Als ich wieder zu mir kam, lag
ich am Boden. Was war -? Wo war -? Und oh - ging es mir schlecht.
Mein Schädel dröhnte und pochte, ich
fühlte jeden Knochen im Leib, hatte Muskelkater, ich
bekam keine Luft, mein Mund klebte zusammen, so trocken war er -
und all das, bevor ich auch nur versuchte, mich zu bewegen. Noch
einmal versuchte ich, einen Gedanken zu Ende zu bringen: Was war
geschehen? Und wo war ich?
Ich lag, aber nicht in meinem Bett. Es war hart wie Stein, und es
war naß. Klatschnaß. Das Wasser sickerte
in meine Bewußtsein wie durch meine Kleidung, kaltes
Wasser, es ging mir durch und durch. Ich fühlte eine
Gänsehaut über meinen
Körper kriechen, und dann war ich endlich wach genug,
um die Augen aufzuschlagen und mich ein wenig zur Seite zu drehen,
weg von der Nässe.
Im nächsten Moment krachte ich auf den Boden. Es
war nicht tief, aber hart und unerwartet. Und ich
hörte ein Lachen, laut und unangenehm, das den ganzen
Raum, oder zumindest meinen ganzen Kopf, ausfüllte.
Alles drehte sich. Und dann, endlich, konnte ich sehen, wo ich
war.
Ich saß auf dem Boden einer Kerkerzelle. Hinter mir
war eine steinerne Pritsche, von der Wasser zu mir heruntertropfte.
Es war auch Wasser am Boden. Die Zelle war leer bis auf einen Eimer
in der Ecke, aber - was machte ich in einer Zelle? Es war eine von
unseren, ich kannte sie, aber ich gehörte nicht dort
hinein.
Und Vaenris auch nicht. Vaenris, der in der offenen
Tür stand, breitbeinig, grinsend, mit einem
großen Tonkrug unter dem Arm. Weiter konnte ich nicht
sehen. Alles dahinter war verschwommen, und daß es
Vaenris war, wußte ich auch nur mit Bestimmtheit, weil
ich seine Stimme erkannte. Ich konnte blinzeln, soviel ich wollte -
es wurde davon nicht viel besser. Und in der Zelle war ich auch
immer noch.
»Also gut«, sagte er. »Wach
wärst du damit wieder.«
Ich schüttelte den Kopf. Wasser lief mir in die
Augen. »Was ist -?« fragte ich, brach ab
und fragte statt dessen: »Wo bin -?« und
brach wieder ab, denn soweit war ich ja schon. »Was
soll das?« fragte ich dann.
»Ich bin hier, um dich das zu
fragen«, sagte Vaenris. Plötzlich sah er
sehr grimmig aus, als er die zwei Stufen zu mir in die Zelle
hinunterstieg und die Tür hinter sich zuzog.
»Und ich dachte mal, ich kenne dich.«
Vorsichtig versuchte ich aufzustehen. Mir war immer noch elend,
aber so am Boden konnte ich nicht sitzen bleiben.
»Gehört das auch dazu?«
fragte ich, unsicher, wütend, mit wackligen Knien.
»Wo ist Sybald?«
»Nicht hier, und das ist auch das beste. Ich dachte
mal, ich versuche dich wach zu bekommen, bevor irgend einer von
denen ahnt, daß du wieder bei dir bist. Freu dich,
daß ich zuerst bei dir bin. Das mache ich nur, weil
ich dein Freund bin. Noch.«
Seine Stimme machte mir Angst. »Was ist denn
los?« fragte ich verstört.
»Was ist passiert?«
Vaenris lachte. »Weißt du das wirklich
nicht mehr?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich versuchte mich zu
erinnern… Aber es ging nicht. Das letzte was
ich wußte, war, daß ich den
Löwenkelch nahm. Ich leerte ihn in einem
Zug… fand noch, daß es abscheulich
schmeckte… alle blickten mich erwartungsvoll
an… und dann…
»Nichts mehr«, sagte ich. Nach
Mitternacht wußte ich nichts mehr. Wie
spät war es? Wohl immer noch nicht Morgen. Die Zelle
hatte ein kleines vergittertes Fenster, knapp unter der Decke, doch
es fiel kein Licht herein. Oder war es schon wieder Nacht?
»Ich weiß nichts«, sagte ich
langsam. »Ich erinnere mich nicht.«
»Du erinnerst dich nicht«, wiederholte
Vaenris. Er bedeutete mir, mich wieder auf die Pritsche zu setzen,
und ich gehorchte. Es gab Dinge, um die ich mich mehr sorgen
mußte als um so ein bißchen Wasser.
»Du weißt nicht mehr, was du heute Nacht
gesagt hast?«
Ich nickte, und war fast ein wenig froh, daß es
wirklich nur heute Nacht war.
»Und wenn ich dich jetzt frage, warum dein Bruder
damals verschwunden ist?«
»Das haben sie mich gefragt?« murmelte
ich. Ich barg mein Gesicht in den Händen, rieb mir
die Stirn, die Augen, es half nicht. Wenn ich es ihnen gesagt
hatte… Dann verstand ich, warum ich im Kerker
wieder aufwachte. Einen Dieb zu beschützen, war fast
so schlimm, wie selbst einer zu sein. Aber das war egal. Das war
ich bereit zu ertragen. Aber mein Versprechen - »Ich
habe Jarvis verraten«, flüsterte ich.
Ich fühlte, daß etwas in mir zerbrach.
Alles. Mein Ehre. Mein Wort war nichts mehr wert. Niemand konnte
mir jemals wieder trauen. Noch nicht einmal ich
selbst…
»Verraten!« Vaenris schnaubte.
»Wenn’s nur das
wäre! Verraten ist gut! Du hast ihn
umgebracht.«
Umgebracht… Das Wort dröhnte in
meinem Kopf. Ich konnte nicht denken. Ich starrte Vaenris nur an.
Dann hörte ich mich murmeln:
»Was…« und
»Nein…«
Vaenris packte mich bei den Schultern. »Ich hab mir
immer einen Bruder wie dich gewünscht, und dann
stellt sich raus, alles war nur Mummenschanz!«
Ich nahm die Hände hoch, wie um mich vor
Schlägen zu schützen.
»Das stimmt nicht!« rief ich.
»Das habe ich nicht gesagt! Jarvis lebt, ich
würde ihm nie ein Haar
krümmen!« Jarvis lebte. Jarvis
mußte leben. Ich wünschte mir so
sehr… Ich wußte nicht mehr, was
ich denken sollte.
Vaenris spuckte aus. »Ja, jetzt kannst du wieder
lügen«, sagte er kalt. »Wo
der Trank nicht mehr wirkt… Und
daß ich noch versucht habe, dir zu
helfen…« Er
schüttelte sich.
»Bitte«, flehte ich. Wasser rann mir
über das Gesicht, Tränen,
Schweiß, ich wußte es nicht. Mein
Körper gehorchte mir ebensowenig wie meine Stimme.
»Bitte. Du mußt mir glauben. Und wenn ich
hier nie wieder leben rauskomme - du mußt mir glauben.
Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, aber ich bin kein
Mörder. Du weißt das. Du
mußt mir
glauben…«
»Erst einmal«, sagte Vaenris
verächtlich, »will ich wiederhaben, was
ich dir geliehen hatte.«
Geliehen… sehr dunkel, sehr schmerzhaft
erinnerte ich mich. Mit fahrigen Fingern zog ich den
Anhänger hervor. Er sah ganz naß und
unansehnlich aus, und ich schämte mich, nicht besser
auf ihn achtgegeben zu haben. Ich schloß die Hand
darum. Einen Moment lang wurde mir warm, und Wut stieg in mir Auf,
aber mein Elend ließ sie nicht weit kommen.
»Gib ihn mir zurück«,
sagte Vaenris.
»Aber du hast gesagt, wenn ich Savenns
Anhänger trage, kann ich sagen, was ich
will!« sagte ich kläglich.
Vaenris schnaubte. »Ich hab dir auch gesagt, du
sollst nicht soviel saufen! Was hilft dir der freieste Wille, wenn
du ihn mit Bier ertränkst?«
»Aber es ist nicht wahr!« rief ich noch
mal. »Ich habe Jarvis nichts getan, wirklich nicht.
Jarvis lebt!«
Vaenris schüttelte den Kopf. »Gib mir
erst den Anhänger wieder.«
Ich nickte. Was seines war, war seines. Vorsichtig gab ich ihm
Savenns Anhänger zurück. Vaenris war
böse mit mir wie seit Savenns Abreise nicht mehr - da
konnte mir für den Moment auch egal sein,
daß ich ihren Anhänger ruiniert hatte.
Zuviel anderes lag bereits in Scherben.
Vaenris lächelte und hing ihn sich wieder um.
»Danke«, sagte er. »Und es
tut mir leid, daß er nicht funktioniert hat, wie er
sollte. Bist du jetzt sauer?«
Die Frage kam zu plötzlich, zu unerwartet - ich
sauer? War er nicht derjenige, welcher… Ich
schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was passiert
ist«, sagte ich. »Wie auch, ich erinnere
mich ja nicht mal. Ich kann nicht sauer sein, bevor ich
weiß, auf wen.«
Vaenris klopfte mir auf die Schulter. »Zumindest kann
ich dir einen sagen, der im Moment wirklich sauer ist auf
dich.« Ich verstand nicht, warum er dabei grinste.
»Mein Onkel«, sagte ich leise.
»Richtig. Ich meine, ich kann’s
ihm irgendwie nicht verdenken, aber - ich habe ihn noch nie so
wütend gesehen, und ich kenne ihn ja schon ziemlich
lange. Du hättest das sehen müssen -
irgendwie hast du’s ja gesehen, aber du warst ja
nicht ganz du, oder weißt es nicht mehr - das war
schon unheimlich. Einer von den Prüfern - ich
weiß gar nicht mehr, wer es war, aber mein alter Herr
war’s nicht - fragte, wohin dein Bruder damals
verschwunden ist. Dann du, genau wie abgemacht:
‘Ich weiß es
nicht’. Der Prüfer:
‘Wißt Ihr denn, warum er
verschwunden ist?’ Und du hast nicht
geantwortet. Sie schauen dich an, verwundert, und dann wirst du
bleich und verdrehst irgendwie komisch die Augen, und sie sagen:
‘Antwortet, Byron!’ Und du
hast gesagt, ganz langsam: ‘Ich habe ihn
getötet.’ Damit hatte ja keiner
gerechnet, und deine Stimme klang auch ganz komisch, nicht so wie
sonst. Mein Vater springt auf und ruft laut:
‘Was?’ Und du sagst noch
einmal: ‘Ich habe ihn
getötet’. Und
lächelst irgendwie, und dann werden deine Augen
weiß, und du bist zusammengeklappt. Und im Saal brach
der große Tumult aus. Die einen konnten es nicht
fassen und sagten gar nichts, und die anderen schrieen alle
durcheinander. Und wer am lautesten geschrieen hat, war dein
Onkel.«
»Und dann?« fragte ich, ganz vorsichtig.
Mir war schlecht. Ich konnte mein Herz nicht mehr schlagen
fühlen.
Vaenris zuckte die Schultern. »Dann hat mein er mich
rausgeschmissen. Und alle anderen Gäste. Ich habe
draußen vor der Tür gewartet, aber dann
kam der Gesandte und sagte, alle sollten gehen, die Burg verlassen,
Zeremonie vorbei. Ich weiß zwar nicht, wie der mich
aus der Burg schmeißen will, immerhin wohne ich hier,
aber ich wollte den Ärger nicht noch anstacheln -
habe nur gefragt, ob ich dich sehen kann und was los ist, er wollte
mir nicht antworten. Da habe ich eine Runde über den
Hof gedreht, und als ich wiederkam, stand nur noch mein Vater in
der Halle. Du kannst mir glauben, ich habe ihn noch nie so
blaß gesehen.«
»Weil er glaubt…«
Ich sprach nicht weiter. Meine Kehle war wie
zugeschnürt. Mir tat Sybald leid - es gab so vieles,
was mich in dem Moment mehr hätte
bedrücken müssen, aber mir tat Sybald
leid, fast noch mehr als ich selbst. Wenn Sybald dachte,
daß ich Jarvis umgebracht hatte - dann lag seine ganze
Welt in Scherben, alles, woran er jemals geglaubt hatte. Alle
Tugenden. Die Häuser Alamar und Fadar. Meine
Zukunft. Die Wahrheit. Alles.
Am liebsten wollte ich zu ihm. Ihn trösten. Ihm
sagen, daß alles nicht stimmte, daß ich
nicht wußte, was geschehen war, daß
Jarvis lebte. Aber ich brachte es nicht heraus. Ich
fürchtete mich davor, meinem Onkel unter die Augen
zu treten, seine Enttäuschung zu sehen, selbst wenn
sie auf einer Lüge basierte. Niemals im Leben wollte
ich Sybald enttäuschen. Und Vaenris redete
weiter:
»Ich fragte ihn, wo du bist, und ob ich dich sehen
könnte. Und er sagte: Nein, niemand darf zu dir. Wo du
denn bist, fragte ich noch mal. Und er antwortet: Im
Kerker.«
»Im Kerker«, wiederholte ich. Auch wenn
ich das schon wußte. Es tat weh, daß
ausgerechnet Sybald mich dorthinein gesteckt hatte,
daß er dem Ritual mehr glaubte als mir.
»Er meinte, es ist zu deiner
Sicherheit«, sagte Vaenris, doch sein Tonfall war zu
spöttisch, als daß er das selbst geglaubt
hätte. »Weil die Leute dich am Liebsten
auf der Stelle in Stücke gerissen
hätten. Sagt er. Aber das kann ich mir schlecht
vorstellen. Ihr Ritter seid doch ein sehr gesittetes
Pack.«
»Ich bin kein Ritter«,
flüsterte ich. Vielleicht war dies das Schlimmste,
schlimmer als im Kerker sein, schlimmer als Sybalds Kummer. Es war
nicht nur die Welt meines Onkels in Scherben gegangen. Sondern auch
meine eigene. »Ich bin kein Ritter«,
wiederholte ich. »Und werde auch nie einer
sein.«
Ich hoffte irgendwie, daß Vaenris mir da
widersprechen würde. Oder mich irgendwie
trösten und darauf hinweisen, daß er ja
auch kein Ritter werden konnte. Aber er nickte nur.
»Wohl wahr. Und so wie es aussieht, werden sie dich
hinrichten.« Seine Stimme war ernst, aber
bestimmt.
»Ich kann ihnen alles
erklären«, krächzte ich
und wußte, daß ich genau das nicht
konnte. »Sybald ist der Richter, er kann mich nicht
verurteilen, wo ich unschuldig bin.«
»Sie wollen das sicher nicht.« Vaenris
klopfte mir auf die Schulter und fand das vielleicht aufmunternd.
»Aber nach deinem Geständnis haben sie
keine Wahl mehr. Mörder werden hingerichtet,
fertig.« Er begann zu lächeln.
»Aber du wirst nicht hingerichtet, glaub mir
das.«
Ich wollte es ihm gern glauben. Ich hatte keine Wahl. Ich wollte
nicht hingerichtet werden. Ich wollte leben. Und wenn ich
dafür Jarvis Geheimnis verraten
mußte… Nein, dann nicht.
»Ich sterbe lieber, als daß ich mein
Versprechen breche«, würgte ich hervor.
Es klang großartig ritterlich, aber es
fühlte sich gar nicht so an. Das war beides nicht
das, was ich wollte.
Vaenris hielt mir seine Hand hin. »Byron, ich habe
gesagt, ich bin dein Freund, und andere hast du nicht mehr
außer mir. Vertraust du mir?«
Ich nickte. »Du, und mein Onkel. Ich muß
mit ihm reden. Er wird es verstehen.«
»Er kann es nicht verstehen!«
fuhr Vaenris mich an. »Byron, hör auf, so
dämlich zu sein. Du kannst das nicht
erklären. Niemand wird dir glauben. Du hast noch
eine Chance, eine einzige. Und das ist, zu
fliehen.«
»Ich darf nicht fliehen«, erwiderte ich,
ebenso störrisch wie tonlos. »Wenn ich
fliehe, denken sie erst recht, ich bin schuldig.«
»Byron, das denken sie auch so!« Vaenris
packte mich bei den Schultern und begann mich zu
schütteln. »Du hast die Wahl zwischen
fliehen und sterben, begreif das endlich! Willst du als Dummkopf
sterben?«
»Ich will nicht als Mörder
sterben«, flüsterte ich.
»Dann flieh jetzt. Heute Nacht. Ich helfe dir.
Dafür bin ich doch da.«
Ich schluckte. Ich hatte keine Wahl. »Und
du?« fragte ich. »Du kommst doch mit,
oder?« Mein Herz sank, als Vaenris den Kopf
schüttelte.
»Ich hab es überlegt«,
sagte er. »Ich würde gern, aber ich
kann es nicht.«
»Aber ich brauche deine Hilfe!« sagte
ich kläglich.
»Ich weiß.« Vaenris
seufzte. »Aber meinem alten Herrn schulde ich mehr.
Wie sieht es aus, wenn wir beide verschwinden? Der Neffe ein
Mörder, der Bastard ein Schuft? Das kann ich ihm nicht
antun. Du bist ein dummer Junge und irgendwie selbst schuld. Aber
mein Vater…«
Fahrig nickte ich. »Du hast wohl recht.«
Vielleicht freute es mich ein wenig, daß sich Vaenris
über Sybalds Ehre Gedanken machte. Vielleicht
steckte doch noch ein Ritter in ihm. Dann aber siegte wieder die
Angst. »Aber ohne dich schaffe ich es
nicht!«
Vaenris lachte. »Sicher schaffst du das! Du hast
Marlon Tarell besiegt, du warst bereit, Herzog zu werden - da wirst
du mit einer kleinen Flucht auch noch klarkommen! Ich habe dir
Waffen organisiert und ein Pferd - sieh nur zu, daß du
weit genug von hier wegkommst, und dann bist du in
Sicherheit.«
»Und… und dann?«
fragte ich und fühlte mich wie ein kleines Kind,
ängstlich und hilflos.
Vaenris zuckte die Schultern. »Weiß
nicht, was dann kommt, außer, daß du
lebst. Vielleicht treibst du ja irgendwo deinen Bruder auf? Wenn du
den hier vorführst, kann niemand mehr behaupten, er
wäre tot, geschweige denn, du hättest
ihn umgebracht.«
Ganz vage nickte ich. Wenn ich Jarvis fand…
Vaenris hatte Recht. Es war das einzige, was mir noch blieb. Nicht,
daß ich eine Idee hatte, wie ich das anstellen sollte,
aber vielleicht war es gar nicht so schwer? Vielleicht
würde mich mein Herz direkt zu ihm hintragen, durch
das Band, das niemand zwischen uns zerstören konnte?
Vielleicht erschien es mir nur so schwer, weil ich noch nie nach
ihm gesucht hatte? Ich schluckte und nickte. »Ich
finde ihn«, flüsterte ich.
»Ich werde mich nicht umbringen lassen.«
Ganz tief in meinem Inneren nannte eine Stimme mich
selbstsüchtig - was wurde aus
Jarvis’ Geheimnis, wenn ich ihn vor Sybald
schleifte, oder aus seiner Freiheit? Sollte ich des Mordes
freigesprochen werden und Jarvis dafür als Dieb
eingekerkert? Mußte ich sein Geheimnis nicht mit
meinem Leben verteidigen? Gab es etwas Edleres, als
für den geliebten Bruder zu sterben?
Doch diese Stimme war unsicher und wurde immer leiser. Sie
wußte, daß sie log. Ich wollte nicht
sterben. Nicht einmal für Jarvis. Das machte mich
vielleicht nicht zu einem guten Menschen. Aber es machte mich zu
einem Menschen.
»Was für Waffen?«
hörte ich mich fragen. »Und wo ist das
Pferd?« Es klang so kalt und herzlos - aber ich war
nicht mehr in der Situation, zu jammern und zu winseln und mir leid
zu tun.
Vaenris lachte. »Ja, das ist der Byron, den ich sehen
wollte! Irgendein Schwert, nicht besonderes, ich hab es aus der
Waffenkammer geholt. Nicht dein gutes, falls du das meinst - ich
habe keine Ahnung, wo das nach dem Turnier hingekommen ist. Und
irgendein Schild, ohne Wappen. Du willst nicht, daß
dein Anblick schon von weitem
‘Fadar!’ schreit. Keine
Rüstung - wenn die dir nicht richtig
paßt, ist es schlimmer als ohne. Aber ich denke mal,
das ist besser als nichts.«
Ich nickte. »Danke, das ist… Du
bist eine große Hilfe, danke. Ich hoffe wirklich,
daß du keinen Ärger
bekommst.«
Vaenris grinste breit. »Oh, wenn das rauskommt, rollt
mein Kopf. Aber glaub mir, das kommt nicht raus. Ich
weiß, wie man Sachen auftreibt, ohne aufzufallen. Ist
alles schon beim Pferd. Ich wollte nicht beladen wie ein Maultier
in den Kerker marschieren - sonst wäre das auf jeden
Fall jemandem aufgefallen. Also, kommst du?«
Wieder nickte ich. »Aber - was, wenn mich jemand
sieht?«
Jetzt schnaubte Vaenris. »Ehrlich, Byron, gibt es
irgendwas, worüber du dir mal keine Sorgen machst?
Laß es einfach drauf ankommen! Mehr als hinrichten
wird man dich schon nicht, also mach es doch einfach! Du hast
nichts - nichts - nichts mehr zu verlieren, hörst du?
Wenn man dich sieht, dann renn eben weg. Oder laß das
dein Pferd tun. Aber hör auf zu jammern,
ja?«
Ich biß die Lippen zusammen und war still. Er hatte
so Recht. Je mehr Zeit wir jetzt vertrödelten, desto
eher würde jemand hereinkommen, solange Vaenris noch
hier in meiner Zelle war, und dann war die Gelegenheit vertan.
So schlich ich dann hinter meinem Vetter her, auf Zehenspitzen,
durch den dämmrigen Zellentrakt. Mein Herz
hämmerte noch lauter als mein
Schädel. Hinter jeder dieser Türen
saß jemand - ein Schuft, hätte ich
früher gesagt, ein Mörder, vielleicht
sogar schlimmeres. Aber nun mußte ich mich fragen, wie
viele dieser armen Leute vielleicht unschuldig waren wie
ich… Wie viele von denen, die ihr Leben hier
verbrachten? Wie viele von denen, die mein Onkel hatte hinrichten
lassen? Wie sollte ich noch wissen, was Recht war und was Unrecht?
Ich stolperte und strauchelte über diesen Gedanken,
und Vaenris zischte mich an.
»Paß gefälligst auf! Ich
weiß, daß du längst wieder
nüchtern bist, also mach hier keinen
Krach!«
Ich nickte stumm. Es war so dunkel hier unten -
draußen war es Nacht, aber selbst bei Tage fehlten die
Fenster. Nur durch die vergitterten Fensterchen in den
Zellentüren zu meiner linken fiel ein klein wenig
Mondlicht auf den Gang. Neugierig versuchte ich
hineinzuspähen - diese anderen Gefangenen, die nicht
das Glück hatten, befreit zu werden, taten mir leid.
Ich wollte ihnen Glück wünschen.
Vaenris hätte das nicht verstanden. Er hatte es
eiliger als ich, der das Ende des Ganges fast ebenso
fürchtete wie die Flucht oder auf der anderen Seite
ein Todesurteil - mein Gewissen war es, das mich zu den
vergitterten Türen hinzog, als müsse
ich mich bei jedem einzelnen dieser Männer
persönlich entschuldigen, daß ich fliehen
durfte und sie nicht. Am allerliebsten hätte ich
Vaenris den Schlüssel abgenommen und jede dieser
Zellen aufgesperrt - aber ich schwieg, schlich
vorwärts, und erhaschte nur im
Vorüberhasten den einen oder anderen Blick ins
Innere einer Zelle, auf Männer, die auf ihren
Steinpritschen lagen und schliefen -
bis ich plötzlich stehenblieb wie angewurzelt.
In einer Zelle saß ein Mädchen.
Sie schlief nicht. Sie saß unter dem kleinen Fenster,
dort, wo das Licht auf den Boden traf, als badete sie in einem
Mondstrahl. Ihr Gesicht war das traurigste, das ich jemals gesehen
hatte. Und zugleich das allerschönste. Ihre Augen
trafen meine. Ein Blick wie geschmolzenes Silber. Und er traf mich
direkt ins Herz.
»Was ist?« fragte Vaenris ungeduldig und
versuchte mich vorwärtszuziehen. »Steh
hier nicht rum!«
Ich schüttelte den Kopf. Unschuldig oder schuldig,
ein Mörder oder keiner, in meinem Herzen war ich immer
noch ein Ritter. Und es gab Dinge, die konnte ich nicht zulassen.
Nicht, wenn ich mir noch jemals in die Augen schauen
können wollte. Ich wußte nicht, wer das
Mädchen war, oder warum man sie eingesperrt hatte.
Aber ich wußte, und nicht wovon, sie
würde sterben, wenn sie an diesem Ort bleiben
mußte.
»Gib mir den Schlüssel,
Vaenris«, sagte ich.
Und dann sperrte ich ihre Zelle auf.
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