sind ‘n Paar verdammte Spitzohren! Frage mich,
wer die reingelassen hat?«
Jetzt standen der zweite Mensch und noch ein dritter, der fast
noch häßlicher war, ebenfalls auf und gesellten sich zu
ihrem Freund. Aber keiner machte Anstalten, das Gasthaus zu
verlassen. Vielmehr blieben sie in etwas mehr als einem Schritt
Entfernung stehen und sahen zu den Alifwin hinüber. Keil hatte
ein ziemlich ungutes Gefühl bei der Sache.
»Was bedeutet das, Morren?« fragte er leise.
»Sie haben uns doch nicht etwa bemerkt?«
»Ich fürchte schon«, entgegnete der Zauberer.
»Es ist meine Schuld. Ich glaube, ich war … einen
Moment lang unkonzentriert. Hoffen wir, daß es keinen
Ärger gibt.«
»Vielleicht sollten wir schnell wieder gehen«, schlug
Keil vor.
»Nein, das werden wir nicht«, sagte Morren. »Du
wolltest die Menschen kennenlernen, und das sollst du nun
auch.«
Langsam kam Keil der Verdacht, daß Morren ihm eine Lehre
erteilen wollte, um ihm seine Neugier abzugewöhnen. Vielleicht
war er absichtlich ‘unkonzentriert’ gewesen, um die
Männer auf sie aufmerksam zu machen? Aber würde Morren so
etwas tun? Vielleicht ja, aber nur, wenn er wußte, daß
keine ernste Gefahr bestand. Keil entspannte sich wieder. Es
würde nichts passieren; er mußte abwarten.
Der Mensch, den die anderen Dornoch genannt hatten, baute sich vor
ihm auf und blies ihm seinen übelriechenden Atem ins Gesicht.
»Na, Spitzohr, was hat dich hierher getrieben? Bist du auf
der Suche nach schönen Jungen, oder was?«
Keil antwortete nicht, sondern hielt nur die Luft an und
lächelte. Er wollte abwarten, wie Morren reagierte. Aus dem
Augenwinkel bemerkte er, wie sich die beiden anderen Menschen jetzt
Schwinge näherten. Auf den Zauberer schienen sie nicht weiter
zu achten. Sie würden sich noch wundern.
»Was für schöne Federn du da an deinem Hemd hast!
Und was für schöne Blumen in den Haaren.« Es waren
nette Worte, aber die Art, wie der Mensch sie aussprach, klang
alles andere als nett. Obwohl Keil normalerweise jedes gesprochene
Wort verstand, hatte er bei Dornoch einige Schwierigkeiten. Der
Mensch redete zwar so laut, daß Keil schon beinahe die Ohren
weh taten, aber seine Worte waren nicht klar zu verstehen. Morren
tat noch immer nichts. Langsam wurde es Keil ungemütlich. Es
war wohl doch das Beste, wenn sie schnell wieder gingen
…
Als er sich zur Tür umdrehte, stand plötzlich der Mensch
vor ihm und verstellte ihm den Weg. Keil hatte ihm eine derart
flinke Bewegung gar nicht zugetraut, denn zuvor hatte sich der Mann
eher schwerfällig bewegt. Mit einem Knall schloß er die
Tür.
Bevor Keil auch nur einen Versuch machen konnte, hinaus zu kommen,
wurde er rückwärts in die Wirtsstube gedrängt.
Schwinge, die nicht wie er zurückwich, wurde von den beiden
anderen gestoßen.
»Schaut euch das an, Leute!« brüllte der dritte,
welcher einen struppigen gelben Bart hatte und fast keine
Zähne mehr. »Wir haben zwei echte Elfen
gefangen!«
Wo war Morren? Keil hatte ihn aus den Augen verloren. Er sah nur
noch die drei Menschen, die ihm und Schwinge grinsend Schulter an
Schulter den Ausgang versperrten und langsam näher kamen.
Dornoch streckte die Hand aus und riß eine Feder von Keils
Weste. Dann hielt er sie hoch, damit alle sie sehen konnten.
»Ich habe ein kleines Hühnchen gefangen! Wollen wir es
braten?«
»Was soll das?« fragte Keil jetzt ärgerlich und,
wobei er hoffte, daß Schwinge es nicht bemerkte,
angsterfüllt .Eigentlich erwartete er keine Antwort.
»Laßt uns in Ruhe! Wir haben nichts getan!«
»Das Hühnchen spricht! Nichts getan, sagt es! Tausend
tote und verschleppte Männer, aber das Hühnchen hier hat
nichts getan!«
Wäre nur seine Flöte zur Hand gewesen, dann hätte
Keil es diesen Rüpeln zeigen können. Doch er wagte nicht,
sie aus ihrem Beutel zu ziehen, aus Angst, daß man sie ihm
wegnehmen und zerstören könnte. Aber Schwinge griff nach
ihrem Jagdmesser, wirbelte herum und wollte gerade zustoßen,
als sich der mittlere der Menschen von hinten auf sie warf und sie
festhielt. Sie war zwar fast einen Kopf größer als er,
aber er war viel breiter und eindeutig stärker, und vor allem
kam ihm sein Freund zur Hilfe. Dornoch packte Keil und hielt ihn
fest.
»Da seht ihr es!« rief der Mensch. »Die Elfen
haben versucht, uns anzugreifen! Worauf wartet ihr? Helft uns, sie
zu erledigen! Ich habe mit ihnen noch ein Hühnchen zu
rupfen.«
Mit diesen Worten riß er weitere Federn von Keils Weste. Er
war so stark, daß er nur einen Arm brauchte, um Keil
festzuhalten, und diese Demütigung schmerzte fast noch mehr
als alles andere. Die beiden anderen hatten mit Schwinge mehr
Probleme. Aber sie konnte zur Not ja auch mit einer ausgewachsenen
Wildsau fertig werden, und die Ähnlichkeiten waren nicht zu
übersehen.
Plötzlich stieß Dornoch Keil von sich, bis dieser eine
Armeslänge von ihm entfernt war, und hieb ihn mit Wucht ins
Gesicht.
»Ich schlag dich tot, du verdammter Elf!« schrie er
und schlug noch einmal zu. Keil schloß vor Schmerz und Scham
die Augen und versuchte, irgendwie zurückzuschlagen, aber er
bekam nur das Hemd des anderen zu fassen. Dornoch riß sich
los und schleuderte ihn zu Boden. Er trat ihm noch einmal gegen das
Bein.
Im selben Moment hörte Keil lautes Poltern, Krachen und
Schreie. Morren!
»Euch werd ich lehren, eine hilflose Frau zu
belästigen!«
Das war nicht Morrens Stimme. Es war die tiefe, kehlige Stimme
eines Menschen. Vorsichtig blickte Keil auf. Ein Mann, der zuvor
ruhig in einer Ecke gesessen hatte, war aufgesprungen und hieb mit
einem langen, relativ dicken Stab auf Golspie und Brora ein, die
eilig das Weite suchten. Dornoch rannte hinterher, als sie unter
dem schallenden Gelächter der anderen Menschen das Wirtshaus
fluchtartig verließen. Jetzt begriff Keil, was Morren getan
hatte. Er konnte es nicht wagen, offen gegen die Rüpel
einzuschreiten. Statt dessen hatte er sich einen Gast von
geeigneter Kraft und eindrucksvoller Statur, zudem bewaffnet,
ausgesucht und ihn durch Zauberei dazu gebracht, die Rüpel in
die Flucht zu schlagen. Aber es war die einzige Möglichkeit.
Wenn Morren die Gegner mit einem Blitz angegriffen hätte,
wäre vermutlich das ganze Haus zusammengebrochen, und es
hätte Tote und Verletzte gegeben. So aber waren sie
gerettet.
Keil klaubte seine verstreuten Federn auf, bevor er sich, immer
noch leicht zitternd, aufrappelte. Vielleicht würde es ihm
gelingen, sie wieder festzumachen. Es waren schöne Federn, die
er im Laufe der Zeit zusammengesucht hatte. Aber Dornoch hatte auf
ihnen herumgetrampelt, so daß sie jetzt unansehnlich und
zerzaust aussahen. Vielleicht konnte Keil sie wieder herrichten.
Möglicherweise würde Morren ihm ja auch helfen
…
»Ist alles in Ordnung mit dir?« Der Mann, der sie
gerettet hatte, streckte Schwinge seine Hand hin. Er war für
einen Menschen sehr groß, größer als alle, die
Keil zuvor gesehen hatte. Seine Kleidung war einfach, aber
ordentlich, anders als die der drei Rüpel. Wie fast alle
Menschen trug er ein eintöniges Braun. Keil fragte sich, ob
sie selbst nicht merkten, wie trostlos das wirkte, oder ob es ihnen
gleichgültig war. In der anderen Hand hielt der Mann seinen
Stab. Schwinge sah ihn lange und abschätzend an. Dann drehte
sie sich beiseite. Die Hand des Mannes verharrte noch einen
Augenblick in der Luft, bevor er sie sinken ließ. Keil hielt
die Luft an. Hoffentlich würde der Mann Schwinge diese
Beleidigung nicht übelnehmen - schließlich war sie
gerade von zwei Menschen angegriffen worden und nicht in der
Stimmung, Frieden zu schließen.
Schnell sagte Keil: »Du hast uns gerettet. Danke.«
Er lächelte den anderen freundlich an, um zu zeigen,
daß sie wirklich keinen Ärger wollten. Der Mann
erwiderte seinen Blick und nickte, aber seine Miene blieb ernst. Es
war etwas Trauriges an ihm, das Keil nicht sofort einordnen konnte.
Dann merkte er, daß es ihn an Schwinge erinnerte. Die Augen
des Menschen dagegen erstrahlten in einem Blau, das die tristen
Farben seines Kittels sofort vergessen ließ.
»Es ist nicht der Rede wert«, sagte der Fremde.
»Die Hauptsache ist, daß euch nichts passiert ist. Ich
mußte einfach eingreifen. Ich kann nicht tatenlos zusehen,
wie unschuldigen Menschen … Leuten ein Leid zugefügt
wird. Bist du verletzt?«
Keil verneinte es, auch wenn sein Kopf noch von den Schlägen
schmerzte und seine Unterlippe blutete. Er war noch nie zuvor
geschlagen worden. Natürlich hatte er erwartet, daß es
weh tun würde, aber was ihm mehr zu schaffen machte, war die
hilflose Wut, die er gespürt hatte, als er am Boden lag. Die
Hilflosigkeit war vorbei, aber die Wut geblieben. Doch zugleich
verspürte Keil Dankbarkeit gegenüber seinem Retter.
Irgendwie hatte er nicht mehr das Gefühl, daß Morren
seine Macht im Spiel hatte. Dieser Mensch schien ihm aufrichtig
besorgt.
Aber wo war Morren? Was hatte er während des ganzen
Durcheinanders gemacht? Keil sah sich suchend um, als der Zauberer
plötzlich aus einer Nische trat, die Keil vorher nicht bemerkt
hatte. Er ging auf den großen Menschen zu und legte ihm eine
Hand auf die Schulter.
»Das hast du gut gemacht, mein Freund. Wir werden auf ewig
in deiner Schuld stehen. Aber wer bist du, wenn ich fragen
darf?«
Der Mann zögerte lange bevor er antwortete. »Meine Name
ist Lonnìl«, sagte er schließlich.
»Sehr schön, Freund Lonnìl. Es freut mich, dich
kennengelernt zu haben. Du kannst sehr gut mit deinem Stock
umgehen. Ich vermute, du übst viel?«
Der Mann starrte ihn an und wurde blaß. »Wer seid
ihr?« flüsterte er. »Woher kommt ihr?«
»Nicht von dort, wo man dich sucht, mein Freund - wo immer
das sein mag. Hüte dein Geheimnis, so wie wir unseres
hüten. Gestatte nun, daß wir aufbrechen. Nach diesem
… Zwischenfall hält uns nicht mehr viel in diesem
gastlichen Haus. Aber deine Mühe soll belohnt werden. Wenn du
einmal in Gefahr geraten solltest, verbrenne diesen Zweig hier und
denke fest an Morren, den Zauberer. Gehabe dich wohl.«
Er verbeugte sich noch einmal schwungvoll mit fliegendem Umgang
und schritt hinaus. Keil folgte ihm eilig. Schwinge wartete bereits
draußen.
»Nun«, fragte Morren nach längerem Schweigen,
»hat dir das, was du über die Menschen gelernt hast,
gereicht? Oder möchtest du noch mehr Erfahrungen zu
sammeln?«
Keil antwortete nicht und ignorierte auch den schadenfrohen
Unterton, in der Stimme des Zauberers. Es würde lange dauern,
bis Schwinge ihm dieses Erlebnis verzeihen würde - wenn sie es
überhaupt jemals tat.
»Ich habe dich etwas gefragt!« sagte Morren
scharf.
»Die Menschen sind so … unterschiedlich«,
antwortete Keil schließlich. »Die drei, die uns
angegriffen haben, waren furchtbar, aber der andere Mann war nett.
Woher wußtest du, daß er verfolgt wurde? Hast du seine
Gedanken gelesen?«
»Das war nicht nötig. Ich erkenne eine gehetzte
Kreatur, wenn ich sie sehe. Vermutlich hat er jemanden erschlagen,
und das muß er nun seiner Ansicht nach wiedergutmachen. Darum
hat er euch gerettet. Ich mußte ihn nur auf euch aufmerksam
machen. Aber die Idee mit dem Zweig gefällt mir immer noch.
Diese Bauern sind so leicht zu beeindrucken. Das mag
ich.«
»Es war kein magischer Zweig?« fragte Keil.
»Es war Wacholder. Ich finde ständig irgendwelche
Kräuterreste in meiner Kleidung. Zu schade zum wegzuwerfen,
aber für meinen Tee nehme ich lieber frisch
gepflückte.«
Schwinge ging, ohne sich umzusehen, voraus, und Keil hatte
Probleme, ihren langen Schritten schnell genug zu folgen. Er
mußte nicht einmal ihr Gesicht sehen, um zu wissen, daß
sie wirklich wütend war.
Ihr Gesicht … warum ging
ihm ihr Gesicht nicht mehr aus dem Kopf? Sie hatte so traurig
ausgesehen, aber das alleine konnte es nicht sein. Dies waren harte
Zeiten für alle außer den Adligen, und er hatte Schmerz
und Leid schon tief in viele Gesichter gegraben gesehen.
Aber als Lonnìl nun die Augen schloß, sah er keinen
Rauch mehr vor sich - nur noch das Gesicht der Elfe. Und selbst
jetzt, wo sie nicht mehr wirklich vor ihm stand, stiegen ihm
Tränen in die Augen, und er mußte die Luft anhalten
angesichts solcher Schönheit.
Wie im Traum bezahlte er sein Bier, von dem er nur einen Schluck
getrunken hatte, und ging. Er wußte nicht, wohin er gehen
wollte. Aber er merkte, daß er ganz von selbst den Weg
eingeschlug, den die Fremden genommen hatten. Seine Hand
umklammerte den magischen Zweig, den ihm der Zauberer gegeben
hatte. Das hätte er eigentlich sofort erkennen müssen.
Kein gewöhnlicher Mensch trug derartige Kleider, aber vor
allem hatte kein gewöhnlicher Mensch derart durchdringende
Augen. Elfen, Zauberer … es war, als hätte
Lonnìl es verlernt, sich über irgend etwas zu wundern.
Nicht, daß ihn sein Leben so sehr abgestumpft hätte. Er
erkannte Schönheit, wenn er sie sah. Aber das plötzliche
Auftreten dieser übersinnlichen Gestalten erschien ihm so
normal, als habe er insgeheim die ganze Zeit darauf gewartet
erwartet. Vielleicht war es kein Zufall, daß sie an diesem
Tag in diesem Gasthaus aufeinander getroffen waren? Es war, als
zöge ihn eine unsichtbare Macht mit Gewalt aus seiner Ecke und
zwinge ihn, zuzuschlagen, so wie er auf Graf Oban eingeschlagen
hatte. Diesmal hatte er zum Glück niemanden getötet. Aber
die beiden hatten anständig gehumpelt, als sie davon rannten,
und Lonnìl bedauerte, daß der Dritte ungeschoren
entkommen war.
Und was würde er jetzt tun? Darauf gab es nur eine Antwort.
Er würde den Fremden folgen, auf Gedeih oder Verderb, ohne
daß er sagen konnte, warum. Mit dem Bild der Elfe vor Augen
und dem Zweig in seiner ausgestreckten Hand ging er seinen Weg, als
ob diese Zeichen ihn führen könnten. Sie konnten es.
Lonnìl war nie abergläubisch gewesen. Aus
Wolkenformationen hatte er nie drohendes Unheil gelesen, sondern
immer nur drohendes Unwetter, und auch die Flughöhe der
Wildgänse hatte keinen Einfluß auf sein Schicksal.
Natürlich wußte er, daß es die Götter gab.
Aber sie scherten sich nicht darum, was ein einfacher Bauer tat.
Doch plötzlich fühlte er sich, als ob etwas Fremdes sein
Denken, sein Handeln bestimmte.
Wenn er morgens aufwachte, wußte er genau, in welche
Richtung er sich wenden mußte, als habe eine unsichtbare
Stimme ihm im Traum den Weg gewiesen. Aber erst nach mehr als drei
Tagen erkannte Lonnìl, welche fremde Kraft mit einem Mal
sein Leben bestimmte: Es war die Liebe.
Das Gefühl war seltsam: Sein ganzes Leben über hatte er
darauf gewartet, daß es passieren würde. Lonnìl
glaubte an die Kraft der Liebe. Er wollte keine Frau heiraten, die
er nicht wirklich aus tiefstem Herzen liebte. Und jetzt hatte er
sie gefunden.
Wen kümmerte es schon, daß sie kein Mensch war? Seiner
Liebe tat es keinen Abbruch. Keine Menschenfrau konnte so
schön sein wie diese Elfe. Einen Moment lang bekam
Lonnìl Angst. Elfen gebrauchten Magie, das wußte er.
Was war, wenn sie ihn verhext hatte, damit er ihr willenlos folgte?
Aber das paßte nicht zu dem, was man sich sonst von den Elfen
erzählte. Es hieß, sie töteten die Menschen immer
sofort.
Aber sie hatten es nicht getan. Und Lonnìl spürte
auch, daß seine Liebe nicht das Ergebnis von
trügerischer Zauberkraft war, sondern echt. Kein anderes
Gefühl war jemals so wirklich gewesen, so schmerzhaft. Er
mußte die Elfe wiederfinden, ihn nicht nur folgen, sondern
sie einholen. Lonnìl gab die Hoffnung nicht auf.
Stärker als Magie war die Liebe. Und sie würde seinen
Schritt beflügeln, bis er die Elfe endlich in seinen Armen
hielt.
Schwinge war aufgefallen,
daß Morren in den letzten Tagen sehr viel öfter als
zuvor in seine Kugel blickte, und sie fragte ihn, was los war.
»Ich sage es nur sehr ungern«, antwortete er,
»aber ich werde das Gefühl nicht los, daß wir
verfolgt werden.«
»Vielleicht sind es diese drei Menschen«, sagte Keil
und schauderte. »Sie wollen sich an uns rächen.«
Schwinge würde nie vergessen, wie er dort in dem Haus gelegen
hatte, zitternd wie ein kleines Kind. Am liebsten wäre sie vor
Scham im Boden versunken. Seine Feigheit würde sich eines
Tages noch zu einer größeren Gefahr entwickeln als seine
unbezähmbare Neugier. Aber Morren ließ nicht zu,
daß Schwinge dem Barden deswegen Vorwürfe machte.
»Sie sollten sich besser an diesem Mann rächen, wie
hieß er noch gleich … Lonnìl. Immerhin war er
es, der sie verprügelt hat. Und ich glaube auch nicht,
daß sie uns folgen. Ich versuche, die Wegstrecke zu
überblicken, die hinter uns liegt, aber ich sehe immer nur
eine einzelne Person, nicht drei. Alleine aber trauen sich diese
Rüpel zu nichts. Also ist es keiner von ihnen. Es kann
natürlich ein Zufall sein, aber …«
»Was willst du sagen?« fragte Schwinge.
»Ich glaube, der Mann, der uns folgt, ist Lonnìl. Ich
weiß nicht, was er damit bezweckt. Vielleicht ist ihm
eingefallen, daß er auch eine richtige Belohnung hätte
verlangen können. Aber er liegt mehr als einen ganzen Tag
hinter uns zurück, obwohl er erstaunlich lange Schritte
macht.«
»Wir selbst kommen viel schneller voran, seit du bei uns
bist«, stellte Keil fest. »Wie machst du
das?«
»Du möchtest, daß ich dir erkläre, wie
Magie funktioniert?« Morren lachte leise.
»Nicht, bevor du weißt, wie die Welt
funktioniert. Und schon das ist mehr, als du jemals erfahren
willst.«
Er war überzeugt,
daß sie diesen Weg genommen hatten, auch wenn Lonnìl
keinerlei Spuren fand und niemand, den er fragte, sie gesehen
hatte. Sein Herz spürte, welcher Weg der richtige war. Er ging
so schnell er konnte, und mit jeden Tag rastete er kürzer, um
die verlorene Zeit aufzuholen. Doch nirgends fand sich ein Zeichen
der Elfe. Schließlich verzichtete er völlig auf Pausen.
Die Liebe gab ihm die Kraft, Tag und Nacht hindurch zu wandern, und
wenn er an nichts anderes dachte als ihr Gesicht, dann fühlte
er keinen Hunger, keine Müdigkeit. An einem Tag nahm ihn ein
Bauer ein Stück weit auf seinem Ochsenkarren mit, aber der war
noch langsamer, weshalb sich Lonnìl schnell wieder
verabschiedete.
Drei Tage und zwei Nächte hindurch wanderte Lonnìl,
ohne auch nur ein einziges Mal länger anzuhalten. Doch dann
verließen ihn seine Kräfte. Nicht einmal die Macht der
Liebe kann einem Mann Essen und Schlaf ersetzen, zumindest nicht
für längere Zeit. So schlug er am Abend des dritten Tages
sein Nachtlager auf, mitten im tiefsten Wald, denn die Elfen und
der Zauberer hatten die befestigten Wege verlassen. Lonnìl
fühlte, daß er ihnen nun schon sehr viel näher war,
und er hatte jetzt auch richtige Spuren, denen er folgen konnte: Er
war am Vormittag an einem Rastplatz vorbeigekommen, dessen Asche
noch warm war.
Mit einem gezielten Steinwurf tötete er ein Kaninchen, wie er
es als Junge gelernt hatte, und entzündete mit zwei Steinen
und einiger Mühe ein kleines Feuer, über dem er es braten
konnte. Aber er war zu müde, um mehr als nur ein paar Bissen
zu essen. Das Fleisch würde am nächsten Morgen immer noch
gut genug, wenn auch kalt, sein. Das einzige, was Lonnìl
jetzt noch wollte, war schlafen. Es kümmerte ihn nicht,
daß es kalt war und der Boden hart und uneben. Kaum hatte er
sich in seinen Mantel wie in eine Decke eingerollt, fielen ihm auch
schon vor Erschöpfung die Augen zu, und er war gerade noch
lange genug wach, um das Bild der Elfe vor sich zu sehen, wie sie
ihm zulächelte.
Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlafen hatte, nur,
daß es zu kurz war, ihn plötzlich einige harte
Fußtritte aus der traumlosen Ruhe rissen. Zu müde, um
die Schmerzen wahrzunehmen, öffnete Lonnìl die Augen.
Ein weiterer Tritt traf ihn direkt in der Bauchgegend.
»Hoch mit dir, Tagedieb!« schrie eine laute,
befehlsgewohnte Stimme. »Ich werde dir zeigen, was es
heißt, in den Wäldern des Grafen zu wildern!«
Noch bevor der Mann wieder zutreten konnte, war Lonnìl auf
die Füße gesprungen und griff nach seinem Stab. Ein
Schwindelgefühl ließ ihn fast wieder zu Boden
stürzen, doch es gelang ihm, sich aufzustützen. Schwer
atmend sah er nun endlich, wer ihn da überfallen hatte. Es was
ein mittelgroßer bärtiger Mann mit einem grünen Hut
und grünem Wams. Wahrscheinlich waren auch seine Hosen und
Stiefel grün, aber das konnte Lonnìl nicht erkennen,
denn es war noch immer finstere Nacht, und das einzige Licht kam
von der Laterne, die der Fremde in der Hand hielt. Aber
Lonnìl mußte nicht mehr sehen, um zu wissen, mit wem
er es zu tun hatte: Einem Wildhüter.
»Ich habe nicht gewildert!« beeilte er sich zu
sagen.
»Ach nein? Und was ist das da?« Der Mann trat gegen
die Reste des Kaninchens. »Dafür wirst du
hängen!«
Ohne Nachzudenken riß Lonnìl seinen Stab hoch, um den
Wildhüter niederzuschlagen, noch bevor der sein Schwert ziehen
konnte. Da dieser mit der Rechten die Laterne hielt, würde er
nicht schnell genug reagieren können. Aber das war auch gar
nicht nötig. Alles, was er machte, war ein Schritt zur Seite.
Lonnìl selbst wurde seinem eigenen Schwung von den Beinen
gerissen. Er hatte vergessen, daß der Stab seine Stütze
war. Ein stechender Schmerz zog sich durch seinen Bauch, wo ihn die
Stiefel getroffen hatten, und Lonnìl schrie auf, als er im
Fallen mit der Hand in die noch immer schwelende Glut seines Feuers
griff. Der Wildhüter lachte höhnisch.
»So nicht, mein Freund«, sagte er. »So
nicht.«
Und während Lonnìl noch zu überlegen versuchte,
was mit ihm geschehen war, zog der Wildhüter sein Schwert. Mit
letzter Kraft rollte Lonnìl zur Seite. Sein Körper
gehorchte ihm nicht mehr. Nun forderten die drei Nächte, in
denen er nicht geschlafen hatte, ihren Tribut. In der
Hoffnungslosigkeit seiner Situation mußte er lachen. So
würde nun der Mörder des Grafen Oban sterben, weil er ein
Kaninchen getötet hatte. Vor seinem Auge überschnitten
sich zwei Bilder: Das des Wildhüters, der mit seinem Schwert
auf ihn zu kam, und das immer deutlicher werdende Gesicht der Elfe.
Während die Welt um ihn herum mehr und mehr verschwamm, wurden
ihre grünen Augen immer deutlicher, brennender. Aber sie waren
gar nicht grün … Sie waren schwarz! Und sie
gehörten nicht der Elfe, sondern dem Zauberer. Plötzlich
fiel Lonnìl die Worte wieder ein: ‘Wenn du einmal in
Gefahr geraten solltest …’ Warum hatte er nicht mehr
an den Zweig gedacht? Fahrig griff Lonnìl in die Tasche
seines Kittels. Das Schwert hatte ihn noch nicht erreicht. Es war,
als ob die Zeit für alles außer ihm stillstände,
als ob die Götter ihm noch eine letzte Gelegenheit gaben, sein
Leben zu retten. Er wollte nicht sterben!
Lonnìl ertastete den Zweig und warf ihn in die Glut. Doch
so sehr er sich auch auf Morren, den Zauberer, zu konzentrieren
versuchte, gelang es ihm nicht, sich an sein Gesicht zu erinnern.
Mehr als die Augen waren ihm nicht im Gedächtnis geblieben,
während er die Elfen so deutlich vor sich sah, als
stünden sie neben ihm.
Morren …
Das Feuer loderte plötzlich wieder auf, mit mannshohen
Flammen, rot wie Blut. Lonnìl wurde es schwarz vor Augen,
und das letzte, was er hörte, war ein leises, aber
durchdringendes Lachen.
Keil fuhr jäh aus dem
Schlummer hoch, als er das Schreien hörte. Es war zwar nur
leise, konnte aber nicht weit entfernt sein, allenfalls ein paar
hundert Schritt, und die Stimme war die eines Menschen. Keil setzte
sich auf und sah sich lauschend um. Morren und Schwinge hatten es
ebenfalls gehört.
»Das ist kein Tier«, sagte Schwinge. »Da ist
etwas. Jemand.«
»Bleibt ganz ruhig«, flüsterte der Zauberer.
»Ich werde nachsehen.« Er zog die Kugel hervor, warf
aber nur einen kurzen Blick hinein und ließ sie wieder
sinken. »Das gibt es doch nicht!«
»Was ist los?« fragte Keil und versucht, etwas zu
erspähen. Aber wieder einmal mußte er feststellen,
daß der Kristall seine Geheimnisse nur dem Zauberer
offenbarte. Sein Inneres war so weiß und trüb wie
immer.
»Dieser Mensch, Lonnìl. Ich war mir sicher, daß
er uns verloren hatte. Er konnte unmöglich mit unserer
Geschwindigkeit reisen. Und doch hat so weit aufgeholt, daß
er kaum zweihundert Schritt hinter uns sein Lager aufgeschlagen
hat. Aber was für erstaunliche Fähigkeiten er auch haben
mag, im Moment ist er in Schwierigkeiten. In ziemlich ernsten,
sogar.«
»Was ist mit ihm?« fragte Keil besorgt. Es war zwar
nur ein Mensch, aber immerhin hatte er sie gerettet. Das Rufen
hatte längst aufgehört. Morren antwortete nicht. Er
lachte noch einmal kurz auf und begann dann, sich ganz auf die
Kugel zu konzentrieren, und seine freie Hand zuckte.
Schließlich meinte er: »Manchmal bin ich von mir selbst
erstaunt. Aber ich glaube, dieser Wacholderzweig, den ich ihm
gegeben habe, hat gerade sein Leben gerettet.«
Er steckte der Kristall ein, erhob sich vom Boden und machte
Anstalten, die Lichtung zu verlassen.
»Was ist los?« fragte Schwinge. »Wo gehst du
hin?«
»Nachsehen«, antwortete Morren bloß.
»Kommt mit, wenn ihr wollt.«
Schwinge nahm ihren Bogen, dann folgten sie dem Zauberer durch den
nächtlichen Wald. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine
kleine Kugel aus reinem Licht. Keil hatte noch nie etwas derart
Schönes gesehen, aber jetzt war nicht der Moment, um danach zu
fragen. Schnell hatten sie die Stelle erreicht, von wo die Schreie
gekommen sein mußten. Nun war es dort ruhig. Nichts war zu
sehen außer einem heruntergebrannten Feuer, zertretenem Gras
und einem Menschen, der reglos am Boden lag Es war wirklich
Lonnìl.
»Schaut nach, ob er noch lebt«, ordnete Morren an.
»Ich habe hier gerade etwas Feuer gemacht, und er war
ziemlich nah daran. In der Kugel konnte ich nur sehen, daß
ich seinen Gegner in wilde Panik versetzt und vertrieben habe, aber
nicht, ob ich unserem Freund überhaupt das Leben retten
konnte.«
Doch sowohl Keil als auch Schwinge zögerten. Sie konnten doch
nicht einfach einen Menschen berühren!
»Ob er lebt oder nicht, ist mir gleichgültig«,
sagte Schwinge.
»Aber er hat uns gerettet!« warf Keil ein.
»Ich weiß. Darum ist es mir ja auch gleichgültig.
Jedem anderen hätte ich den Tod gewünscht.«
Inzwischen war Morren selbst neben dem Bewußtlosen
niedergekniet. »Lebt«, stellte er fest. »Nicht
einmal verletzt. Kleine Brandwunden. Er ist einfach nur
ohnmächtig.«
»Dann können wir ja wieder gehen«, sagte
Schwinge. »Du weißt, was du wissen wolltest.«
»Nein«, sagte Morren. »Es erklärt noch
immer nicht, wie er uns einholen konnte. Ich werde ihn
aufwecken.«
In diesem Moment kam Lonnìl wieder zu sich. Er zwinkerte
verwirrt. Aber als sein Blick auf Schwinge fiel, konnte Keil ihn
förmlich erstarren sehen.
»Warum starrst mich der Mensch so an?« fragte
Schwinge.
»Meine Liebste«, flüsterte der Mensch benommen.
»Endlich habe ich dich gefunden.«
»Wovon redet der Mann?« fragte Keil verwundert.
Morren lachte und half Lonnìl, aufzustehen. »Komm
mit, mein Freund!« sagte er in der Menschensprache und
fügte, an die Alifwin gerichtet, hinzu: »Ich glaube, wir
haben das Glück, Zeuge eines einmaligen Phänomens zu
werden. Dieser Mensch hier hat sich in Schwinge
verliebt.«
Es gab einiges, das Morren Keil in dieser Nacht erklären
mußte, während der Mensch und so friedlich schlief, als
ob nichts geschehen sei. Endlich fing der Zauberer damit an, ihm
etwas über die Menschen beizubringen, aber Keil fand es
ausgesprochen verwirrend.
»Aber das ist nur ein grober Überblick«, sagte
Morren. »Lonnìl wird es dir besser selbst
erklären, wenn er wieder wach ist. Laß ihn schlafen. Er
ist zu erschöpft, um irgend etwas anderes zu tun.«
Keil warf einige skeptische Blicke auf den schlafenden Mann.
Morren schien davon auszugehen, daß sie sich am nächsten
Morgen noch ausgiebig mit dem Menschen würden unterhalten
können, aber Schwinge war entschieden dagegen.
»Ich weiß, daß er uns einmal geholfen
hat«, sagte sie. »Aber jetzt hast du ihn gerettet, und
damit sind wir ihm nichts mehr schuldig. Wir sollten ihn
liegenlassen und weitergehen.«
»Wir sollten die Entscheidung auf morgen früh
verschieben«, meinte Morren. »Ich möchte gerne
mehr über ihn wissen. Und vielleicht wirst du auch deine
Meinung über Menschen ändern, wenn du mit ihm geredet
hast.«
»Ich werde nicht mit ihm reden. Ich spreche nicht mit
Menschen. Es ist Verrat.«
»Nichts mehr darüber«, sagte Morren.
»Morgen reden wir weiter.«
Als Lonnìl am
nächsten Morgen erwachte, wußte er zunächst nicht
mehr, was in der Nacht geschehen war. Dann kam die Erinnerung,
düsteren Schatten gleich, und sie endete damit, daß er
und die Elfe sich Auge in Auge gegenüber standen. Aber sie
hatte ihn nicht angelächelt, wie in seinen Träumen. Ihr
Blick war finster.
Und jetzt lag er hier, und die Elfen und der Zauberer standen um
ihn herum und starrten ihn an. Sein Bauch schmerzte ihn noch immer
von den Tritten des Wildhüters, und seine linke Hand brannte.
Es konnte also kein Traum sein. Wer träumte, hat keine
Schmerzen.
»Ich habe dir das Leben gerettet«, sagte der Zauberer.
»Schwinge hier findet, damit sind wir quitt.«
Ihr Name war Schwinge! Immer wieder hatte Lonnìl sich
überlegt, wie sie wohl heißen mochte, aber kein Name,
den er ihr gegeben hatte, paßte so gut wie dieser.
Schwinge.
»Ich möchte dir aber noch einige Fragen stellen«,
fuhr der Zauberer fort. »Zunächst einmal: Warum
umklammerst du fortwährend deine linke Hand?«
»Ich habe sie mir verbrannt«, antwortete
Lonnìl. »Ich bin ins Feuer gefallen.«
»Da sehe ich aber nichts von«, sagte der Zauberer
lächelnd.
Lonnìl betrachtete seine Hand erstaunt. Die Brandwunde war
verheilt, nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben. Eigentlich
spürte er auch gar keine Schmerzen mehr. Sie waren da gewesen,
weil sie hätten da sein müssen. »Das … das
hast du gemacht?«
Morren nickte. »Das, und noch einiges mehr. Aber was ich vor
allem wissen will: Warum bist du uns so weit gefolgt? Es ist doch
kein Zufall, daß du direkt hinter uns warst!«
Lonnìl starrte in die Glut und schwieg. Er konnte doch
nicht einfach einem dritten seine Liebe zu Schwinge gestehen! Aber
der Blick des Zauberers, hatte etwas Forderndes. In dem Gasthaus
war es schwer gewesen, ihm standzuhalten. Jetzt war es
unmöglich.
»Ich konnte nicht anders«, flüsterte
Lonnìl schließlich. »Ich mußte einfach
… Es ist … ich liebe sie!«
»Das ist, wenn auch keine kluge, zumindest eine klare
Aussage«, sagte der Zauberer. Es schien ihn nicht weiter zu
überraschen. Lonnìl fragte sich, ob er in der Nacht,
zwischen Schlaf und Ohnmacht, vielleicht schon etwas in der Art
gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch an ihr Gesicht.
»Du meinst, es ist nicht klug, daß ich als Mensch eine
Elfe liebe?« fragte Lonnìl. Jetzt, wo er es
ausgesprochen hatte, fiel es ihm erstaunlich leicht, darüber
zu reden.
»Liebe ist niemals klug«, entgegnete der Zauberer.
»Sonst wäre es keine Liebe.« Sein Lachen war ein
leiser Abgrund. »Und du liebst sie wirklich? Immerhin hast du
sie nur einmal kurz gesehen.«
»Das weiß ich. Aber ich liebe sie.«
Morren nickte. »Ich verstehe. Selbst wenn wir dich jetzt
wieder verließen, würdest du weiter versuchen, uns zu
folgen, nicht wahr?« Dann fügte er, an die Elfen
gerichtet, etwas in einer Sprache hinzu, die Lonnìl nicht
verstand. Was immer es bedeuten mochte, es klang wie eine
wunderschöne Musik. Der Elfenjunge blickte auf, und jetzt erst
merkte Lonnìl, daß er zuvor gar nicht das Lied eines
fremden Vogels gehört hatte, sondern eine kunstvoll gespielte
silberne Flöte.
Schwinge antwortete dem Zauberer aufgebracht und zeigte mehrmals
auf den Wald hinter sich. Lonnìls Herz sank. Nun hatte er
sie gefunden - und sie wollte ihn nicht in ihrer Nähe haben.
Während die Elfe mit dem Zauberer diskutierte, wünschte
Lonnìl sich wieder, unsichtbar zu sein. Die ganze Situation
war ihm furchtbar unangenehm. Hätte er doch nur kein Wort von
seiner Liebe gesagt! Er spürte den Blick des Elfen, der wieder
zu spielen begonnen hatte, auf sich ruhen. Die Musik hatte etwas
Erleichterndes, Befreiendes an sich. Langsam wurde Lonnìl
wieder sicherer. Er würde Schwinge folgen, und wenn es bis an
das Ende der Welt ging.
Nach einiger Zeit kam Morren zu ihm zurück. »Es sieht
schlecht aus für dich, mein Freund. Schwinge haßt die
Menschen. Sie würde euch am liebsten alle tot
sehen.«
Lonnìl schluckte und spürte, wie etwas in ihm
erstarrte. Wenn das stimmte, dann waren die Elfen wirklich so wie
in den Geschichten: Böse, grausame Gestalten, nach außen
hin wunderschön, aber innerlich kalt und berechnend. Von allen
Fragen, die er im Laufe seines Lebens gestellt hatte, war dies
sicher die unangenehmste. Aber Lonnìl mußte es einfach
wissen.
»Morren«, begann er zögerlich. »Sind die
Elfen … sind sie nun gut oder böse?«
»Mußt du das wissen?« fragte der Zauberer
zurück.
»Nun, ich … ich denke schon. Alle Leute haben immer
gesagt, die Elfen sind böse, aber ich will es nicht
glauben.«
»Du gehörst zu den Leuten, die immer alle anderen nach
‘gut’ und ‘böse’ einteilen
müssen. Gibt es für dich kein
‘neutral’?«
»Niemand ist neutral«, erwiderte Lonnìl, ohne
lange zu überlegen. »Allerhöchstens
unentschlossen.«
Der Zauberer begann zu lachen. »Ich denke, es gibt mehr
Farben als schwarz und weiß. Aber was die Alifwin angeht
… nun, sie wären mit deiner Frage überfordert.
Ausdrücke wie gut und böse gibt es für sie nicht.
Sie schauen darauf, ob ihnen jemand freundlich gesonnen ist oder
nicht. Die Menschen verhalten sich ihnen gegenüber feindlich,
folglich sind auch die Alifwin die Feinde der Menschen. So einfach
ist das. Wen macht das in deinen Augen nun gut oder
böse?«
»Die Menschen«, antwortete Lonnìl nach langem
Zögern.
Morren schüttelte den Kopf. »Falsch.
Niemanden.«
Als Lonnìl merkte, daß er dabei war, dem Zauberer
sein gesamtes Leben zu erzählen, war es schon zu spät.
Die Fragen kamen so behutsam, daß er keinerlei Argwohn
schöpfte. Und jetzt wußte Morren alles, selbst von dem
Mord an Graf Oban. Dennoch fühlte Lonnìl keine Angst.
Diese Leute würden ihn nicht verraten. Und es tat gut, nach
all den Wochen endlich darüber zu reden.
»Also ziehst du jetzt umher und tötest Adlige?«
fragte der Elfenjunge, Keil hieß er, plötzlich.
»Faszinierend.« Bis dahin hatte Lonnìl
völlig vergessen, daß die Elfen auch seine Sprache
sprechen konnten. Aber Schwinge redete trotzdem nicht mit ihm, und
sie ließ sich auch nicht anmerken, daß sie ihn
verstand. Der Elf fügte hinzu: »Mit Schwinge ist es
ähnlich. Die Menschen haben ihre Eltern getötet, und
eines Tages wird sie sich dafür rächen.«
Getötet … Das erklärte natürlich alles, ihre
ganze feindselige Haltung. Wenn er ihr nur begreiflich machen
konnte, daß er ihr nichts Böses wollte! Er wollte ihr
doch nur helfen! Der Gedanke an Menschen, die ohne jeden Grund
Elfen abschlachteten, versetzte ihn mindestens so sehr in Wut wie
der an die grausamen Adligen. Er fühlte den selben Zwang,
einzugreifen.
»Wenn es irgend einen Weg gibt, wie ich euch beistehen kann,
dann sagt es mir!« rief er. »Ich möchte euch
helfen zu finden, was immer ihr sucht. Ich möchte euch
beschützen, nicht zulassen, daß die Menschen euch
weiterhin wie Tiere behandeln.«
»Grob gesagt: Du möchtest uns begleiten?« fragte
Morren. »Und das, obwohl du noch nicht einmal weißt,
was wir suchen? Es könnte das Ziel der Alifwin sein, alle
Menschen zu vernichten und die Herrschaft über die Welt
zurückzugewinnen.«
Lonnìl schüttelte den Kopf. »Das würden sie
nicht tun. Es wäre nicht gerecht, und sie wissen das. Was also
sucht ihr?«
Die Elfen berieten einige Zeit in ihrer eigenen Sprache
miteinander. Schließlich setzte Keil sich zu ihm. »Wir
haben beschlossen, daß du die Geschichte hören darfst,
Mensch«, sagte er freundlich. »Du wirst keinen Schaden
damit anrichten können, wenn du weißt, wie die Welt vor
eurer Zeit ausgesehen hat.«
Lonnìls Gefühl, daß die Elfen die Menschen
wirklich nicht vernichten wollten, hatte ihn nicht getrogen. Der
Plan war zwar sehr traurig, aber doch voller Hoffnung. Als Keil
geendet hatte, sagte Lonnìl mit belegter Stimme: »Ich
möchte euch mit aller Kraft helfen, wenn ihr bereit seid,
meine Hilfe anzunehmen. Nehmt es als ein Zeichen der
Versöhnung.«
»Das meinst du ehrlich, nicht wahr?« sagte Morren.
»Auch auf die Gefahr hin, eigenmächtig zu handeln: Ich
würde mich freuen, wenn du uns begleitest, Lonnìl. Ein
Zeichen der Versöhnung ist genau das, was den Menschen und
Alifwin im Moment fehlt. Ich werde es durchsetzen, daß du
mitkommen darfst. Da ist nur eine kleine Sache, um die ich dich im
Namen der Alifwin bitten möchte. Dieses Gestrüpp an
deinem Kinn soll ein Bart werden?«
Lonnìl nickte, während ihm die Schamesröte ins
Gesicht schoß. Ein kurzer Bart unterschied einen Mann von
einem Jungen, und als Lonnìl Oban erschlug,
wußte er, daß seine Kindheit endgültig
vorüber war. »Hältst du mich für zu
jung?«
»Die Alifwin haben eine große Abneigung gegen
Bärte. Sie sind seit Jahrtausenden mit den Zwergen verfeindet,
und vor dem Eintreffen der Menschen waren diese die einzigen
Bartträger der Umgebung.«
Lonnìl hatte verstanden. Er würde nie wieder einen
Bart tragen.
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