I feel my fate in what I
cannot fear..
Theodore Roethke
An jenem Tag meinte es das
Wetter gut mit ihnen. Noch bis in die Nacht hinein hatte es
geregnet, als ob seit Monaten kein Tropfen mehr gefallen war, und
zum Glück hatten ihnen einige mächtige Bäume
Unterschlupf geboten. Natürlich waren sie trotzdem naß
geworden, aber Morren hatte aus feuchtem Holz ein prasselndes Feuer
entfacht, dem das Wetter nichts anhaben konnte. Und als sie an
diesem Morgen früh erwachten, überzogen die Strahlen der
Morgensonne alles mit einem goldenen Schimmer, und der Tau auf Gras
und Blättern glitzerte silbrig. In der Luft lag ein klarer
frischer Hauch, aber es begann bereits warm zu werden.
»Dies«, sagte Morren, »Nenne ich eine wahre
Entschädigung.« Er summte vor sich hin, während er
den morgendlichen Kräutertee aufbrühte. Keil griff die
Melodie mit seiner Silberflöte auf und verwob sein Spiel
zugleich mit dem Singen der Vögel. Es war ein
wunderschöner Morgen, und es war leicht, so zu tun, als ob
nichts geschehen sei.
Aber der Klang seiner eigenen Flöte versetzte Keil einen
Stich. Er würde sie nie wieder spielen können, ohne dabei
an die andere, die ungespielte Flöte, zu denken. Und obwohl
jetzt Lonnìl wieder bei ihnen war und eigentlich nur noch
Felder fehlte, würde nichts mehr so sein können wie
früher. Als Schwinge von ihrer Runde zurückkam, brach
Keil die Melodie ab und steckte die Flöte hastig wieder ein.
Sie bemerkte es, sagte aber nichts. Morren nickte nur.
Lonnìl, der nicht wissen konnte, was in der Zwischenzeit
geschehen war, starrte unbewegt in seinen Tee, als wisse er nicht,
wen er sonst ansehen sollte. Er tat Keil leid. Da hatte er die
ganze Zeit auf Schwinge gewartet, und nun hatte sie in fünf
Tagen kein einziges Wort mit ihm gesprochen. Es war nicht zu
übersehen, daß Lonnìl so unglücklich war,
wie ein Mensch nur sein konnte. Aber Keil konnte ihm nicht
helfen.
»Möchte noch jemand von dem Kaninchen?« fragte
Morren. Wie immer gelang es ihm an besten, die Situation zu
ignorieren. Aber er hatte recht. Da sie es nicht ungeschehen machen
konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als einfach
weiterzuleben. Felder hätte vermutlich nichts anderes gemacht.
Nun, es war vielleicht ganz gut, daß der Prinz jetzt nicht
bei ihnen war. Er hatte immer einen ausgesprochen guten Appetit
gehabt, und ihr Frühstück reichte selbst für vier
kaum aus. Es war zwar noch etwas kaltes Kaninchen vom letzten Abend
übrig, aber ihr Brot war so gut wie aufgebraucht, so daß
jeder nur wenige Bissen davon bekam. Lediglich Morrens
würziger Tee war in ausreichender Menge vorhanden.
»Lonnìl?« fragte Morren. Der Mensch blickte
auf. »Hast du Geld?«
»Ein wenig«, sagte Lonnìl. »Ich habe
eigentlich nur für meinen Unterhalt gearbeitet, aber
zwischendurch hat mir die Bäuerin ein paar Münzen
gegeben. Warum?«
»Wir brauchen frisches Brot«, sagte Morren. »Und
das Einfachste ist immer noch, es zu kaufen.«
Noch am Vormittag erreichten sie ein Dorf der Menschen, das, von
einer Steinmauer umgeben, am Ufer eines Flusses lag.
‘Dorf’ war eigentlich nicht mehr die richtige
Bezeichnung. Es war die größte menschliche Ansiedlung,
die Keil jemals gesehen hatte.
»Laßt uns unser Brot dort kaufen«, bat er.
Dieser Ort zog ihn magisch an, obwohl er schon von vorn herein
sagen konnte, daß es dort eng, laut und übelriechend
sein würde. Es war unmöglich zu erklären, warum er
unbedingt dorthin wollte. Vielleicht lag es daran, daß sie
nun auf dem Heimweg waren. Bald würden sie die tiefen
Wälder erreicht haben, und dann würde er nie wieder ein
Menschendorf sehen. Da war es wohl am besten, wenn ihm das Letzte
in besonders abschreckender Erinnerung blieb.
Nicht einmal jetzt widersprach Schwinge. Sie war zwar nicht
bereit, die Stadt zu betreten, aber sie sagte nur: »Tut das,
was ihr müßt. Ich werde hier draußen auf euch
warten.« Sie konnte ihn nicht mehr Verräter nennen.
Lonnìl, Morren und Keil betraten die Stadt ungehindert.
Bevor der Wachmann Keil auch nur bitten konnte, die dunkle Kapuze
des Umhangs, den ihm Lonnìl geliehen hatte, von seinem
Gesicht zu nehmen, hatte Morren seinen Blick längst in eine
andere Richtung gelenkt. Allerdings hatte Keil das Gefühl, mit
der Kapuze noch stärker aufzufallen als ohne. Es war
tatsächlich ein ziemlich heißer Tag geworden, und viele
auf den Straßen arbeitende Handwerker, an denen sie unterwegs
vorbeikamen, trugen überhaupt keine Hemden. Ein lustiger
Anblick.
Um zum Viertel der Bäcker zu gelangen, mußten sie die
ganze Stadt durchqueren, und Keil versuchte, so viel wie
möglich in sich aufzunehmen. Es war überfüllt, es
war laut, und es stank, aber irgendwie war es herrlich. Er
bemerkte, daß Morren ihm zwischendurch immer wieder
belustigte Blicke zuwarf, aber es gab doch soviel zu sehen! Die
Häuser standen viel dichter nebeneinander als in den kleinen
Dörfern, so daß zwischen ihnen nur sehr enge, dunkle
Durchgänge blieben. Und die Gebäude waren hoch - einige
hatten sogar drei Stockwerke. Vielleicht hatten die Menschen dieser
Gegend von den Elben etwas über das Bauen gelernt. Auf den
Straßen war es trotz der strahlenden Sonne dämmrig, da
die oberen Stockwerke auf die Straße hinaus ragten und lange
Schatten warfen. Manche standen so weit vor, daß die fast mit
dem Haus auf der anderen Straßenseite zusammenstießen.
Mehrmals wäre Keil fast verlorengegangen, aber Morren zog ihn
weiter.
Schließlich kamen sie auf einen großen Platz - den
Marktplatz, wie Lonnìl erklärte - auf dem ein reges
Treiben herrschte. Noch nie hatte Keil so viele Menschen auf einem
Haufen gesehen, und er konnte nicht anders, als stehenzubleiben und
zu staunen. Hier herrschte ein solcher Lärm, daß er
alles bisher dagewesene in den Schatten stellte.
»Was ist hier los?« fragte er neugierig. Es waren zwar
einige Händler zu sehen, aber das erklärte nicht diese
große Menge von offenbar aufgebrachten Menschen, die sich in
der Mitte des Platzes drängten.
Lonnìl schien ihn bei diesem Getöse nicht verstanden
zu haben, wohl aber Morren. »Warte«, sagte er.
»Warum sollten wir versuchen, uns bis zur Mitte
durchzuwühlen, wenn man es auch viel einfacher haben
kann?« Er holte den Elbenkristall hervor, blickte hinein und
begann nach Luft zu schnappen. Dann hustete er und fing
schließlich so sehr an zu lachen, wie es Keil kaum jemals
erlebt hatte. Endlich hörte er auf, steckte die Kugel ein und
sagte: »Ihr werdet mir nicht glauben, was ich gerade
gesehen habe.«
Und er begann, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
In der Mitte des Marktplatzes stand ein absonderliches Gebilde, um
das sich die Menschen drängten. Da Keil im Vergleich zu ihnen
recht groß war, konnte er es über die Köpfe hinweg
ziemlich gut erkennen. Allerdings hatte er keine Ahnung, was es
darstellte. Auf einer erhöhten Plattform hatte man etwas
errichtet, das auf den ersten Blick wie ein massiver Holzblock
aussah, aus dem Kopf und Hände eines Mannes ragten. Bei
genauerem Hinsehen erkannte Keil, daß es eigentlich zwei
Hälften waren, die übereinandergelegt wurden, mit
Aussparungen für Kopf und Hände in der Mitte. Seitlich
waren die Teile über Riegel und ein Vorhängeschloß
miteinander verbunden. Obwohl Keil dies zum ersten Mal in seinem
Leben sah, brauchten ihm weder Lonnìl noch Morren
erklären, was er da vor sich hatte. Offensichtlich steckte
dieser Mann nicht zu seinem Vergnügen in diesem Block - er
wurde auf barbarische Art bestraft.
Der Mann war Felder. Keil wußte es sofort, obwohl man vom
Gesicht so gut wie nichts erkennen konnte. Die Gestalt ließ
den Kopf nach vorne hängen, so daß Keil
hauptsächlich auf ein Durcheinander aus dunkelbraunem Haar
blickte, und der Körper wurde von der Menge und dem Block
verdeckt, aber es konnte nur Felder sein. Eigentlich hatte Keil es
schon geahnt, als Morren in seine Kugel blickte. Es war genau wie
damals, als Lonnìl Felder aus dem wütenden Dorf
gerettet hatte. Alle Ereignisse neigten dazu, sich zu wiederholen.
Lonnìl stieß einen unterdrückten Schrei aus.
»Sie haben ihn an den Pranger gestellt!«
»Hattest du etwas anderes erwartet?« fragte
Morren.
»Nein«, gab Lonnìl nach einem Moment des
Überlegens zu.
»Ich schon«, sagte Morren. »Als ich den
Lärm hörte, war ich ziemlich sicher, daß man ihn
gerade aufhängen würde.«
»Aber wir müssen ihn retten!« rief
Lonnìl.
Keil hatte genau gewußt, daß er das sagen
würde.
»Und warum möchtest du es diesmal?« fragte
Morren. »Du wirst doch wohl kaum behaupten wollen, man habe
ihn unschuldig dort aufgebaut, oder? Es scheint in dieser Gegend
gültiges Recht sein, Übeltäter anzuprangern. Willst
du gegen den Gang des Gesetzes einschreiten?«
»Aber es ist zu grausam! Wer weiß, wie lange er dort
schon steht, in dieser Hitze! Und jeder, der vorbeikommt, darf ihn
verprügeln.«
»Und du wirst wütend, wenn das jemand anderes als du
tut«, stellte Morren fest. »Wahrscheinlich wird er
schon heute oder morgen, allenfalls übermorgen, wieder
freigelassen. Diesmal wird er nicht hingerichtet. Meinst du nicht,
es tut gut, ihn einmal ein wenig zappeln zu lassen?«
»Aber er zappelt nicht«, sagte Keil. »Er ist
kaum bei Bewußtsein.«
Sie standen jetzt direkt vor der steinernen Erhöhung. Trotz
des großen Gedränges waren alle Leute Morren
ausgewichen, als er sich den Weg bahnte - er mußte nicht
einmal die Hände ausstrecken Der Block war in einer Höhe
aufgebaut, in der Felder gezwungen war, gebückt und mit
eingeknickten Knien zu stehen - er war zu niedrig für eine
aufrechte Haltung, aber zu hoch, um zu sitzen oder zu knien.
Felders Beine waren zur Seite weggerutscht, und wären sein
Kopf und seine Hände nicht eingeklemmt gewesen, wäre er
jetzt sicher ganz so Boden gesackt. Er war barfuß, sein Hemd
und sein Umhang waren zerrissen, und nur seine ledernen Hosen
schienen das Ganze unbeschadet überstanden zu haben.
Außerdem war er über und über mit Schmutz und Unrat
bedeckt, wohl auch deswegen, weil die Umstehenden ihn unter
großem Gejohle mit Dingen bewarfen, von denen fauliger Kohl
noch das Harmloseste war. Keil spürte eine große Wut in
sich aufsteigen gegen diese Leute, die sich an einem wehrlosen Mann
ausließen, und er begann zu begreifen, weswegen Lonnìl
immer losstürmen und eingreifen mußte, wenn er so etwas
sah.
Felder schien wieder etwas zu Bewußtsein zu kommen, er
rappelte sich auf und hob den Kopf. Sein Gesicht blutete, und eines
seiner Augen war blau-rot angelaufen und zugeschwollen. In seinem
Blick lag etwas Wildes, Gehetztes, wie bei einem verwundeten Tier,
daß seinem Jäger gegenübersteht: Keine Angst, aber
eine hilflose Wut. Er sah geradeaus, über die Köpfe der
Menge hinweg, und so bemerkte er seine drei Freunde nicht, die
direkt vor ihm standen.
»Aber wir müssen ihm helfen!« wiederholte
Lonnìl. »Er hat vielleicht seit Tagen nichts zu essen
und zu trinken bekommen.«
»Letzteres dürfte sein Hauptproblem sein«,
murmelte Morren, fuhr plötzlich herum und faßte
Lonnìl bei den Schultern, um ihm direkt in die Augen zu
blicken. »Was glaubst du wohl, was ich bin? Ein Steinklotz?
Glaubst du vielleicht, ich hätte nicht in dem Moment, in dem
ich ihn in meiner Kugel gesehen habe, beschlossen, ihn zu befreien?
Glaubst du, ich will meine Freunde leiden sehen? Die Frage ist nur,
wie wir es anstellen sollen.«
»Wenn du das Schloß aufbrechen könntest
…«, schlug Keil vor.
Morren sah ihn herablassend an und schüttelte den Kopf.
Langsam hob er seine Arme, richtete die Hände auf Felder und
spreizte die Finger.
Im nächsten Moment brannte der Pranger.
Keil und Lonnìl schrien gleichzeitig auf, als sie sahen,
wie die roten Flammen das Holz verschlangen, aber ihr Schrei ging
unter im entsetzen Aufkreischen der Menge. Alle Leute wichen
zurück, so schnell sie konnten. Aber sie flohen nicht. Sie
vergrößerten lediglich ihren Abstand, gerade genug, um
vor den Flammen in Sicherheit zu sein, während sie das
Schauspiel beobachteten. Nachdem der erste Schreck vorbei war,
ertönten schon wieder johlende Beifallsrufe. Inmitten der
Flammen stand Felder. Er war bei vollem Bewußtsein, sein
Gesicht vor Grauen verzerrt, und er starrte Morren an, der dastand
und lächelte.
»Du bringst ihn um!« schrie Lonnìl, aber ebenso
wie Keil schien er unfähig, sich zu rühren und
einzugreifen. »Lösch das Feuer! Er wird
verbrennen!«
»Dummkopf!« herrschte Morren ihn an. »Sieh doch
hin! Brennt vielleicht Felder? Natürlich nicht. Es ist
magisches Feuer. Die Flammen greifen nur das Holz an. Glaubst du
nicht, ich weiß, was ich tue? Ich weiß mehr über
Feuer, als die ganze Menschheit jemals erfahren kann. Felder kann
nicht einmal die Hitze spüren.«
»Aber er hat Angst«, sagte Keil leise. Es stimmte -
die Flammen konnten weder Felders Kleidung noch seinem Haar etwas
anhaben. Aber selbst wenn er sie nicht spüren konnte, konnte
er sie doch sehen, und er war von ihnen eingeschlossen.
»Angst? Warum sollte er? Es kann kaum schlimmer sein als
das, was er im Verlauf des letzten Tages durchgestanden haben
muß. Und selbst wenn - es wird ihm vielleicht eine Lehre
sein. Oder es gibt ihm den Nervenkitzel, den er sich so sehr
wünscht.«
»Aber warum Feuer?« fragte Keil. »Du
hättest wirklich nur das Schloß öffnen
müssen.«
»Hier ist eine halbe Stadt versammelt, bereit, einen armen
Sünder in Stücke zu reißen. Wenn wir ihn einfach so
mitnähmen, würden sie über uns herfallen, und kein
Zauberer, egal wie mächtig, kann gegen Hunderte auf einmal
kämpfen. Das Feuer hält den Mob auf Abstand. Es lehrt ihn
Respekt. Jetzt werden sie sich nicht an uns heranwagen. Und es ist
ja auch gleich schon durchgestanden. Feuer kann sehr schnell
sein.«
Er ballte seine immer noch ausgestreckten Hände langsam zu
Fäusten. Die Flammen erloschen ohne Rauch. Schwarz verkohlt
stand der Pranger inmitten der Plattform, und als Morren mit der
Hand winkte, zerfiel er zu einem Häuflein weißer Asche.
Die Menge jubelte vor Begeisterung auf, als das unversehrte
Vorhängeschloß klirrend zu Boden fiel.
»Kümmert euch um ihn!« befahl Morren. »Ich
halte das Volk zurück.«
Keil und Lonnìl eilten zu Felder, der mit den
Überresten des Blockes zu Boden gesunken war. Er atmete schwer
und versuchte sich aufzustützen, aber er schien keine Kraft zu
haben.
»Wie geht es dir?« fragte Lonnìl. »Bist
du verletzt?«
Felder blickte ihn an, sein Gesicht glühte, und sein gesundes
Auge glitzerte fiebrig. Dennoch lächelte er. »Muß
gehen. Diesmal habt ihr euch aber Zeit gelassen.«
Sie halfen ihm auf, und einen Moment lang stand er, wenn auch
schwankend, auf seinen Füßen, bevor er ohnmächtig
zusammenbrach.
»Und jetzt steh
auf!« sagte Morren.
Felder stöhnte. Konnten sie ihn nicht in Ruhe schlafen
lassen? er war müde. Aber warum … Morren? Das ging
nicht. Oder hatten sie ihn wieder aufgestöbert? Was war los?
Und wieso lag er im Gras? Es gab kein Gras in der Stadt. Es gab
Dreck und Schlamm und Pfützen, aber kein Gras. Träumte er
immer noch? Und wieso hatte er keinen Kater? Er hatte das
Gefühl, als könne er im nächsten Augenblick
aufstehen und herumlaufen. Kein Zweifel. Er träumte.
»Steh auf!« wiederholte Morren. Es war Morren.
Und dieser Stimme sollte man sich nicht widersetzen. Felder
träumte nicht. Er war wach, er lag im Gras, und es ging ihm
gut.
»Ich komme ja schon«, murmelte er und öffnete
vorsichtig die Augen. Es war Tag. Über ihn beugten sich die
vertrauten Gesichter von Morren, Keil und Lonnìl. »Was
um alles in der Welt tut ihr hier?« Er blinzelte, aber seine
Freunde verschwanden nicht. »Und wo ist dieses hier?
Wie komme ich hierher?«
»Auf Lonnìls Rücken«, erklärte
Morren, der mit diesen Fragen gerechnet haben mußte.
»Aber er konnte dich nicht auf Dauer tragen. Also habe ich
dich geheilt. Du kannst jetzt selbst laufen, und das solltest du
auch tun, denn wir haben nicht ewig Zeit. Woran kannst du dich
erinnern?«
»Man hat mir meine Stiefel geklaut!« antwortete Felder
ohne zu zögern. Das war das Letzte, was er getan hatte: Er war
losgezogen, um seine Stiefel wiederzufinden.
»Während du am Pranger standest?« fragte
Lonnìl.
»Nein, während ich schlief.« Pranger?
Verschwommene Bilder aus seinem Alptraum zogen wie kalte
Nebelschwaden durch Felders Kopf. Schreie. Schmerzen. Dreck.
Morren. Feuer. Pranger. Langsam kam alles wieder. »Verdammte
Scheiße.«
Sie erzählten ihm, wie sie ihn gefunden und befreit hatten.
Er fragte nicht, wo sie nach über einem Monat - es mußte
ungefähr ein Monat gewesen sein, aber er hatte aufgehört,
die Tage zu zählen - so plötzlich hergekommen waren. Er
wollte es gar nicht wissen. Der Traum war vorbei. Und das
süße Leben in Freiheit auch.
Süßes Leben?Es war die beschissenste Zeit, die er
jemals hatte. Freiheit war nur ein anderes Wort dafür,
daß man nichts mehr hatte, was man sonst noch verlieren
konnte. Außer vielleicht seinen Stiefeln und seiner
Selbstachtung. Aber woher kamen schon wieder diese
Gedanken?
»Was hast du mit mir gemacht, Zauberer? Ich bin
nüchtern!«
»Zum ersten Mal seit wann?« fragte Morren schneidend.
»Was ist aus deinen guten Vorsätzen geworden? Aus deinen
Vorträgen über kontrolliertes Trinken? Seit wir uns das
letzte Mal gesehen haben, hast du nichts anderes getan als Saufen,
so ist es doch!«
»Nur die letzte Woche.« Konnte auch etwas mehr sein.
Seitdem er in der Stadt gelandet war. Was für eine Stadt
eigentlich? Er hatte keine Ahnung. Es war mehr ein dummer Zufall
gewesen, daß er dort hängengeblieben war, wo er
eigentlich zurück zum Feenforst wollte, um sich das Schwert
doch noch zu holen. Einen Versuch wäre es allemal wert
gewesen. Aber dann war er in dieser Stadt gelandet und hatte das
Weiterreisen immer weiter aufgeschoben, bis er schließlich
überhaupt nicht mehr daran dachte.
»Du kannst vor Glück sagen, daß sie dich an den
Pranger gestellt haben! Sonst hätten wir dich nicht bemerkt,
selbst wenn wir über dich gestolpert wären in der Gosse,
in der du gelegen hättest. Das nennst du also
Spaß?«
»Mir hat mein Schwert gefehlt«, antwortete Felder nur.
Wenn sie es verstanden, war es in Ordnung. Wenn sie es nicht
verstanden, konnte er es auch nicht erklären. Es war einfach
so, daß er sein Schwert viel stärker gebraucht hatte als
den Schnaps. Sein Schwert konnte so viel. Es konnte ihm wahre
Nervenkitzel verschaffen, die besser waren als jeder Rausch, und es
hatte immer verhindert, daß er ein Säufer wurde, weil
ein Schwertmeister das nicht sein durfte. Es war ja auch nicht
irgendein Schwert. Es war sein Schwert, und so etwas
würde er nie wieder bekommen. Er hatte dabeigestanden, als es
geschmiedet wurde, mit glänzenden Augen den Blasebalg bedient
und den besten Schmied Thorias verblüfft, als er ihm genau
beschrieb, was er wollte: Nicht irgendein Schwert, sondern das
beste Schwert der Welt. »Du willst also ein Schwert, das ein
Seele besitzt«, hatte der Schmied gesagt. Und er, damals
gerade sechzehn Jahre alt, entgegnete: »Jedes gute Schwert
hat eine Seele. Aber dieses Schwert soll meine Seele
haben.« Jetzt war es ihm, als hätte er genau das
verloren: Seine Seele. Solange das Schwert durch Lonnìl
stets in Reichweite war, war noch fast alles in Ordnung. Aber
nachdem er einmal alleine war, hatte er gemerkt, daß
regelrecht ein Stück von ihm fehlte. Diese innerliche Leere
hatte er irgendwie auffüllen müssen, bevor sie
unerträglich wurde. Erst hatte er es mit Abwechslung versucht.
Aber neue Länder waren nur halb so schön, wenn er dort
nicht nach neuen Gegnern suchen konnte. Und es gab auch keine neuen
Sprachen zu lernen. Diese Gabe, alle Menschen zu verstehen, war
hängengeblieben. Allein dafür schon hätte er die
Elfen erschlagen können. Sie hatten ihm das einzige
weggenommen, was er jemals außer Fechten wirklich hatte
lernen wollen und worin er gut war.
Früher hatte er immer davon geträumt, einmal ein
berüchtigter Räuber zu werden. Dafür konnte es ganz
vorteilhaft sein, alle Sprachen zu sprechen. Jeder würde ihn
verstehen, wenn er »Geld oder Leben!« rief. Aber ohne
Waffen konnte er kein Räuber werden. Er brauchte ein Schwert.
Schwerter kosteten viel Geld. Um an so viel Geld zu kommen,
hätte er viele Leute überfallen müssen. Und das ging
eben nicht ohne Schwert. Also hatte er den Gedanken wieder
verworfen. Das Einzige, was ihm wirklich noch blieb, war das
Trinken. Es mußte ihm eine Menge ersetzen. Und das tat es
auch erstaunlich gut. Schnaps kostete auch Geld, aber weniger.
Felder hatte gewürfelt, was er gut konnte, und einige kleine
Diebstähle versucht, die weniger sein Fall waren, und nachts
in den dunklen Gassen mit seinem Dolch das getan, was ein richtiger
Räuber auf einer Landstraße mit einem Schwert machte.
Aber er war nicht so weit gesunken, als daß er um Geld
gebettelt hätte. Zumindest nicht oft. Dann kam der Tag, an dem
er aufwachte und festgestellte, daß man ihm die Stiefel
gestohlen hatte. Das ging dann doch eine Nummer zu weit. Es
reichte, daß er alles verloren hatte, was möglich war -
sein Schwert, seine Krone, sein Land und sein Volk -, und daß
er innerhalb von nur einem Monat tiefer gesunken war, als jeder
andere nicht einmal in einem halben Jahr geschafft hätte: Er
mußte sich nicht alles gefallen lassen. Immerhin war er
einmal ein Prinz gewesen, ein begnadeter Schwertkämpfer und
begehrter Liebhaber, und er war immer noch mehr als irgendein
besoffenes Stück Dreck. Er war Felder von Thoria, und obwohl
er keinerlei Waffen besaß - sein Dolch steckte vielleicht
noch immer in seinem rechten Stiefel -, war er ausgezogen, um den
Dieb seiner Stiefel zu finden und in seine Einzelteile zu zerlegen.
Und - jetzt fiel es ihm langsam wieder ein - er hatte ihn auch
gefunden und zur Rede gestellt. Das Ergebnis davon war, daß
er wegen Erregung Öffentlichen Ärgernisses im Block
landete. Und seine Stiefel hatte er immer noch nicht wieder.
»Ich wollte dir das Schwert ja wiedergeben«, sagte
Lonnìl kleinlaut. »Aber ich habe dann nicht mehr daran
gedacht, als es dir so schlecht ging.«
»Ich will es gar nicht wiederhaben. Behalt es!« Jetzt
war es sowieso zu spät. »Vielleicht kannst du es mir
irgendwann einmal leihen, damit ich im Training bleibe?«
Lonnìl drückte ihm das Schwert in die Hände.
Felder hielt es unschlüssig fest. Es kribbelte ihm in den
Fingern, jetzt einen von den anderen anzugreifen und endlich wieder
einmal einen richtigen Kampf zu haben. Das war genau das, was er
jetzt brauchte. Aber es würde eine Blamage werden. Er hatte
über einen Monat lang keine Klinge angerührt. Auch wenn
er jetzt nüchtern war, würde er nicht mehr besser
kämpfen können als an dem Tag, an dem er beinahe sein
Auge verloren hatte - eher sogar schlechter. Fehlendes Training war
schlimmer als Trunkenheit. Er würde viel üben
müssen, um das Verlorene wieder aufzuholen.
»Nicht jetzt«, sagte er und gab das Schwert
zurück. »Ich kann mich ohne Stiefel nicht richtig
bewegen.« Es waren feine Stiefel - der beste Schuhmacher
hatte sie aus dem besten Leder für ihn gemacht. Feine
thorianische Stiefel. So etwas wurde heute gar nicht mehr
hergestellt.
Als er demonstrativ an sich herunterblickte, um auf die fehlenden
Stiefel aufmerksam zu machen, stellte er fest, daß seine
Kleider sauber und heile waren, so gut wie neu. Morren hatte sich
regelrecht an ihm ausgetobt.
»Du hast mich komplett geheilt?« fragte Felder
vorsichtig. »Was genau …«
»Da war nichts, was nicht früher oder später von
selbst geheilt wäre. Ein paar Prellungen, Abschürfungen,
Platzwunden, ein blaues Auge, ein oder zwei gebrochene Rippen.
Außerdem ein mittelschweres Fieber, entweder von dem Regen
gestern oder der Sonne heute, vielleicht auch von
beidem.«
»Und das hast du einfach so geheilt? Ohne
Probleme?«
»Es ist nichts Schweres daran, Verletzungen und zu heilen,
solange der Patient noch am Leben ist, zumindest
größtenteils.«
»Und warum hast du mich dann dieses Kraut schlucken lassen,
als ich den Kater meines Lebens hatte? Warum wolltest du mir damals
nicht helfen?« Felder war bereit, dem Zauberer einiges zu
verzeihen, aber sinnlose Grausamkeit würde er niemals
tolerieren. Doch Morren lächelte nur.
»Du erwartest doch nicht etwa eine Antwort
darauf?«
Felder war wieder bei ihnen.
Die Gefährten waren vereint, so als sei keine Zeit vergangen,
seit sie Thoria verlassen und sich getrennt hatten. Es war wie
früher. Jetzt erst merkte Keil, weswegen ihm gerade Felder in
den letzten Tagen so gefehlt hatte. Der lebhafte Mensch lenkte ihre
Gedanken von anderen Sachen ab, zum einen dadurch, daß er sie
ständig in Gespräche zu verwickeln suchte, und zum
anderen, weil er sie zwang, über ihn und seine Art zu leben -
oder zu überleben - nachzudenken. Da blieb kein Platz
für andere Dinge. Keil konnte Schwinge, die Flöte und
seinen Namen fast vergessen, wenn er sich auf Felder konzentrierte
und seine Bemühungen, Morren zum Erschaffen von zwei Stiefeln
zu bewegen, was der Zauberer natürlich nicht wollte.
»Du bist gar nicht so mächtig, wie du immer behauptest,
wenn du nicht einmal ein läppisches Paar Stiefel machen
kannst.«
»Legst du es darauf an, meinen Zorn zu erregen?«
»Legst du es darauf an, daß ich deine Unsterblichkeit
überprüfe?«
Morren lachte nur. Nun fiel Felder auf, daß ihm außer
seinen Stiefeln noch etwas fehlte. »Morren«, sagte er
langsam, »meine Feldflasche ist weg.«
»Ich weiß«, antwortete der Zauberer. »Du
brauchst sie jetzt nicht mehr.«
»Woher willst du wissen, was ich brauche und was nicht? Gib
sie mir wieder!«
»Ich habe dich vollständig geheilt. Du bist kein
Säufer mehr.«
Jetzt schrie Felder ihn an. »Ach ja? Und wer hat dir gesagt,
daß ich geheilt werden wollte? Ich habe euch oft genug meine
Gründe erklärt, und trotzdem glaubst du, ich trinke nur,
weil ich zittere, wenn ich es nicht tue? Ich habe es mir selbst so
ausgesucht. Meine Gründe haben sich nicht geändert. Du
mußt deine Heilung nicht rückgängig machen. Aber
gib mir meine Flasche wieder. Ich muß vielleicht nicht mehr
trinken, aber ich will es.«
Morren schien zu erstarren, dann wirbelte er herum, und seine
Augen glühten förmlich. Seit dem
Th’enlathíel hatte Keil ihn nicht mehr so wütend
erlebt, und einen Moment lang sah es so aus, als erhebe der
Zauberer seine Hände, um den Menschen für diese
Schmähung zu Boden zu strecken. Aber er lächelte nur,
griff in die Luft und reichte Felder seine Flasche.
»Wie du wünschst«, sagte er sanft. »Und
merke dir, daß du soeben die letzte Chance, dein Leben zu
retten, verspielt hast. Ich war bereit, dir zu helfen. Jetzt bin
ich es nicht mehr. Und wenn du in fünf Jahren auf den Knien
angekrochen kommst und mich anflehst, dich zu heilen, werde ich es
nicht tun. Der Tag wird kommen, an dem dich deine Schmerzen
zerreißen werden und der Tod mit seiner langsamen Hand nach
dir greift, und anders als jetzt wirst du plötzlich erkennen,
was du alles verpaßt hast und daß du eigentlich doch
lieber weiterleben würdest. An diesem Tag werde ich dich in
meiner Kugel beobachten, und ich werde mir ein Glas Wein
einschenken und auf dein Angedenken trinken. Und du wirst wissen,
daß ich es tue.«
»Fein«, sagte Felder ungerührt. »Und jetzt
gib mir Stiefel.«
»Ich kann dir keine Stiefel machen«, sagte Morren.
»Ich könnte dir etwas geben, daß so aussieht wie
Stiefel, aber du wärest genauso barfuß wie jetzt. Kein
Zauberer kann etwas aus nichts erschaffen. Finde dich damit
ab.«
»Ich will auch nicht irgendwelcher Stiefel. Ich will
meine Stiefel, wo immer sie jetzt sein mögen. Du bist
mir etwas schuldig für diesen Fluch gerade.«
Morren betrachtete ihn einen Moment lang sprachlos und begann
leise zu lachen. »Diese Unverschämtheit ist so
unfaßbar, daß ich sie nur noch belohnen kann.« Er
nahm den Kristall, blickte hinein und sagte:
»Stiefel!«
Im nächsten Moment waren Felders ausgetretene Lederstiefel
wieder an seinen Füßen.
»Danke«, sagte Felder.
Damit war die Freundschaft zwischen ihm und dem Zauberer in eine
neue Phase eingetreten. Denn ab jetzt versuchte Felder mit allem,
was er tat, Morren herauszufordern. Er trank reichlich und so
betont, als versuche er den Zauberer um jeden Preis zu einer
Reaktion zu bewegen.
Aber alles was er erntete, waren wütende Blicke, selbst an
den Morgen, an dem er eigentlich nur zu einer Bäuerin ging, um
seine Feldflasche aufzufüllen und seine Freunde fast bis zum
Nachmittag hatte warten lassen, bis er dann endlich wiederkam, in
überragender Laune und ziemlich betrunken. Keil vermutete,
daß dahinter die verzweifelte Absicht steckte, sich ihrer
Freundschaft zu versichern. Felder wollte wissen, wieviel sie
bereit waren zu ertragen, damit er sie begleitete.
Lonnìl hatte keine Fragen gestellt, sondern nur schweigend
hingenommen, daß etwas vorgefallen sein mußte. Felder
würde nicht so ruhig bleiben. Aber vielleicht merkte er es ja
nicht, weil er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Zum
ersten Mal wünschte sich Keil, der Mensch möge noch mehr
trinken als zuvor. Doch Felder mochte zwar betrunken sein - blind
war er nicht, und nach drei Tagen kam der gefürchtete Moment.
Der Mensch winkte Keil beiseite und sorgte dafür, daß
sie ein Stück hinter den anderen zurückblieben.
»Kannst du mir bitte sagen, was los ist?« fragte er.
»Das ist ja nicht mehr zum Aushalten mit euch! Ich
wußte zwar, daß Schwinge nicht mit mir redet und auch
nicht mit Lonnìl, aber seit wann ignoriert sie
dich?«
Obwohl Keil mit dieser Frage gerechnet hatte, wußte er keine
Antwort darauf. Das hieß - natürlich wußte er die
Antwort. Aber er konnte sie nicht sagen. »Morren kann es dir
erklären«, murmelte er schließlich
zögerlich.
»Das nehme ich an. Aber ich habe dich gefragt. Ich will
wissen, was passiert ist. Hängt es mit Lonnìl zusammen?
Hattest du was mit Schwinge? Ich meine …« Felder
strich sich verlegen durch die Haare. »Verdammt, wie soll ich
es sagen? Ich glaube nicht, daß du dich ihr irgendwie
genähert hast, und sie sich dir ganz sicher nicht. Also - was
ist hier los?«
Keil antwortete immer noch nicht, aber unwillkürlich
umklammerte er den Beutel, in dem die Flöten waren, fest mit
beiden Händen. Felder bemerkte es und fragte nach.
Schließlich mußte Keil es ihm sagen.
»Es ist die Flöte«, flüsterte er. Felder
begriff.
»Die Flöte aus Eis? Also habt ihr sie gefunden? Das
hätte ich fast nicht zu hoffen gewagt. Laß mal
sehen!«
Keil schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Man darf nicht
auf ihr spielen.«
»Nicht? Was passiert dann? Bricht der Himmel zusammen, oder
was?« Felder lachte, doch es klang etwas nervös.
»Ich weiß es nicht. Ich will es gar nicht wissen. Aber
Schwinge …«
»Sie will, daß du darauf spielst«, vollendete
Felder den Satz. »Ihr habt euch deswegen gestritten, und
jetzt redet sie nicht mehr mit dir.«
Keil blickte zu Boden und nickte unglücklich. Felder klopfte
ihm aufmunternd auf die Schulter, so wie er es manchmal mit
Lonnìl machte. »Laß dich nicht von ihr
unterkriegen. Mach das, was du für richtig hältst. Wenn
du nicht auf der Flöte spielen willst, solltest du es auch
nicht tun. Sag Schwinge, wenn sie dich noch einmal damit
belästigt, bekommt sie es mit mir zu tun.«
»Du verstehst es nicht ganz«, murmelte Keil.
»Schwinge hat vielleicht Recht.«
»Das verstehe ich jetzt wirklich nicht«, sagte Felder.
Aber wie sollte Keil es ihm erklären, ohne dabei … von
seinem Namen zu sprechen?
Er versuchte es. »Sie sagt, ich bin dazu vorbestimmt, die
Flöte zu spielen.«
»Und hat sie Recht?«
Keil antwortete nicht. Felder wiederholte die Frage noch einmal,
diesmal mit Nachdruck. Keil zögerte immer noch. Dann sagte er,
was er sich selbst nie eingestanden hatte: »Ja.«
»Aber du willst sie trotzdem nicht spielen?«
»Ich darf es nicht.«
»Dann solltest du es auch nicht tun. Siehst du, es ist gut,
daß du mit mir darüber redest. Vielleicht sehe ich nicht
so aus, aber ich bin so ziemlich die einzige Person, die dich in
dieser Hinsicht völlig versteht. Wenn man dazu vorbestimmt
ist, eine Sache zu tun, heißt das noch lange nicht, daß
man dazu auch in der Lage ist. Nimm mich. Ich war von Geburt aus
dazu auserkoren, eines Tages Thoria zu regieren. Ich bin sogar nur
zu diesem Zweck gezeugt worden. Und was hat es gebracht? Nichts als
Ärger, sowohl für mich, als auch für …«
Er brach ab und setzte an einer anderen Stelle wieder ein.
»Tu immer das, was du für richtig hältst, egal, ob
es richtig ist oder nicht, und egal, was deine Freunde und
Feinde sagen. Freunde und Feinde kann man loswerden. Aber bis zum
Ende deines Lebens mußt du mit dir selbst zusammenleben. Um
es kurz zu sagen: Tu was du willst - wenn du willst, was du tust.
Wenn nicht, wird es dir früher oder später leid
tun.«
Es war ein großer Ernst in diesem Worten und Bitterkeit, so
daß Keil nicht anders konnte als fragen: »Tut es dir
jetzt leid, was du getan hast?«
Das hätte er nicht fragen sollen. Felder starrte ihn einen
Moment lang entgeistert an, dann lachte er unbekümmert.
»Was sollte mir schon leid tun? Ich habe alles so gewollt.
Außerdem reden wir hier jetzt nicht von mir. Es geht um dich
und Schwinge. Aber du hast Recht. Es ist schon komisch.«
Keil konnte sich nicht erinnern, irgend etwas Komisches gesagt zu
haben. Doch Felder redete auch schon weiter: »Du und
Schwinge, ihr seid Elfen. Lonnìl und ich sind Menschen. Es
ist einer Kette von Zufällen zu verdanken, daß wir
überhaupt aufeinander getroffen sind. Aber es sind
Lonnìl und Schwinge, die sich gleichen, und du und ich,
nicht umgekehrt. Die beiden haben ein ähnliches Schicksal und
leben irgendwie nur für ihre Rache, während wir gegen
unsere Bestimmung ankämpfen und gegen Leute, die über
unsere Zukunft bestimmen wollen. Und über allem thront Morren,
der …« Felder erklärte nicht, was mit
Lonnìl war, sondern brach abrupt ab und trank einen Schluck,
und danach schien er das Thema völlig vergessen zu haben.
»Laß dich nicht kleinkriegen«, sagte er nur.
»Bleib dir treu. Sei du selbst. Spiel nicht auf der
Flöte. Aber eine Frage noch: Warum wolltet ihr das dumme Ding
dann überhaupt haben?«
Auf diese Frage wußte Keil keine vernünftige
Antwort.
Eigentlich hatte er kaum etwas von dem gesagt, was wirklich
passiert war. Aber er hatte das Gefühl, daß Felder ihn
wirklich auch so verstand. Und was er gesagt hatte, stimmte. Ihre
Schicksale ähnelten sich wirklich. Beiden war eine Macht
verliehen worden, die sie nicht wollten. Felder hatte mit seiner
Macht großes Unheil angerichtet. Was würde Keil
tun?
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