Music, when soft voices die,
vibrates in the memory.
Percy Bysshe Shelley
Wälder hatten Namen. Das
war neu für Keil. Er war immer davon ausgegangen, daß
nur die Bäume selbst Namen hatten, wie alle Lebewesen. Aber er
war auch noch nie in einem richtigen, alten Wald gewesen.
Früher, vor dem Aufbruch, in den ruhigen Jahren am
Fluß, waren die Haine in den Auen Wälder für ihn
gewesen. Erst jetzt hatte er gelernt, daß ein Wald mehr war
als nur eine Ansammlung von Bäumen. Ein Wald als Ganzes war
selbst so etwas wie ein Lebewesen, und die Bäume und
Sträucher gehörten ebenso zu ihm wie die Tiere, die in
ihm lebten - und die Alifwin. Der Name des Waldes war
überwältigend. Es war der größte Name, den
Keil jemals gehört hatte.
Eigentlich hatte er ihn überhaupt nicht wissen wollen. Er
hatte doch nichts weiter getan, als unter einem Baum zu sitzen und
auf seiner Flöte zu spielen, nicht einmal eine bestimmte
Melodie, sondern eine, die ihm gerade in dem Moment einfiel. Woher
sollte er auch wissen, was sie bedeutete? Es mußte wohl eine
ziemlich mächtige Melodie sein. Und so verriet der Wald ihm
seinen Namen.
Zuerst glaubte Keil, daß es nur der Baum war, unter dem er
saß. Aber er kannte sich ein wenig mit den Namen von
Bäumen aus. Kein Baum, egal wie alt und mächtig, konnte
einen so gewaltigen Namen haben. Es war ein Name für einen
Wald.
Keil versuchte, nicht daran zu denken. Er wollte keine Macht
über den Wald. Ein Wald war eine Spur zu groß, um ihn zu
beherrschen. Aber einen Namen, den er einmal kannte, konnte Keil
nie wieder vergessen, ebensowenig wie die Melodie, die ihn seinem
Besitzer entlockt hatte. Er mußte in Zukunft besser
aufpassen, was neue Lieder anging. Das war nichts für
jemanden, der so jung war wie er. Namen von Wäldern sollte man
den Alten überlassen - wenn überhaupt. Sicher kannten die
Alten des Waldvolkes den Namen. Ihre Barden waren so gut wie die
des Flußvolkes, und Keil hoffte, noch einiges von ihnen zu
lernen. Es war zu lange her, daß er zuletzt seinen alten
Meister gesehen hatte. Aber obwohl Keil so jung war, hatte ihm
Drachenfliege schon lange nichts Neues mehr beibringen können.
Doch Keil hatte das Gefühl, daß es noch so vieles gab,
das er nicht wußte. Er mußte unbedingt jemanden finden,
der ihn noch mehr lehrte. Vielleicht konnte er dann eines Tages
Barde beider Stämme werden, wenn sein Volk endlich in
Sicherheit war und in Frieden in den Wäldern lebte.
Eigentlich war es gar nicht so schlimm, den Namen des Waldes zu
kennen. Es gab Keil das Gefühl, selbst ein Teil des Waldes zu
sein, obwohl er doch nur ein Fremder war. Schließlich
würde er den Rest seines Lebens hier verbringen. Da war es
sicher das Beste, den Wald vorher kennenzulernen. Und man konnte
mit einem Namen viel mehr anfangen, als Macht über ein Wesen
zu gewinnen, obwohl das natürlich verlockend war. Aber da Keil
nicht wußte, was er dem Wald hätte befehlen sollen,
gebrauchte er sein Wissen nur, um zu versuchen, ihn zu verstehen.
Und das allein war schon mehr, als er jemals zu träumen gewagt
hatte, als er noch ein kleiner Junge war und zum ersten Mal lernte,
was man mit der Magie der Namen alles machen konnte, wenn man die
richtigen Melodien kannte.
Der Wald war älter als alles, was Keil jemals getroffen
hatte, und gleichzeitig war er so jung, als würde er mit jedem
Tag neu geboren. Die ältesten Bäume mochten vielleicht
ein paar tausend Jahre alt sein, aber der Wald selbst schien so alt
wie die Zeit. Er war schon gewesen, als es noch die Hohen gab, und
sogar davor. Und immer hatte er kleinen Geschöpfen Schutz
geboten, die von größeren Geschöpfen gejagt
wurden.
Kleines Geschöpf, dachte der Wald, und damit hatte er
sicher Recht. Die Alifwin mochten vielleicht, neben den Elben, das
mächtigste Volk auf der Welt gewesen sein, bevor die Menschen
kamen, aber für den Wald waren sie nichts weiter als harmlose
kleine Geschöpfe. Geh spielen, kleines Geschöpf.
Spiel, solange du kannst.
Keil spürte, daß der Wald ihn mochte, oder zumindest
seine Musik. Deswegen verbrachte er nun, solange es niemanden gab,
der ihm etwas beibrachte, seine Tage in einem ruhigen Winkel und
spielte auf seiner Flöte für den Wald. Der Wald war ein
guter Zuhörer.
Ob er wußte, daß
dies ihr Baum war, gepflanzt von ihren Eltern, als sie geboren
wurde, so wie es Sitte war im Waldvolk? Jeder hatte einen Baum,
für den er verantwortlich war und den er beschützte. Es
war ein Teil der Jahrtausende alten Bindung zwischen den Alifwin
und dem Wald. Der Wald gab den Alifwin alles, was sie brauchten,
und sie hüteten ihn vor Gefahr. So war es immer gewesen. Aber
es konnte nicht mehr so bleiben. Mit den Jahren war Schwinges Buche
groß und schön geworden. Und ihre Eltern waren tot.
Vermutlich wußte er es nicht. Er lehnte unten am Stamm und
war so sehr in sein Spiel vertieft, daß er sie gar nicht zu
bemerken schien. Schwinge fragte sich, ob Keil der Erste Barde
seines Stammes war. Natürlich war er noch sehr jung, aber sie
hatte lange niemanden mehr so schön spielen hören. Die
Flöte wirkte wie ein Teil von ihm; sie schien direkt aus
seinen Lippen zu wachsen. Oder war er ein Teil der Flöte? Die
Melodie, die er spielte, klang fremdartig. Sie war traurig, aber
nicht schwermütig. Die Töne waren so leicht, daß
sie noch in der Luft hingen, während ihnen schon die
nächsten gefolgt waren. Fast glaubte Schwinge, die Musik sehen
zu können.
»Du spielst schön, Keil«, sagte sie.
Er ließ die Flöte sinken und sah auf.
»Danke.« Seine Augen waren blau, wie es bei seinem Volk
häufig vorkam. Ihr Volk hatte grüne Augen und blonde oder
braune Haare. Keils Haare waren fast weiß, mit einigen
silbergrauen Strähnen. ‘Frostfarben’ nannte er es.
Bei seinem Volk, das in den Flußauen beheimatet war, schien
das normal zu sein.
Vor einigen Monaten, als es Winter wurde, war er mit einigen
Jägern in den Wäldern angekommen. Sie hatten ihren Stamm
verlassen, um einen neuen Platz zu finden, an dem das
Flußvolk leben konnte.
»Ich mag euren Wald«, sagte Keil. »Bei uns gibt
es nicht so viele Bäume. Ihr müßt sehr
glücklich sein.«
Schwinge schüttelte heftig den Kopf. »Sie versuchen,
den Wald zu zerstören«, erwiderte sie. »Sie haben
meine Eltern getötet. Sie töten alles.«
»Ich weiß«, sagt Keil leise. Dann schwieg er
für eine Weile und drehte die Flöte in den Händen.
Zögernd, als fürchte er, Schwinge mit seinen Worten zu
verletzen, fügte er schließlich hinzu: »Es
wäre schön, wenn unser Volk in eurem Wald leben
könnte. Die Wälder sind noch immer am sichersten. Hier
können wir uns vor den Menschen schützen.«
»Menschen?« Sie mochte das fremde Wort nicht, und es
auszusprechen, kostete sie Überwindung. Es war
häßlich: hart und schwer.
»So nennen sie sich. Sie haben keinen anderen Namen, also
verwenden auch wir dieses Wort. Wußtest du das
nicht?«
»Selbst wenn, würde ich doch niemals einen Feind so
nennen wie er sich selbst. Wie auch immer sie heißen
mögen, ich nenne sie Eindringlinge oder Fremde. Oder einfach
nur Feind.« Sie trat wütend in das feuchte Laub, so
daß die Blätter in die Luft stoben. »Ihr nennt sie
bei ihrem eigenen Namen. Ihr flieht vor ihnen und laßt ihnen
euer Land, statt gegen sie zu kämpfen. Jetzt wollt ihr euch in
den Wäldern vor ihnen verstecken. Weißt du, was ihr
seid? Ihr seid feige, du und dein ganzer Stamm!«
»Es ist nicht feige, das Überleben seines Volkes zu
sichern.« In Keils Stimme lag keine Leidenschaft, sie klang
so leise und sanft wie seine Flöte. »Wenn wir gegen sie
kämpften, würden viele von uns getötet. Hier im Wald
sind wir sicher. Die Menschen sind noch nie in das Innere der
Wälder vorgedrungen. Wenn die Alifwin zurückziehen, dann
können sie so weiterleben wie bisher. Die Alten sind der
gleichen Meinung. Es wäre falsch, zu kämpfen. Die
Menschen sind zu starke Gegner. Alles was wir wollen ist, in
Frieden zu leben.«
»Es ist kein Frieden, wenn man im Versteck leben muß!
Kein Frieden ist es wert, daß man für ihn seine Freiheit
verliert! Wenn die Pläne der Alten umgesetzt werden, kann
keiner von jemals wieder den Wald verlassen.«
Keil antwortete nicht. Er lehnte sich zurück, schloß
die Augen und nahm seine Melodie wieder auf. Schwinge sah ihn
geringschätzig an, dann schulterte sie ihren Bogen und setzte
ihren Weg durch den Wald fort. Sie wußte, daß Keil und
die Alten Unrecht hatten. Die Alifwin waren die Kinder der Hohen,
welche einst die Welt beherrscht hatten. Sie sollten sich nicht
verstecken, sondern um ihre Freiheit kämpfen. Aber es war
alles beschlossen. Bald würden Keil und die Jäger
zurückreisen, um das Flußvolk in die Wälder zu
führen. Dann würden die Alifwin zwar vereint sein, aber
nie wieder frei.
Die Alifwin hatten Magie, und ihre Waffen waren stark. Warum
konnte man damit nichts gegen den Feind ausrichten? Es mußte
doch eine Möglichkeit geben!
Wütend schoß Schwinge einen Pfeil in die Luft:
Erzittere, Feind! Vielleicht würde er einen von ihnen
durchbohren, wo immer er landen mochte. Aber es reichte schon, wenn
sie ihn fanden und wußten, daß sie sich in Acht nehmen
mußten vor dem Zorn der Alifwin.
Schwinge brach die Jagd ab und machte sich auf den Heimweg. Ein
zorniger Jäger war ein schlechter Jäger, hieß es.
Und sie wollte keine weiteren Pfeile verschwenden. Als sie ins Dorf
kam, sah sie, daß die Alten wieder eine Versammlung
abhielten. Früher war das etwas Seltenes gewesen, aber seit
die Leute vom Flußvolk gekommen waren, gab es immer wieder
Beratungen. Zum Glück waren unter den Alten immer noch einige,
die nicht einverstanden waren mit den Plänen der anderen.
Schwinge hockte sich in einiger Entfernung hin und versuchte, der
Diskussion zu folgen. Es war nicht weiter schwer, die
Zusammenhänge zu verstehen. Natürlich sprach man wieder
über das übliche Thema.
»Die Menschen werden nicht plötzlich glauben, daß
die Alifwin aus der Welt verschwunden sind! Sie werden uns suchen,
und dann sind auch die Wälder nicht mehr sicher genug. Wenn
sich euer Volk bei unserem versteckt, werden nur die Menschen in
die Wälder gelockt«, sagte ein alter Jäger.
Schwinge wußte, daß er Recht hatte, aber es erschreckte
sie zu hören, daß selbst er die Feinde jetzt schon als
Menschen bezeichnete.
»Also sollen wir unser Volk opfern, nur damit sie nicht auf
die Idee kommen, daß es noch an anderen Orten Alifwin gibt,
die sie töten können? Unser Volk für eures?«
Das war einer der Jäger vom Fluß.
»Was soll das heißen, unser Volk und
euer Volk? Wir sind ein Volk, und die Menschen
können uns nur dann vernichten, wenn wir unsere Einigkeit
verlieren! Wir sind Alifwin, und es muß einen Ort geben, an
dem wir alle in Frieden leben können.«
Schon wieder sprachen sie vom Frieden. Merkte denn keiner, auf was
das hinauslief? Würde es entweder einen Krieg unter den
Alifwin geben oder verstecktes Leben ohne Freiheit bis zum Ende
aller Tage? Warum dachte niemand mehr daran, als ein Volk gemeinsam
die Feinde zu schlagen? Was war aus den Jägern geworden? Ein
Barde wie der junge Keil mochte sich vielleicht Frieden
wünschen, aber niemand brachte Barden bei, wie man
kämpfte. Die Jäger waren in alten Zeiten Krieger gewesen;
sie hatten über die Zwerge gesiegt. Sie würden auch ein
weiteres Mal siegen.
Aber auch Schwinges Eltern waren Jäger gewesen, sie hatten
gewußt, wie man kämpft, und doch waren sie brutal
niedergemetzelt worden. Man hatte sie am Rand des Waldes gefunden,
durchbohrt von eisernen Schwertern. Damals war Schwinge selbst nur
ein kleines Mädchen, doch sie hatte geschworen, eines Tages
ihre Eltern zu rächen. Niemals würde es den Menschen
gelingen, endgültig die Herrschaft über die Welt zu
erlangen! Selbst, wenn sie alleine ausziehen mußte, um die
Feinde zu schlagen.
Schwinge ertrug es nicht mehr, diesen Feiglingen zuhören zu
müssen. Sie erhob sich und trat an den Kreis. »Ich
möchte bitte reden«, sagte sie beherrscht. In ihr kochte
die Wut, aber sie hatte schon lange gelernt, ihre Gefühle zu
verbergen.
»Sprich, Jägerin«, antwortete Hirsch, der
Älteste. Er war selbst einmal ein Jäger gewesen, aber er
war schon weit über tausend Jahre alt. Schwinge konnte sich
nicht erinnern, daß er jemals gejagt hatte, seitdem ihre
Kindheit vorbei war.
»Ich habe mir angehört, was ihr gesagt habt. Ihr denkt
vielleicht wie weise alte Leute, aber nicht mehr wie Jäger,
keiner von euch. Vor allem die nicht, die einmal Jäger
waren.« Sie durfte nicht vergessen, daß es mehr Alifwin
gab als nur die Jäger. Niemand erwartete von den Bauern oder
Handwerkern, daß sie wie Krieger dachten. »Was ist aus
dem Volk geworden, daß wir einmal waren? Ob wir mit oder ohne
Flußvolk hier leben, die Feinde werden eines Tages in unsere
Wälder eindringen, wenn sie sich noch weiter ausbreiten. Wir
sind hier nicht sicher! Was würden die Hohen sagen, wenn sie
sehen müßten, wie ihre mächtigsten und
klügsten Kinder anfingen, sich zu verstecken wie die Feen in
ihrem Wald?«
»Setz dich, Schwinge«, sagte die älteste Bardin,
Merle. Ihre Stimme klang leise und müde. Wahrscheinlich
würde sie bald aufhören zu leben. Dann mußte sie
nicht mehr dabei sein, wenn die Alifwin untergingen. »Du bist
noch jung, aber dies ist etwas, über das auch die Jungen
entscheiden müssen. Deine Worte waren vielleicht etwas
unüberlegt, aber deutlich. Und auf eine gewisse Weise hast du
Recht. Die Hohen hätten nicht gewollt, daß sich ihre
Kinder schutzlos verstecken. Darum haben sie den Feen ihren Wald
gegeben oder den Elben ihre Festen. Aber die Hohen sind nicht mehr
da, um uns zu beschützen. Und wir haben nicht die Macht, gegen
die Menschen zu kämpfen. Sie sind nicht von dieser Welt. Wir
können sie nicht besiegen, auch wenn das in deinen jungen
Augen feige erscheinen mag. Dennoch werden wir über das
nachdenken, was du gesagt hast.«
Es war ein Fehler gewesen, zu der Versammlung zu sprechen.
Schwinge hatte nur die Wahrheit gesagt, aber zum Dank wurde sie
zurechtgewiesen wie ein Kind. Jetzt wäre sie am liebsten
aufgestanden und weggegangen, um erst einmal niemanden sehen zu
müssen. Aber nachdem man sie einmal aufgefordert hatte, sich
zu setzen, wäre das eine Beleidigung. Nun mußte Schwinge
bleiben bis zum Ende, aber niemand würde erwarten, daß
sie noch einmal etwas sagte. Sie mußte die Entscheidung
über ihre Zukunft denen überlassen, die vielleicht gar
nicht mehr betroffen davon waren. Doch Schwinge schuldete ihren
Eltern etwas. Sie würde nicht dabeisitzen und schweigen. Alle
Augen richteten sich auf sie, als sie aufstand und das Wort
ergriff.
»Wenn die Alifwin die Lieblingskinder der Hohen waren, warum
haben wir dann nichts von ihnen bekommen? Wenn die Feen ihren Wald
haben und die Elben ihre Festen, wie du gesagt hast, was ist dann
mit den Alifwin? Wie konnten die Hohen sie einfach schutzlos
zurücklassen, als sie gegangen sind? Ich sage, sie haben uns
nicht schutzlos zurückgelassen! Sie haben uns vielmehr die
Macht gegeben, uns selbst zu retten, indem wir unsere Feinde
besiegen. Wir müssen es nur versuchen.«
Sie spürte die Blicke der anderen in ihrem Rücken, als
sie sich umdrehte und ging.
Erst, als die Sonne unterging, kehrte sie ins Dorf zurück. Es
hatte geholfen, alleine durch den Wald zu laufen, aber nicht viel.
Noch immer spürte sie einen Zorn in sich, der allein für
drei gereicht hätte, und sie hatte nicht das Gefühl, als
ob er jemals erlöschen könne. Zu allem
Überfluß saß Keil immer noch am Fuße ihres
Baumes und spielte auf seiner Flöte. Vermutlich hatte er den
ganzen Tag lang nichts anderes getan. Zunächst schien er so
sehr in seine Musik vertieft, daß er nichts anderes wahrnahm,
aber als sie sich ihm näherte, blickte er auf. »Man hat
nach dir gesucht.«
»Ich weiß.«
»Sie sind wütend auf dich.«
»Ich weiß.« Am liebsten hätte sie
ihn angeschrien. Vielleicht war er ein guter Barde, aber nicht
unbedingt klug. Nein, er war nicht direkt dumm, aber so naiv,
daß es schon fast weh tat. Warum konnte er sie nicht einfach
in Ruhe lassen?
»Warum ziehst du nicht einfach los und bekämpfst die
Menschen?« fragte er, ohne daß sein Lächeln
verlosch. »Du sagst, du möchtest nicht auf alle Zeiten
in diesem Wald bleiben müssen. Hast du ihn überhaupt
schon einmal verlassen, als du es noch gekonnt hast?«
»Es gibt genug Wild im Wald. Ich bin schon am Waldrand
gewesen.« Der Wald alles, was man sich an Welt wünschen
konnte.
»Hast du jemals einen Fluß gesehen? Ich meine nicht
euren Bach. Ich meine einen richtigen, strömenden Fluß.
Bist du schon einmal in den Bergen gewesen? Hast du überhaupt
schon einmal einen Menschen getroffen? Du solltest nicht sagen,
daß du etwas verlierst, wenn du es nie besessen hast. Ihr
verliert eure Heimat nicht. Wir verlieren unsere, und du mußt
nicht glauben, daß es uns nicht leid darum tut. Aber wir
wissen, warum wir es tun müssen.«
Doch Schwinge war nicht nach einer Diskussion zumute. Sie wandte
sich ab und ging ins Dorf. Es reichte, daß sie den Zorn der
Ältesten erregt hatte. Da konnte sie auf das Geschwätz
eines naseweisen Barden verzichten. Keil blickte ihr einen Moment
lang schweigend nach, dann setzte er die Flöte an die Lippen
und griff seine Melodie wieder auf.
Es kam etwas unerwartet
für Keil, als er zwei Tage später zur Versammlung der
Ältesten gerufen wurde. Sie hatten sich eigentlich nicht um
ihn gekümmert, seit er im Herbst angekommen war. Aber
vielleicht war ihnen nun aufgefallen, daß er keine andere
Beschäftigung hatte, als im Wald zu flöten, und sie
würden ihn mit einer ihrer nach Ansicht sinnvolleren Aufgabe
betrauen. Er war alt genug, um die Pflichten eines Erwachsenen zu
erfüllen. Wenn er Glück hatte, konnten ihm die Barden des
Waldvolkes etwas Neues beibringen. Aber wenn sie schon genug Barden
hatten, dann konnte er ebenso gut auf die Felder geschickt
werden.
Nervös drehte Keil seine Flöte in den Händen, als
er im Kreis der Alten stand und ihre Blicke auf sich spürte.
Immerhin schienen sie ihm freundlich gesonnen zu sein.
»Warum habt ihr mich gerufen?« fragte er zaghaft.
»Du zeigst ein außerordentliches Talent«, sagte
der Älteste.
Keil verneigte sich dankbar. Das klang nicht nach Feldarbeit.
»Aber ich habe noch nicht einmal ausgelernt.«
Vielleicht verstanden sie den Wink.
»Wir wissen, daß du über Fähigkeiten
verfügst, die über unsere weit hinausgehen«, sagte
Merle, die alte Bardin. »Ich denke nicht, daß ich dich
noch etwas lehren könnte. Es ist nicht nötig, junger
Keil, verstehst du? Du hast die Melodien bereits in dir, und nur
die Hohen wissen, wie es dazu kommt. Wenn es an der Zeit ist, wirst
du spielen können, was immer du willst. Du mußt nichts
mehr lernen.«
»Aber ich möchte es gerne. Ich habe nicht das
Gefühl, daß ich schon alles weiß!« rief
Keil.
»Du kennst den Namen des Waldes«, sagte Merle. Das war
eine Feststellung.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe dein Spiel gehört in den letzten Wochen. Ich
kenne die Lieder, mußt du wissen. Aber ich bin die einzige.
Niemand außer mir könnte sie dir beigebracht haben. Und
doch kennst du sie. Es gehört viel Kunst dazu, einem Wald
seinen Namen zu entlocken.«
»Aber ich wollte es gar nicht! Es ist einfach so passiert.
Ich habe die Melodie gespielt, ohne zu wissen, was sie bedeutete.
Vielleicht habe ich sie wirklich in mir, aber dann ist es um so
wichtiger, daß ich lerne, damit ich sie nicht zur falschen
Zeit spiele.«
»Du wirst sie nicht zur falschen Zeit spielen. Die Melodien
kommen heraus, wenn es die richtige Zeit für sie ist. Du
darfst keine Angst vor ihnen haben. Ich könnte dir vielleicht
beibringen, mit ihnen umzugehen, aber dazu reicht die Zeit
nicht.«
Weshalb reichte die Zeit nicht? Wußte die alte Frau,
daß sie sterben würde? Erwarteten sie etwa von ihm,
daß er ihren Platz übernahm? Es mußte irgendeinen
Grund geben, daß sie seine Fähigkeiten so lobten. Aber
er hatte nicht daß Gefühl, wirklich so gut zu sein. Und
er war noch viel zu jung!
»Wir haben eine Aufgabe für dich«, sagte Hirsch.
»Wir wissen, daß du noch ausgesprochen jung bist, aber
sie erfordert einen ausgezeichneten Barden, der gleichzeitig noch
über die Kraft der Jugend verfügt. Außer dir gibt
es niemanden, der geeignet ist.«
»Was soll ich tun?« fragte Keil.
»Erst einmal sollst du dich setzen, junger Barde.«
Merle rutschte ein Stück zur Seite, und Keil nahm neben ihr
Platz. »Ist die Jägerin Schwinge hier?« fragte sie
dann.
Schwinge trat vor. »Das bin ich. Ihr habt mir befohlen, zu
kommen.« Ihre Stimme und Haltung waren ruhig und beherrscht,
aber aus ihren Augen sprach noch immer der Zorn.
»Was wir dir zu sagen haben, dürfte ganz in deinem
Sinne sein«, sagte Eichel. »Aber nimm zuerst Platz.
Hör zu.«
»Als es die Hohen noch gab«, begann Merle,
»waren sie die Herrscher über die Welt. Niemand
weiß, warum sie gegangen sind. Aber sie haben es freiwillig
getan. Es war niemand da, der sie vertrieben hätte, und
niemand hat ihnen ihre Macht genommen. Sie verschwanden einfach und
vermachten die Welt den Feen, den Elben und den Alifwin. Den Elben
hinterließen sie eine mächtige Festung, Doluadilan, nach
deren Vorbild später weitere erbaut wurden, und den kleinen
Feen einen magischen Wald, in dem sie sicher waren. Nun hast du,
Schwinge, auf der letzten Versammlung etwas sehr Wichtiges gesagt,
das alte Erinnerungen weckte, Erinnerungen an Geschichten, die
schon fast in die Zeit der Legenden zurück reichen. Du
sagtest, die Hohen müßten den Alifwin etwas
Vergleichbares hinterlassen haben. Und das haben sie. Von den
Kindern der Hohen waren es die Alifwin, die ihre Liebe zur Musik
erbten. Sicher, auch die Elben machen eine Art von Musik, aber sie
wissen nicht, welche Magie ihr innewohnt. Über diese
Kräfte verfügen nur die Alifwin. Und darum waren sie es,
denen die Hohen ihre Instrumente hinterließen - nicht
irgendwelche Instrumente, müßt ihr wissen, sondern
Instrumente der Macht. Vielleicht war es den Alifwin bestimmt, mit
ihrer Hilfe über die Welt zu herrschen. Aber die
Geschichtsschreibung aus jenen Tagen ist so dunkel wie das
Geheimnis um das Verschwinden der Hohen. Nichts ist bekannt
darüber, warum die Alifwin ihr Erbe niemals angetreten haben
oder was aus den Instrumenten wurde. Möglicherweise haben die
Hohen sie mitgenommen, als sie gegangen sind. Die Zeit hat einen
Schleier des Vergessens über die Welt gelegt, und alles, was
ich über die Instrumente weiß, sie sind Bruchstücke
eines alten Liedes, das ich einmal gehört habe, als ich ein
junges Mädchen war. Aber ich habe es niemals gesungen, denn
ich weiß zu wenig von den Worten, um eine Melodie daraus zu
machen. Nur an soviel kann ich mich erinnern:
Eine Harfe aus Laub,
eine Trommel aus Stein,
eine Flöte aus Eis,
eine Laute aus Bein.
Und an einer anderen Stelle heißt es:
Auf der Trommel spielt die Zeit,
auf der Laute spielt das Leid,
auf der Harfe spielt das Licht -
auf der Flöte spielt man nicht.
Das ist alles, was ich euch über die Instrumente der Hohen
sagen kann. Es ist nicht viel. Und es scheint immer irgendein
Geheimnis um sie gewesen sein, wenn man sich ansieht, was das Lied
über die Flöte sagt. Selbst, wenn wir die Instrumente
hätten, könnten wir nicht darauf spielen, fürchte
ich. Aber sie sind Artefakte der Hohen, und sie würden uns in
unserem Wald vor den Menschen schützen. Das ist eure Aufgabe,
Keil und Schwinge. Ihr sollt ausziehen und diese Instrumente zu uns
bringen. Es mag unmöglich klingen, aber es ist unsere
größte Hoffnung.«
»Aber diese Instrumente sind der Schlüssel zur
Herrschaft über die Welt!« rief Schwinge. »Wenn
wir sie hätten, bräuchten wir uns nicht in diesem Wald zu
verstecken. Es wäre uns ein Leichtes, all unsere Feinde
für immer zu vernichten - nicht nur die Eindringlinge, sondern
auch die Zwerge und die Trolle.«
»Nein«, sagte Merle ruhig. »Das könnten wir
nicht. Unsere Zeit ist vorbei. Alles, was uns übrig bleibt,
ist, uns in diesem Wald zu verbergen, geschützt von der Macht
der Hohen. Nur so können wir weiterleben, wie wir es seit
Jahrtausenden getan haben. Um uns herum hat sich die Zeit
geändert. Wir können ihr keinen Einhalt gebieten. Und die
Menschen haben ebenso einen Platz in ihr gefunden wie unsere alten
Feinde, die Unterirdischen. Wir wollen die Macht der Instrumente
nur zu unserem Schutz nützen, nicht, um Geschehenes
ungeschehen zu machen. Niemand darf in den Lauf der Dinge
eingreifen! In den nächsten Tagen werden die Jäger des
Flußstammes wieder losziehen, um den Rest ihres Volkes -
unseres Volkes - in die Wälder zu führen. Und ihr
beide werdet gehen und die Instrumente finden. Wir setzen
große Hoffnung in euch.«
»Aber - warum gerade ich?« fragten Keil und Schwinge
gleichzeitig. Merle seufzte.
»Ich dachte, wir hätten es erklärt. Keil, weil es
die Aufgabe eines Barden ist, magische Instrumente zu finden. Und
Schwinge, weil Keil keine Möglichkeiten hat, sich zu
verteidigen, wenn er angegriffen werden sollte. Er braucht einen
Jäger an seiner Seite, der ihn vor Gefahren schützt und
dafür sorgt, daß ihr etwas zu essen habt. Von Musik
allein kann niemand leben.«
»Aber warum mich?« fragte Schwinge. »Es gibt so
viele gute Jäger.«
»Du gehörst zu den Besten. Und außerdem sind wir
übereingekommen, daß es für uns alle das Beste ist,
wenn du mit ihm gehst. Du hast unmißverständlich klar
gemacht, daß du nicht tatenlos hier bleiben könntest. Es
war dein Vorschlag, loszuziehen und etwas zu unternehmen. Diese
Möglichkeit bieten wir dir.«
Aber der Blick, den Hirsch Schwinge bei diesen Worten zuwarf,
besagte noch ganz andere Sachen: Nämlich, daß sie wegen
ihrer ungezügelten Vorwürfe in Ungnade gefallen war, und
daß die Ältesten auch froh waren, die vorlaute Mahnerin
für einige Zeit los zu sein. Und es würde einige Zeit
dauern, diesen hoffnungslosen Auftrag auszuführen. Wenn man
seit Tausenden von Jahren nichts mehr von den Instrumenten
gehört hatte, warum sollten dann gerade Schwinge und er sie
alle finden?
»Es gibt noch einen Grund, aus dem ihr die Instrumente
finden müßt«, sagte der alte Jäger.
»Wenn sie - und sei es durch Zufall - unseren Feinden in die
Hände fielen, wären nicht nur wir verloren, sondern auch
alle anderen Hohen Völker. Darum müßt ihr nach
Möglichkeit alle vier finden. Findet sie, bevor es zu
spät ist.«
»Aber wo sollen wir mit unserer Suche anfangen?«
fragte Keil. Er hätte noch viele andere Fragen gehabt, aber
diese erschien ihm im Moment am wichtigsten erschien. »Wir
haben keine Anhaltspunkte außer diesem Lied. Gibt es sonst
wirklich nichts, was uns Aufschluß geben könnte
darüber, wo die Instrumente sind? Es würde sehr lange
dauern, die ganze Welt auf der Suche nach ihnen zu
durchkämmen.«
Merle lachte. »Wir wissen in der Tat nicht mehr, als das,
was wir euch gesagt haben, junger Barde. Aber es gibt andere, die
euch vermutlich weiterhelfen können. Zu ihnen solltet ihr als
ersten reisen. Sie sind die einzigen, die sich noch an die Zeit der
Hohen erinnern können.«
»Von wem sprichst du?« fragte Schwinge verwirrt und
wohl auch etwas verärgert, weil sie eine direkte Antwort
erhofft hatte.
Aber Keil hatte schon verstanden. »Du meinst die
Zauberer«, sagte er. Die Alte nickte.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach dem ruhigen Winter
wieder aufzubrechen. Erst hatte Keil sein ganzes Leben an ein und
demselben Fluß zugebracht, und dann war er innerhalb von
weniger als einem Jahr um die halbe Welt gereist. Jetzt würde
er die andere Hälfte sehen.
Aber es war etwas anderes, ob er mit sechs älteren und
erfahreneren Jägern unterwegs war oder mit einer einzigen, die
noch niemals ihren Wald verlassen hatte. Aber die Alten hatten sich
schon irgend etwas dabei gedacht.
Trotzdem - zu erwarten, daß sie Erfolg haben würden
… Es gab keinen Anhaltspunkt, nichts, keinen Hinweis auf den
Verbleib der Instrumente. Und man konnte zwar leicht sagen
‘Fragt die Zauberer um Rat’. Natürlich
mußten die Zauberer Bescheid wissen. Aber es gab nur so
wenige! Einen von ihnen aufzutreiben, der bereit war, zu helfen,
würde schwierig genug sein.
»Eure Suche wird nicht so schwer sein, wie sie im Moment
aussieht«, sagte Merle, als er ihr seine Besorgnis mitteilte.
»Vor weniger als dreihundert Jahren noch hat einmal ein
Zauberer unseren Wald aufgesucht. Er war den Alifwin wohlgesonnen,
und was vielleicht noch wichtiger ist, er interessierte sich
für das Verschwinden der Hohen und könnte einiges
darüber wissen. Damals lebte er zusammen mit seinem Bruder in
der Nähe einer Menschensiedlung, nordwestlich von hier. Es ist
anzunehmen, daß sie noch immer dort wohnen, denn alle
Zauberer sehnen sich nach Beständigkeit und Ruhe für ihre
Forschungen. Es ist nicht ihre Art, rastlos umherzuziehen, ohne
einen festen Ort zu haben, an den sie zurückkehren
können.«
»Aber warum gerade bei einem Menschendorf?« fragte
Keil.
»Das kann ich dir nicht genau sagen, mein Kind«,
antwortete die Bardin. »Ich glaube, sein Bruder stellte
Forschungen über die Menschen an, und man kann sie am besten
beobachten, wenn man in ihrer Nähe ist. Aber es gibt noch eine
andere Möglichkeit: Zauberer haben gerne alles unter
Kontrolle, sogar die Menschen. Damals hatten die sich noch nicht so
sehr ausgebreitet wie heute und lebten in erster Linie in der
Küstengegend. Niemand konnte ahnen, wie sie sich entwickeln
würden.« Merle seufzte. »Aber daran ist jetzt auch
nichts mehr zu ändern. Findet die Instrumente, das ist das
Wichtigste. Ich werde euch eine Karte zeichnen, mit der ihr diesen
Zauberer finden könnt. Wenn er nicht mehr dort ist, hat er
vielleicht eine Spur hinterlassen, die zu ihm oder einem anderen
Zauberer führt. Sein Name ist Galfas. Bestimmt ist er bereit,
euch zu helfen.«
»Und wenn wir ihn nicht finden?« fragte Keil.
»Dann seid ihr auf euch selbst gestellt. Vielleicht
könnten die Elben euch weiterhelfen. Möglicherweise auch
die Feen, obwohl ich das nicht glaube. Aber du darfst die Hoffnung
niemals aufgeben, Keil. Und -«, die Alte machte eine Pause,
bevor sie fortfuhr: »Was auch immer geschieht, habe
Selbstvertrauen, Keil. Du hast eine Magie, die stärker ist als
meine oder irgendeine andere, von der ich gehört habe.
Vergiß das nicht. Darf ich bitte dein Instrument
sehen?«
Keil gab seine Flöte nur selten aus der Hand; seit er sie
geschnitzt hatte, trug er sie immer bei sich. Noch nie hatte jemand
anderes darauf gespielt, bis zu diesem Moment. Merle spielte eine
kleine Melodie, die Keil noch nie zuvor gehört hatte.
»Eine sehr schöne Flöte«, sagte Merle dann.
»Und du hast sie mit Liebe gemacht, das spüre ich.
Besitzt du noch andere Instrumente? Es ist ungewöhnlich,
daß ein Barde immer nur die Flöte spielt. Zu einer Harfe
könntest du auch singen.«
»Meine Mutter besitzt eine Harfe, auf der ich früher
manchmal gespielt habe. Es ist ein feines Instrument, aber
…«, Keil wußte nicht recht, wie er es
erklären sollte, »die Flöte ist das, was ich
wirklich fühle. Ich kann mich mit ihr am besten
ausdrücken. Und sie ist viel leichter mitzunehmen«,
fügte er schnell hinzu.
»Das verstehe ich«, meinte Merle und nickte.
»Ich möchte dir ein Geschenk machen, Keil.« Sie
reichte ihm einen Beutel aus weichem blauen Stoff, der neben ihr
lag. »Schau hinein.«
Der Beutel enthielt zwei Flöten, wie sie unterschiedlicher
kaum sein konnten. Die kleinere von beiden, gerade einmal so lang
wie Keils Hand, war aus einem Knochen geschnitzt, jedoch so
kunstvoll, daß nur noch das Material den Ursprung verriet:
Die Form selbst war so glatt und gerade, daß Keil
unmöglich sagen konnte, welches Tier diesen Knochen einmal
irgendwo getragen hatte. Die andere Flöte war ein Stück
länger, aber dünner, und ganz aus Silber. Um die
Löcher war sie mit wunderschönen Ornamenten verziert.
Keil hatte noch nie etwas Derartiges gesehen und konnte nicht
anders, als ein paar Töne auf ihr zu spielen. Der Klang war
hoch und süß, wie das Singen eines Vogels. Merle sah ihm
zu und lächelte.
»Die Elben haben sie gemacht, nicht wahr?« fragte
Keil. »Nur sie können derartig gut mit Silber
umgehen.« Alle Silberarbeiten, die er kannte, waren elbischen
Ursprungs. Die Alifwin waren keine guten Schmiede. Sie arbeiteten
lieber mit gewachsenem Material, in dem noch eine Erinnerung an das
frühere Leben steckte - so wie in der Knochenflöte.
»Vor langer, langer Zeit. Ich habe sie bekommen, als ich so
alt war wie du, aber ich gebe sie dir gerne. Mein persönliches
Instrument war immer die Harfe. Die andere Flöte hat einmal
einem Jäger gehört, der im Kampf mit einem wilden
Bären tödlich verwundet wurde. Ich hatte sie für ihn
gemacht, und darum wollte er, daß ich sie zurückbekomme.
Zunächst hatte ich überlegt, sie Schwinge zu geben. Aber
es ist besser, wenn du beide Flöten bekommst.«
»Das ist sehr lieb von dir«, sagte Keil, »und es
sind wunderschöne Instrumente, aber ich bin sehr
glücklich mit meiner Flöte. Ich brauche keine
anderen.«
»Ich habe gewußt, daß du das sagen würdest.
Aber du solltest alle drei Flöten spielen. Die Melodien
bekommen unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, auf was für
einem Instrument du sie spielst. Jede Flöte hat eine andere
Seele. Und auf einer Flöte aus Silber wirst du andere Lieder
spielen können als auf eine Flöte aus Holz oder Knochen,
und umkehrt. Es ist ein Teil deiner Magie. Darum nimm sie. Auch
wenn deine Holzflöte sehr schön ist - du mußt
lernen, auch auf fremden Instrumenten zu spielen.«
Keil verstand, was sie meinte. Es ging nicht darum, daß die
Elbenflöte das Wundervollste war, worauf er jemals gespielt
hatte, und daß er fast das Gefühl hatte, als habe sie
nur auf ihn gewartet. Dies gehörte zu dem, was jeder Barde
lernen mußte und was Drachenfliege ihm noch nicht beigebracht
hatte. Merle hatte sich also entschlossen, in der kurzen Zeit, die
ihm bis zum Aufbruch noch blieb, seine Wissenslücken zu
schließen.
Am Tag ihres Aufbruchs regnete
es, was nicht gerade dazu beitrug, Schwinges Stimmung zu heben. Sie
wußte nur zu gut, warum man sie auf diese Reise schickte - es
war fast eine Verbannung. Ihre allzu freimütigen
Äußerungen hatten nicht ausgereicht, um sie offiziell
aus der Gemeinschaft auszuschließen, aber praktisch tat man
genau das. Niemand gab sich Mühe, es zu verbergen. Sie war
nichts weiter als die Beigabe, um den auserwählten Barden zu
beschützen. Jeder andere hätte es ebenso gekonnt.
Und doch bedeutete es, daß man ein gewisses Vertrauen in
ihre Fähigkeiten setzte. Alleine oder in Begleitung eines
unfähigen Jägers konnte ein verträumter Barde
innerhalb des ersten Tages von Wölfen gefressen werden. Und
Keil war das Inbild eines verträumten Barden. Er schien als
einziger nicht begriffen zu haben, warum man ihn für diese
Aufgabe ausgewählt hatte. Sein immer wieder gefragtes
»Aber warum gerade ich?« hatte nichts mit einem Fischen
nach Lob zu tun, sondern entsprang ehrlichem Unglauben.
Die Frage war, wie sie auf ihrer Suche miteinander auskommen
würden. Ohne Zweifel würden sie eine lange Zeit fort
sein, und es war wichtig, daß sie eng zusammenarbeiten
konnten. Sie mußten sich gegenseitig die Gemeinschaft
ersetzen. Schwinge hatte noch nie ihren Stamm verlassen, auch wenn
sie auf der Jagd manchmal einige Tage lang alleine unterwegs war.
Sie würde die Gesellschaft von Keil brauchen.
Es gab einige andere Dinge, über die Schwinge sich
ärgerte. Warum mußten sie zum Beispiel große
Mengen an Dörrfleisch in ihrem ansonsten knapp bemessenem
Gepäck herumtragen, wenn sie ihre Nahrung auch erjagen konnte?
Natürlich durfte sich nicht damit rechnen, überall Wild
zu finden, aber es gab auch noch genug genießbare Pflanzen
und Pilze. Doch sie beschwerte sich nicht. Da sie noch niemals den
Wald verlassen hatte, konnte sie nicht mitreden, was das Planen von
Reisen anging. Das überließ sie den erfahrenen
Jägern aus Keils Stamm, die ihre eigene Rückreise
vorbereiteten und zur gleichen Zeit aufbrechen wollten.
Schwinge zog ihren Fellumhang fester zusammen, damit er den Regen
abhielt. Zwar war der lange Winter endlich zu Ende gegangen, und
die hellen Tage des Frühlings brachten wieder Licht, aber
manchmal war es immer noch recht kalt. Dies war ein solcher Tag.
Wenn sie weniger überstürzt aufgebrochen wären,
hätten Schwinge und Keil sicherlich auf einen wärmeren
sonnigen Tag warten können. Aber in der langen Zeit, die ihre
Suche dauern würde, mußte es auch Regen geben.
Vielleicht war es am Besten, wenn sie sich von Anfang an daran
gewöhnten. Und ob sie nun bei ihrem Dorf im Regen jagte oder
in irgendeinem anderen Wald, machte keinen großen
Unterschied.
Ihren Langbogen hatte sie auf dem Rücken befestigt, aber ohne
seine Sehne wirkte er tot, wie ein Skelett. Wenn sie angegriffen
wurden, mußte sie sich mit ihrem Messer oder dem Jagdspeer
begnügen. Schwinge versuchte, nicht daran zu denken, daß
sie das Dorf vielleicht für immer verließ, als sie bei
Sonnenaufgang gemeinsam mit Keil ein letztes Mal vor die
Versammlung trat. Aber nicht nur die Alten waren gekommen, um sie
zu verabschieden und ihnen Glück zu wünschen, sondern der
ganze Stamm.
»Meine Kinder«, sagte Hirsch, »vor euch liegt
eine Reise, länger und beschwerlicher als alle anderen, und
wir können nichts weiter tun, als euch Glück dafür
zu wünschen. Was immer auch geschehen wird: Mögen eure
Herzen immer voll Licht sein, und mögt ihr im richtigen Moment
immer das Richtige tun. Ihr seid zwar nur zu zweit, aber in
Gedanken werden wir die ganze Zeit bei euch sein.«
Nun trat ein Jäger nach dem anderen vor, und jeder von ihnen
überreichte Schwinge einen Pfeil, als Zeichen der
Verbundenheit. Aller Streit, den es zwischen ihr und den
Ältesten gegeben hatte, waren vergeben und vergessen. Schwinge
verneigte sich.
»Ich danke euch«, sagte sie. »Wir werden alles
tun, um die Instrumente der Hohen sicher hierher zu
bringen.«
Und sie würde alles tun, damit der Mord an ihren Eltern
endlich gerächt wurde.
Da standen sie nun: Keil, der vor der Versammlung wie immer etwas
verlegen und verloren wirkte und der den Beutel, in dem seine
Flöte war, fest umklammerte, während ihm die Tasche mit
seinen restlichen Habseligkeiten unentwegt von der Schulter zu
rutschen drohte, und sie selbst, vollkommen ruhig, als ob das, was
auf sie zukam, nicht das größte Abenteuer ihres Lebens
wäre. Sie hatte erwartet, zumindest ein wenig aufgeregt zu
würde, aber nun spürte sie gar nichts, weder Wut, noch
Furcht. Nur die Gewißheit, daß sie für diese
Aufgabe die Richtige war.
Dann endlich brachen sie auf. Eine Weile lang gingen sie
schweigend nebeneinander her und vermieden, sich anzusehen.
Schwinge hielte ihre Augen fest auf den Weg gerichtet, aber ihr
entging nicht, wie Keil den Kopf mal zu dieser, mal zu jener Seite
drehte, um einen Vogel auf einem Ast oder eine Blume zwischen zwei
Steinen besser sehen zu können. Es regnete noch immer, aber
die mächtigen Bäume fingen das meiste ab, so daß es
nicht weiter unangenehm war. Langsam erhob sich hinter den Wolken
die Sonne; es wurde heller und auch ein wenig wärmer. Schwinge
hielt ihren Jagdspeer bereit zum Zustoßen, aber um diese Zeit
war von wilden Tieren nicht viel zu befürchten. Sie
verließen ihre Nester und Höhlen hauptsächlich in
der Abenddämmerung. Trotzdem war sie auf der Hut. Keil summte
leise vor sich hin und war in Gedanken sicherlich weit fort. Zum
Glück schaffte er es, trotzdem auf seinen Weg zu achten. Es
wäre Schwinge sehr unangenehm gewesen, wenn der Barde
über Steine gestolpert oder gegen Bäume gelaufen
wäre.
»Erkläre mir bitte eines, Keil«, sagte sie nach
einer Weile. »Warum nennt man dich so? Es klingt so sonderbar
- irgendwie scheint es überhaupt nicht zu einem Barden zu
passen. Bist du früher etwas anderes gewesen?«
»Nein, ich bin ein Barde, seit ich denken kann - oder
zumindest lerne ich, einer zu sein.« Keil lächelte und
zog seine selbstgeschnitzte Flöte hervor. Dann hielt er sie
Schwinge hin und deutete auf das Mundstück. »Siehst du -
das hier ist ein Keil. Bevor du ihn einsetzt, ist es nur ein
geschnitztes Stück Holz, aber hinterher ist er es, der die
Flöte zum Klingen bringt. Darum nennt man mich so. Zugegeben,
es ist ein ungewöhnlicher Rufname. Aber ich mag ihn. Die
meisten Leute von meinem Stamm heißen nach Dingen, die es am
Fluß gibt - nach Fischen und Pflanzen und Vögeln, so wie
bei euch. Meine Mutter zum Beispiel wird Otter genannt.«
»Was macht deine Mutter jetzt?« fragte Schwinge.
»Ist sie auch eine Bardin?«
»Nein, meine Eltern sind Fischer, auch wenn sie die Musik
sehr lieben. Fast alle bei uns sind Fischer. Es wird ziemlich
schwer für sie werden, denke ich, ohne den Fluß zu
leben.«
Schwinge erzählte ihm vom Tod ihrer Eltern, obwohl er schon
davon wußte. Es tat gut, daß sie jetzt darüber
reden konnte. Früher war das nicht möglich gewesen. Der
Schmerz nagte an ihr, ohne daß sie ihn herauslassen konnte,
und davon war er immer größer geworden. Aber als sie
erwachsen wurde, hatte sie gelernt, wie sie mit ihren Gefühlen
umgehen mußte: Wann es Zeit war, sie zu verbergen, und wann,
ihnen freien Lauf zu lassen. Und wie alle Barden war Keil ein guter
Zuhörer.
»Bei uns werden alle Kinder von der Gemeinschaft
erzogen«, sagte er dann. »Ich weiß
natürlich, wer meine Eltern sind, aber ich hatte immer mehr
Kontakt zu den anderen Barden, vor allem zu Drachenfliege, meinem
Lehrer.«
»Das ist bei uns auch so«, erklärte sie ihm.
»Aber wenn deine Eltern tot sind, ist das etwas anderes. Ich
fühle mich ihnen dadurch stärker verbunden, als ich es
vielleicht täte, wenn sie noch am Leben wären.
Außerdem waren sie auch Jäger, so wie ich.«
Keil nickte. Er schien sie zu verstehen. Jetzt, wo er ihre
Geschichte kannte, würden sie vielleicht auch besser
miteinander auskommen. Und langsam zeigte sich, daß die
Unterschiede zwischen ihren beiden Stämmen doch nicht so
groß waren, wie sie zuerst befürchtet hatte.
Sechs Tage lang wanderten sie
nordwärts, dann, begann der Wald sich zu lichten, ein Zeichen
dafür, daß sie bald seinen Rand erreicht hatten. Sechs
Tage, in denen sich Keil sehr nutzlos vorkam. Schwinge legte abends
Fallen für Kaninchen aus, machte ein Feuer und wollte sich bei
keiner dieser Arbeiten helfen lassen. Alles, was er tun konnte,
war, Lieder zu spielen, mit denen er die Kaninchen anlockte, damit
sie auch wirklich in die Schlingen liefen, und morgens nach
eßbaren Wurzeln zu suchen. Aber die Waldpflanzen waren Keil
oft fremd, und an einem Morgen wurde Schwinge wütend auf ihn,
weil er unterwegs einem Eichelhäher begegnet und ihm ein
Stück weit gefolgt war, statt sich um Nahrung zu
kümmern.
Unterwegs verstanden sie sich meistens recht gut, solange keiner
von ihnen etwas sagte. Aber das war auch gar nicht notwendig. Sie
konnten stundenlang nebeneinander hergehen und schweigen, doch es
war ein gutes Schweigen und hatte nichts Beklemmendes an sich.
Gespräche dagegen liefen meist auf einen Streit hinaus. So
hatten sie ziemlich schnell herausgefunden, welche Themen sie
vermeiden mußten. Leider gehörte dazu auch alles, was in
irgendeiner Weise mit den Hohen und ihren Instrumenten
zusammenhing, von den Menschen ganz zu schweigen. Keil wollte sich
nicht mit Schwinge anlegen, und solange sie nicht selbst damit
anfing, versuchte er, den Frieden zu wahren. Wenn sie miteinander
redeten, dann meist über Dinge, die es unterwegs zu sehen gab
- hübsche Steine, die im Sand glitzerten, oder seltsame Federn
und Blumen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Schwinge
kannte die Namen von fast allem, und er lernte durch sie sehr viel
über die Wälder, all jene Sachen, die ihm der Wald selbst
nicht erklärt hatte. Sicherlich hielt sie ihn für
ungeheuer neugierig, aber wenn es ihr lästig wurde, dann sagte
sie ihm das auch, und so wußte er immer, ob er sie
störte oder nicht.
Nachdem sie aus dem Wald heraus waren, war Vorsicht geboten. Ab
jetzt mußten sie damit rechnen, auf Menschen zu treffen. Die
Karte, die sie von Merle bekommen hatten, zeigte zwar
ungefähr, in welche Richtung sie gehen mußten, nicht
aber, wo sich die menschlichen Siedlungen befanden. Denn auch Merle
hatte den Wald nie verlassen. Galfas, der Zauberer, hatte ihr
damals eine Karte gezeichnet, damit sie später noch einmal
Kontakt zu ihm aufnehmen konnten. Weil aber dieser Plan inzwischen
schon alt und brüchig geworden war, hatte Merle ihn
abgezeichnet, auf ein neues Stück Haut. Inwieweit die
Richtungs- und Entfernungsangaben überhaupt stimmten, konnte
Keil nicht genau sagen.
Jedenfalls mußten sie einen Fluß finden und seinem
Lauf folgen. Das freute Keil. Er war lange nicht mehr an einem
Fluß gewesen und sehnte sich nach dem Geräusch des
hellen Wassers auf den flachen Steinen im Sand des Bettes. Das
Singen des Stromes konnte er immer noch hören, wenn er die
Augen schloß, und manchmal versuchte er, es auf der
Silberflöte zu spielen. Aber obwohl sie immer wieder auf
Bäche und Quellen stießen, und den Läufen von jenen
folgten, die sie in die richtige Richtung zu führen schienen,
führte sie doch keiner von ihnen zu dem Fluß, der auf
der Karte eingezeichnet war, und so sehr Keil auch lauschte, trug
auch der Wind keine Nachricht von einem fernen Strom mit sich. Die
beiden Alifwin begannen unsicher zu werden, ob sie auch wirklich
auf dem richtigen Weg waren, aber sie hielten sich weiter in
Richtung des Sonnenaufgangs, wo das Meer liegen mußte.
Vier Tage, nachdem sie den Wald verlassen hatten, waren sie immer
noch nicht an einen Fluß gelangt. Dafür trafen sie
erstmals auf Niederlassungen der Menschen. Es waren keine
Siedlungen, nur vereinzelte Häuser, die von Feldern umgeben
waren, auf denen die erste Saat zu sprießen begann.
Obwohl es ihr Vorankommen verlangsamte, mieden Schwinge und Keil
die befestigten Wege der Menschen. Es hätte Keil nicht einmal
etwas ausgemacht, nach dem Weg zu fragen, aber Schwinge war
dagegen. Sie war sogar bereit, Umwege in Kauf zu nehmen, nur um
sich von den Menschen fernzuhalten.
»Aber wir können nicht länger einen Bogen um sie
machen«, entgegnete Keil, schon beinahe verärgert.
»Sie sind hier überall. Wenn wir einem von ihnen
ausweichen, treffen wir auf einen anderen.«
Schließlich war es nicht mehr zu vermeiden: Zwischen ihm und
der Jägerin kam es zum Streit. Der Anlaß war ein Mensch,
der nicht weit von ihnen entfernt einen Karren über den
feuchten Sandweg zog. Nur die Hecke, die zwischen Weg und Feldrand
verlief, trennte sie voneinander.
»Ich werde ihn jetzt fragen«, sagte Keil.
»Unsere Karte allein reicht nicht aus. Wir haben noch nicht
einmal den großen Fluß gefunden. Wie sollen wir so
jemals zu den Zauberern gelangen? Vielleicht kann er uns ja
weiterhelfen.«
»Vielleicht wird er uns auch töten«, entgegnete
Schwinge.
»Er sieht harmlos aus. Er schient schon ziemlich alt zu
sein, und er trägt kein Schwert. Wenn er uns wirklich
angreift, können wir uns wehren. Aber wir brauchen
Hilfe!«
»Ich brauche keine Hilfe von unseren Feinden!«,
stieß Schwinge hervor. »Lieber würde ich jahrelang
verloren durch die Wildnis irren, als mir von so einem helfen zu
lassen.«
Keil blickte sie wütend an und merkte, daß mit ihr
nicht zu diskutieren war. Er zuckte die Schultern und
schlüpfte durch die Hecke. Egal, was die Jägerin sagte,
er würde nach dem Weg zum Fluß fragen. Schwinge hielt
ihn zurück. Als wäre er ein unartiges kleines Kind,
ergriff sie den Riemen seines Beutels und hielt ihn daran fest.
»Du bleibst hier«, sagte sie eisig.
»Laß mich los!«
»Ich habe die Aufgabe, dich zu beschützen, auch wenn
mich niemand gewarnt hat, daß es du selbst bist, vor dem ich
dich beschützen muß.«
»Wenn das so ist«, flüsterte Keil, »dann
will ich deinen Schutz nicht.« Da Schwinge den Riemen immer
noch nicht losließ, streifte er die Tasche kurzerhand ab und
trat durch die Hecke. Dornige Zweige zerkratzen ihm das Gesicht,
aber das war ihm egal. Noch nie hatte er solche Wut verspürt.
Jetzt war er auf sich gestellt. Wenn er nach dem Weg gefragt hatte,
würde er nicht zu Schwinge zurückgehen, auch wenn er
keine Waffen hatte und nichts mehr zu essen. Irgendwie würde
er schon zurechtkommen. Er haßte nichts mehr, als mit
jemandem im Streit zu leben. Aber fast genauso schlimm war es,
immer wie ein Kind behandelt zu werden.
Der Mensch war schon ein ganzes Stück entfernt, weil sie
durch das Gerede Zeit verloren hatten. Keil fing an zu laufen, um
ihn einzuholen, als er hinter sich ein Knacken hörte. Er
drehte sich um.
Da stand Schwinge. Aber sie war nicht auf die Wegseite der Hecke
gekommen, um sich wieder mit ihm zu vertragen. Sie hatte den Bogen
von der Schulter genommen und legte gerade einen Pfeil auf die
Sehne, der auf den Rücken des Menschen zielte.
»Nein!« schrie Keil und sprang dazwischen. Schwinge
ließ den Boden sinken, denn um ein Haar hätte sie jetzt
denjenigen erschossen, den sie eigentlich beschützen sollte.
Wütend funkelte sie ihn an. Aber jetzt war auch Keil
außer sich vor Ärger.
»Denkst du denn niemals nach?« fuhr er die
Jägerin an. »Warum willst du ihn töten, wenn er uns
nichts getan hast? Wenn du grundlos Menschen umbringst, werden sie
Jagd auf uns machen! Und wir werden niemals unser Ziel
erreichen!«
Er erwartete, daß sie ihm widersprechen und versuchen
würde, den Menschen, der zum Glück nichts von dem, was
hinter ihm vorging, wahrnahm und gerade mit seinem Karren um eine
Wegbiegung verschwand, doch noch zu töten. Aber das tat sie
nicht. Sie ließ den Bogen fallen, und die Wut in ihrem
Gesicht wich einer großen Bestürzung und
Traurigkeit.
»Verzeih mir«, sagte sie leise. »Ich habe mich
hinreißen lassen.«
Keil ging zu ihr hinüber. Er war immer noch wütend.
»Warum begreifst du nicht, daß wir den Menschen nichts
tun dürfen? Dies ist jetzt ihr Land. Wir sind hier Fremde und
dürfen sie nicht gegen uns aufbringen. Wenn sie uns angreifen,
müssen wir uns wehren. Aber wir dürfen sie nicht
jagen.«
Schwinge hielt den Blick gesenkt und hockte sich hin, wurde eins
mit dem Schatten der Hecke. »Es tut mir leid«,
flüsterte sie. »Ich kann sie nur hassen, aber es
wäre falsch, diesen zu töten; du hast Recht.« Einen
Augenblick schwieg sie, dann fuhr sie fort: »Es war falsch,
mich mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ich bin ihr nicht gewachsen.
Wenn du möchtest, werde ich in die Wälder
zurückgehen und dich nicht mehr weiter behindern. Ich bringe
dich mehr in Gefahr, als ich dir helfe.«
»Das darfst du nicht sagen«, entgegnete Keil sanft. Er
verspürte keinen Ärger mehr, sondern Mitleid, wie sie
dort im Gebüsch kauerte. »Ich brauche dich.«
Natürlich würde es wieder Ärger geben, solange sie
gemeinsam unterwegs waren, das war nicht zu vermeiden. Aber er
würde nicht ohne sie auskommen. Er konnte nicht jagen, und er
brauchte die Gesellschaft von anderen Alifwin. Der Gedanke, allein
in der Welt der Menschen unterwegs zu sein war
unerträglich.
»Ich werde es nie wieder tun«, sagte sie und blickte
nicht ihn, sondern den Bogen in ihren Händen an. »Ich
werde sie weiterhin so sehr hassen und verachten, wie ich nur kann.
Aber ich werde nicht mehr versuchen, einen von ihnen zu töten,
wenn er mir keinen Anlaß dazu gibt.«
»Darauf verlasse ich mich«, sagte Keil. Er setzte sich
neben sie und streckte seine Hand aus, als ein Zeichen des
Friedens. Sie nickte dankbar und berührte kurz seine
Fingerspitzen. Frieden. Die Berührung war nur kurz, aber sie
hatte etwas sehr Tröstendes an sich. Keil nahm seine
Flöte und begann zu spielen, auch wenn sie sich direkt an
einem von Menschen benutzten Weg befanden. Vorbeikommende Leute
hätten vielleicht nicht darauf geachtet oder das Lied für
den Gesang eines Vogels gehalten. Menschen konnten so dumm sein!
Und Schwinge brauchte ein wenig Trost, ein wenig Harmonie, um den
Haß, der immer noch in ihr brannte, zu besänftigen.
»Ich grüße dich, Lichtsänger«, sagte
die Krähe, nachdem sie über die Hecke geflogen und vor
Keils Füßen gelandet war. »Und ich
grüße auch dich, Waldauge.«
Krähen waren ein seltsames Volk, klüger als die meisten
anderen Vögel. Sie schienen die Wahren Namen aller Dinge zu
kennen, aber sie hielten sie geheim, indem sie alles und jeden mit
eigenen Namen belegten. Um mit einer Krähe ins Gespräch
zu kommen, mußte man ihr als erstes einen Namen geben.
»Ich grüße dich, Nachtfeder«, sagte Keil
und ließ die Flöte sinken. »Was verschafft uns die
Ehre deines Besuchs?«
»Ich habe euch beobachtet«, antwortete die Krähe.
»Ich war auf dem Feld, als ich euch kommen sah. Ich kann mich
nicht erinnern, jemals Sonnenleute in dieser Gegend gesehen zu
haben. Es war mir ein Vergnügen, eurem Streit zu folgen. Aber
erst, als du anfingst zu spielen, kam ich zu dem Schluß,
daß es interessant sein könnte, mit euch zu
reden.«
»Ich habe dich auf dem Feld gesehen«, sagte Schwinge.
»Wir hätten dich früher um Hilfe zu bitten sollen.
Aber wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt.«
»Wer sich nicht mit sich selbst beschäftigt«,
entgegnete Nachtfeder, »ist ein Dummkopf. Ich
beschäftige mich immer mit mir selbst. Aber man darf dabei
nicht vergessen, seine Umgebung im Auge zu behalten.«
Krähen waren gute Beobachter, doch es war schwer, eine
zufriedenstellende Auskunft von ihnen zu bekommen. Meistens waren
sie zu sehr von sich selbst eingenommen oder zu stolz, um andere an
ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Wenn man die falschen Worte
gebrauchte, flogen sie weg und ließen den Fragenden verwirrt
zurück. Aber man konnte es trotzdem versuchen.
»Nachtfeder, wir brauchen deine Hilfe!«
»Das weiß ich«, sagte die Krähe. »Und
ihr würdet staunen, wieviel ich noch über euch
weiß. Also wollt ihr von mir den Weg erfahren?«
»Wir wollen von dir den Weg erfahren«, bestätigte
Keil. »Es ist ein Fluß, den wir suchen.«
»Nein, das ist es nicht«, antwortete die Krähe.
»Ihr seid nicht so weit gereist, nur um einen Fluß zu
sehen. Was sucht ihr wirklich?«
»Im Moment sind wir auf dem Weg zu einem Zauberer«,
erklärte Schwinge. »Galfas ist sein Name. Ist er dir
bekannt?«
Nachtfeder legte den Kopf schief. »Mein Volk und das der
Mächtigen sind schon lange befreundet. Sie schätzen uns,
mehr als ihr Sonnenleute es jemals getan habt. Ich könnte euch
zu dem bringen, den ihr sucht. Aber ich wüßte nicht,
warum ich das sollte.«
Keil seufzte und setzte wieder die Flöte an die Lippen. In
seinem Kopf hörte er wieder Drachenflieges Worte. Erfrage
alle Namen, aber niemals den einer Krähe. Sie mögen es
nicht. Sicher wäre es besser, wenn die Krähe ihnen
aus freien Stücken den Weg wies. Aber wenn sie nicht wollte
…
»Das würde ich nicht versuchen, an deiner
Stelle«, sagte Nachtfeder. »Wir sind das Volk, das die
Namen gibt. Ich trage mehr Namen, als du bereit wärst
aufzunehmen. Und doch könntest du nichts damit anfangen. Du
hast mir bereits einen Namen gegeben. Das genügt.«
»Wirst du uns helfen?« fragte Schwinge. »Wir
bitten dich darum.«
»Bitten? Es sieht mir mehr so aus, als ob ihr versuchen
würdet, mich zu erpressen. Aber weil ihr es seid … Ich
werde euch führen, bis mir die Lust dazu vergeht. Das habe ich
noch nie getan, damit ihr es wißt.«
»Wir erkennen die Ehre, die du uns erweist«,
entgegnete Keil.
Nachtfeder nickte wieder. »Das solltet ihr auch. Ich tue es
nur, weil ihr interessante Leute seid. Bleibt weiter so
interessant, und folgt mir.«
Mit diesen Worten schüttelte die Krähe kurz ihre Federn
und stieg dann in die Luft auf. Keil und Schwinge sahen ihr nach,
wie sie jenseits der Hecke am Himmel verschwand.
»Es hätte keinen Sinn gehabt, sie darauf hinzuweisen,
daß wir nicht fliegen können«, sagte Keil und
seufzte. Dann begannen er und Schwinge plötzlich zu
lachen.
Warum war keiner von ihnen
früher darauf gekommen, daß es in dieser Gegend nicht
nur Menschen gab, die ihnen den Weg zeigen konnten?
Schließlich waren nicht alle Tiere mit ihrer Auskunft so
eigensinnig wie die Krähen. Andere konnten ausgesprochen
hilfsbereit sein. Keil rief mit seiner Flöte einige
Vögel, die von dem großen Fluß wußten und
ihnen die Richtung weisen konnten. Danach konnten sie endlich
wieder der Karte folgen, denn sie mußten nur zusammen mit dem
Fluß zum Meer hin reisen und unterwegs nach einem gespaltenen
Felsen Ausschau halten. Sie wanderten nicht direkt am Fluß
entlang, auch wenn der Barde das gerne getan hätte. Aber die
Menschen hatten sich verstärkt am Fluß niedergelassen,
und sie befuhren ihn mit hölzernen Booten. Schwinge fand es
daher trotz allem sicherer, in einigem Abstand zum Wasser zu gehen.
Dann allerdings ließen die Menschenhäuser wieder nach,
denn der Strom floß in breiten Schlingen durch ein feuchtes
Bruchland, das nun, im Frühling, besonders sumpfig war. Hier
waren auch wieder mehr Bäume und Tiere. Schwinge war
zufrieden, daß es ihr all die Zeit über gelungen war,
Begegnungen mit Menschen zu vermeiden, denn sie wußte, beim
nächsten Treffen würde der Drang zu töten wieder
genau so stark sein wie beim letzten Mal.
Ab und zu sahen sie eine Krähe am Himmel kreisen, und beide
waren sicher, daß es Nachtfeder war. Doch obwohl der Vogel
sie von oben herab genau zu beobachten schien, kam er doch nicht
noch einmal herunter, um mit ihnen zu reden.
Keil hatte nicht übertrieben, wenn er von der Schönheit
seines Flusses erzählte. Schwinge hatte ihn sich immer wie
einen großen Bach vorgestellt, aber etwas Derartiges hatte
sie nicht erwartet. An manchen Stellen glitt er sanft und beinahe
lautlos dahin, und anderswo wurde er schneller und so laut,
daß man kaum noch etwas anderes hören konnte. Je
länger sie ihm folgten und je näher sie dem Meer kamen,
desto breiter wurde der Strom, weil immer wieder Bäche in ihn
mündeten. Zum Meer, zum Meer, sang das Wasser, wenn man
genau hinhörte. Jetzt endlich verstand Schwinge, warum Keil
den Fluß so vermißte und was sein Volk aufgab, wenn es
in die Wälder zog. Und wieder wuchs ihr Haß auf die
Menschen ein wenig.
Da sie einen Bogen um alle Siedlungen machten, gerieten Keil und
Schwinge nicht mehr in einen Streit wie den, der sie beinahe
entzweit hatte. Endlich hatte auch der Barde eine sinnvolle
Beschäftigung gefunden, indem er unterwegs Tiere anlockte und
sie nach Galfas fragte. Dort, wo sie jetzt waren, kannten viele den
Zauberer und auch seinen Bruder. Alle Tiere berichteten, wie
hilfsbereit die beiden waren, und selbst wenn die beiden noch nie
etwas von den Instrumenten der Hohen gehört hatten,
würden sie sicherlich bereit sein, ihnen auf eine andere Weise
zu helfen.
Aber als sie endlich den gespaltenen Felsen erreicht hatten und
von dort aus landeinwärts zu dem Heim der Zauberer gelangten,
waren die Alifwin nicht mehr so sicher, was sie von Galfas halten
sollten. Denn das Haus lag nicht nur, wie Merle gesagt hatte, in
direkter Nähe eines Menschendorfes. Es war ein
Menschenhaus.
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