Imon erwachte von einem Streit,
doch er blieb ruhig liegen und rührte sich nicht. Es war nicht
sein Streit, und überhaupt - er mußte es auskosten,
daß er es bequem und warm hatte und ihm nichts wehtat, wie
ein warmer weicher Nebel, der ihn einhüllte, da mußte er
sich nicht durch einen fremden Streit aufregen lassen. Imon
ließ die Augen geschlossen, bewegte hinter den Lidern die
Augäpfel auf und ab und genoß das Kribbeln in seinem
Kopf, das Rauschen in seinen Ohren. Es gab einen Nachhall der
Farben, aber das war kein Vergleich zu vorher. Da konnte Imon
ebensogut seine Ohren öffnen und hören, was es zu
hören gab. Die Jungen waren viel zu laut, als daß man
sie hätte ignorieren können. Und irgendwie fing es an,
Imon doch zu interessieren.
»Das hier hat doch nichts mehr mit dem zu tun, für was
wir losgeschickt worden sind! Wir sollten Nomi folgen und
aufpassen, was er tut - davon, daß wir ihn entführen
sollten, war nie die Rede, und das aus gutem Grund!«
»Und was haben wir jetzt davon? Wir haben ein Kind am Hals,
das nicht mal weiß, wer es ist!«
»Und wer ist daran schuld? Denkt mal was passiert wäre,
wenn wir ihn da nicht weggeholt hätten!«
»Wir hätten auf jeden Fall noch unsere Ruhe, soviel
steht fest!«
Es waren Stimmen im Dunkel. Imon wußte nicht, wer was sagte,
er wollte nicht nachdenken müssen, welche Stimme nun wem
gehörte - sie waren laut und aufgebracht, das war anders als
so, wie Imon sie kennengelernt hatte. Er versuchte dem Streit zu
folgen, aber es war nicht so einfach wie die Augen verdrehen.
»Wir sind aber nicht für unsere Ruhe unterwegs! Es geht
nicht um uns, es geht -«
»Was willst du sagen - es geht um das Licht? Oder um Nomi?
Oder was?«
»Es geht jedenfalls nicht um uns.«
»Und vor allem geht es nicht nur um Kavi!«
»Jetzt fang nicht schon wieder mit Kavi an, mir reicht der
ganze Ärger auch so!«
»Wer fängt denn immer wieder mit Kavi an? Kavi selbst,
indem er einfach Kavi ist - wenn ihr mich fragt, Nomi ist wirklich
noch das kleinere Problem, das wir hier haben!«
»Paß auf, was du sagst!«
»Wenn wir Kavi einfach so weitermachen lassen, bringt er uns
noch alle um! Er hat sich ja immer was auf sich eingebildet, aber
jetzt geht er wirklich zu weit!«
»Wieso zu weit? Er hat uns heute zweimal den Tag gerettet,
bist du eifersüchtig?«
»Ich bin nicht eifersüchtig! Aber Kavi ist völlig
außer Kontrolle! Der fragt nicht, bevor er was tut, der haut
gleich seine Zauber raus und glaubt, wir sind alle seine
Diener!«
»Ich denke ja, du hast Recht - aber sollten wir nicht besser
warten, bis Kavi wach ist, damit er selbst etwas dazu sagen
kann?«
»Und was soll er sagen? ‘Tut was ich sage, sonst banne
ich euch alle?’ Freuen wir uns lieber, daß wir endlich
mal ein paar Momente ohne ihn haben!«
»Und was kommt als nächstes? Sollen wir ihn am besten
gleich hier liegen lassen, damit das Dunkelvolk ihn auch wirklich
findet?«
»Das sagt doch keiner! Ich weiß doch, ohne Hüter
haben wir hier gar keine Chance. Aber er darf nicht so tun, als ob
nur wir ihn bräuchten und keiner von uns irgendwas zu sagen
hätte. Er kann sich nicht einfach über alles
hinwegsetzen!«
»Können wir aber jetzt endlich zum eigentlichen Problem
zurückkehren? Wir haben wir den Jungen am Hals, und was machen
wir jetzt mit ihm?«
»Das was wir hier machen, hat nichts mit dem zu tun, was wir
gelernt haben - und damit meine ich nicht nur, daß wir Nomi
entführt haben, sondern alles. Wir sitzen hier im Dunkel fest,
wir kennen keinen Weg, kommen nicht vor und nicht zurück, und
wirklich, ich kann hundertmal Kundschafter sein, wenn ich nichts
sehen kann, kann ich nicht kundschaften.«
»Und Adam und Hemon haben das trotzdem gewußt, und sie
haben uns trotzdem losgeschickt.«
»Ja, und warum? Doch nicht, damit wir irgendwie Erfolg
haben, das können die sich an zwei Fingern abzählen. Wenn
ihr mich fragt, ging es nur darum, uns loszusein.«
»Was wird das jetzt, Devi? Hast du Nomis Argwohn geerbt,
jetzt wo er sie selbst nicht mehr brauchen mag? Meint ihr nicht,
das ist etwas zu hart gegen Meister Adam oder Meister
Hemon?«
»Hart? Nach dem, was die hier mit uns gemacht haben? Ihr
müßt euch nur Kavi anschauen, dann wißt ihr, was
ich meine!«
»Und was meinst du? Daß Kavi eine ebensoschlimme Plage
ist wie Nomi, der echte Nomi, meine ich?«
»Nein. Dummköpfe. Schaut doch mal, wie wir hier
unterwegs sind. Wir haben von allem zwei, was wir nur einmal oder
gar nicht brauchen - zwei Schwertkämpfer, nichts für
ungut, Yun, aber ich denke immer noch, einer von uns ist zuviel,
wie haben zwei Wächter, und das, obwohl wir nicht mal wen zum
Bewachen dabei haben sollten, zwei Kundschafter, gut, das macht im
Dunkel vielleicht Sinn - aber wir haben einen, einen einzigen
Hüter. Und jeder weiß, daß ein einzelner
Hüter nichts taugt.«
»Das kannst du nicht sagen! Kavi ist eine Plage, aber er hat
da heute wirklich was geleistet!«
»Weil wir ihn dazu treten mußten! Er schmeißt
seine Zauber, als ob er unendlich viele davon hätte, was er
nicht hat, aber er wollte Nomis Fieber nicht bannen, obwohl
für den wirklich was davon abhing - weil er wußte, was
für ihn selbst davon abhängt, und er hat es mehr
schlecht als Recht zuendegebracht, am Ende kamen kaum noch ganze
Sätze bei ihm raus - das geht so nicht, und jeder weiß
das, Kavi von allen am Besten.«
»Darum sieht man nie irgendwo einen Hüter allein, aber
uns haben sie nur einen mitgegeben, weil niemand damit rechnet,
daß wir auch nur halbsoweit kommen, wie wir jetzt gekommen
sind - die wollen niemanden entbehren, den sie noch brauchen
können. Daß die uns losgeschickt haben, das war nur
Augenwischerei, sonst war das nichts!«
Die Stimmen wurden immer lauter, aber anstatt daß Imon davon
wacher geworden wäre, fiel es ihm immer schwieriger,
konzentriert zuzuhören. Er konnte nicht mal mehr wirklich
sagen, wo welche Stimme aufhörte und die nächste anfing.
Es war ein großer dunkler Brei aus Wörtern. Die Namen
kamen immer wieder vor, die Namen konnte er erkennen, auch wenn
seiner nicht darunter war… Kavi, Kavi, Yun, Nomi, Kavi,
Devi, Kavi, immer wieder Kavi…
Dann irgendwann kam der Moment, an dem es Imon zu anstrengend
wurde zu lauschen, und vor allem zu versuchen, den Worten zu
folgen, und er wieder einschlief.
Als Imon dann wieder aufwachte,
war das nicht sein eigener Verdienst. Aber er war wach und
ausgeschlafen und fühlte sich endlich wieder frisch im Kopf,
als ihn einer der Jungen bei der Schulter rüttelte und ihn
aufweckte.
»Scht, hey du, wachwerden!«
Imon rieb sich über das Gesicht und setzte sich, etwas
zögerlich, auf. Etwas grauste ihm wieder davor, ein Rudel
fremder Gesichter vor sich zu sehen und mit irgendwelchen Dingen
überschwemmt zu werden, die er alle nicht verstand - aber dann
waren es doch nur drei Jungen, die sich in seinem Lichtkreis um ihn
drängten. Vorsichtig sah er sich um und wollte doch nicht
allzu ängstlich oder allzu suchend aussehen.
»Leise, Kavi schläft noch!«
»Und - und die anderen?« fragte Imon vorsichtig.
»Weg«, sagte der Junge, von dem Imon glaubte,
daß er Yun war - zumindest hoffte er das, denn der
große Junge war der einzige, dem er am Vortag wenigstens ein
bißchen vertrauen konnte. »Lange Geschichte.«
Kurz überlegte Imon, ob er von dem belauschten Streit
erzählen sollte, aber das ließ er dann doch lieber, er
wollte nicht, daß sie auch noch auf ihn wütend wurden.
So blickte er die Jungen dann nur fragend an, und weil er
gleichzeitig überlegte, wer die beiden anderen nun waren -
Dhuan? Mußte das eine ausgerechnet der garstige Dhuan sein?
Aber vielleicht war er es ja auch gar nicht! - sah er doch bestimmt
sehr echt aus.
»Nicht deinetwegen«, sagte der vermutliche Dhuan.
»Wegen Kavi?« fragte Imon vorsichtig. So oft wie er
den Namen in der Nacht gehört hatte… Yun nickte.
»Zum Teil - aber auch, weil uns manche Leute einfach
völlig falsche Sachen mit auf den Weg gegeben haben, das war
nicht anständig - aber das muß dich nicht interessieren.
Du kennst ja nicht einmal die Jungen, die jetzt weg sind, aber Kavi
wird es merken, wenn er wieder zu sich kommt - dann soll er ruhig
glauben, daß es nur und allein seinetwegen war, kannst du
das?«
Imon versuchte zu nicken. »Ich habe ja auch… ich habe
ja auch geschlafen, als es passiert ist«, sagte er und
fühlte sich schäbig, daß er sie jetzt schon
anlügen mußte. Er wollte Shen wiederhaben, bei dem er
keine Angst haben mußte, die Wahrheit zu sagen.
Yun seufzte. »Das waren Ganon, Loya und Devi. Und ich
hätt jeden von ihnen gern behalten - jetzt haben wir keine
Kundschafter mehr, gar keinen, weil beide ja immer und unentwegt
alles gemeinsam machen müssen, die Idioten, und
Devi…« Er schüttelte den Kopf. »Nicht
wichtig, du hast sie ja sowieso nicht gekannt.«
»Devi war ein lausiger Schwertkämpfer«, sagte der
dritte Junge, dessen Stimme Imon vage bekannt vorkam, dessen
Gesicht ihm jedoch nichts sagte. »Aber er hatte manchmal
Grips, auf eine bestimmte Art - das fehlt jetzt.«
»Du kennst uns wirklich nicht, oder?« fragte der
Dhuan-Junge. »Ich hab wirklich gedacht, du spielst uns nur
etwas vor und machst dir einen Jux draus, aber das ist echt, du
weißt nicht, wer du bist?«
»Ich weiß, wer ich bin«, versuchte Imon zu
erklären, aber das hatte er schon mehrmals versucht, und
verstehen würden sie es auch nach dreimal mehr nicht, wenn
Imon es selbst nicht verstehen konnte. »Aber euch kenne ich
nicht, also, ich kenne euch jetzt, aber eben, erst
jetzt.«
»Mich kennst du schon«, sagte Yun. »Ich bin Yun.
Ich bin der, den Kavi gestern gebannt hat.« Er
schüttelte sich. »Und wirklich, das war kein
Vergnügen.«
»Und Shen?« brach es aus Imon heraus. »Shen ist
doch auch gebannt worden, was ist mit dem?«
Yun lachte leise. »Kavi hat zwei verschiedene Sorten Zauber,
die guten, und die, die er selbst gemacht hat. Ich habe nur einen
von seinen eigenen bekommen. Als ich mich wieder rühren
konnte, war dein Flötenspieler noch lange nicht wieder bei
sich.«
»Aber warum hast du…«, ‘ihm nicht
geholfen?’ wollte Imon fragen und brach ab, hilflos.
»Bin ich verrückt? Ich konnte gerade noch euer Licht in
der Ferne sehen, da habe ich gemacht, das ich hinterher komme, und
glaub mir, das ist schwer, ganz allein im Dunkeln, ohne Licht und
ohne Kundschafter.«
»Mit dir haben wir jetzt wenigstens Licht«, sagte
Dhuan und grinste. »Also, du bist von jetzt an zwei
Kundschafter, glaubst du, das schaffst du?«
Imon schüttelte den Kopf. »Bist du Dhuan?« fragte
er vorsichtig und fühlte sich wieder sehr dumm.
Dhuan lachte. »Und ob ich der bin! Ich war früher mal
der beste Freund von Nomi, wer weiß, vielleicht willst du ja
jetzt mein Freund werden?«
Imon schüttelte den Kopf. »Ich will nichts von Nomi
hören!« rief er und wollte sich auf die Lippen
beißen, daß er den Namen jetzt doch ausgesprochen hatte
- wollte er den Anderen nicht immer nur den Anderen nennen? Ihm
einen Namen zu geben, was kam als nächstes - den Körper?
»Ich bin nicht er, und er soll auch nie wieder ich werden,
ich will ich bleiben!« Er wußte, daß sie ihn
nicht verstanden. Shen, der hätte ihn jetzt verstanden, aber
Shen wußte auch mehr, als er ihm erzählt hatte, und
jetzt konnte er es nicht mehr…
»Hm? Was ist los? Was brüllt ihr hier rum?« Diese
Stimme hätte Imon inzwischen unter tausenden herausgekannt,
auch wenn sie langsam und verschlafen klang. Das war Kavi, der
irgendwo links von ihm gerade wach wurde.
Dhuan verdrehte die Augen. »Da, das haben wir jetzt davon,
nun ist er auch wach.«
»Ja, dachtest du vielleicht, wir lassen ihn hier liegen und
gehen ohne ihn weiter?« fragte Yun mit schiefgelegtem Kopf
und lachte, daß man seine Zähne sah - wenn er sprach,
bekam er den Mund kaum auseinander, aber dafür ging er jetzt
um so breiter auf. Imon merkte sich das - aber er wußte
nicht, wie häufig Yun überhaupt lachte, er hatte eine
ernste Stimme, und niemand hier lachte auf diese Weise wie Shen, so
leise und freundlich.
»Wartet!« rief Imon schnell, bevor sie sich um Kavi
kümmerten und ihn wieder allein ließen. »Wenn die
anderen gegangen sind«, fragte er so leise er konnte,
»warum seid ihr dann hier geblieben, bei mir?«
Yun schüttelte den Kopf, als Dhuan nur kicherte, und der
andere Junge blickte Yun fragend an, so daß er dann auch
derjenige war, der als erstes antwortete. »Wegen Kavi«,
sagte er, sehr ernst und sehr leise. »Weil Vali und ich das
nicht machen können, dich einfach mit ihm alleine zu lassen.
Das ist zu gefährlich.«
»Das ist was?« fragte Kavi und krabbelte zu ihnen in
den Lichtschein. »He, das gefällt mir, die Augen
aufmachen und es ist hell! Hätt ja nicht gedacht, daß
dein Schatten mal zu etwas Nutze ist, warum leuchtet der sonst
nicht? Nein, sag nichts - dann würde man ihn ja gar nicht
sehen können!« Es schien ihm nichts zu bedeuten,
daß dort eigentlich gerade eine andere Unterhaltung lief.
Aber Vali - jetzt hatte er endlich, oder endlich wieder, einen
Namen - beugte sich zu Imon und sagte ihm sehr leise ins Ohr:
»Wir werden auf dich aufpassen, versprochen.«
Imon konnte ihn nur wortlos anblicken. Das, was er eigentlich
sagen wollte, durfte er nicht: Daß auch Shen auf ihn hatte
aufpassen wollen - und dann doch so wenig Erfolg damit hatte,
daß Imon erst in den Sumpf fiel und dann entführt wurde.
Wer sollte als nächstes kommen? Imon nickte. »Und
ich?« fragte er dann. »Soll ich dafür auf euch
aufpassen?«
»Reicht schon, wenn du uns was von deinem Licht
gibst«, antwortete Dhuan an Valis Stelle. »Damit kannst
du mehr als jeder andere von uns, vor allem mehr als Kavi, und das
ist soviel wert!« Dann winkte er Imon dicht an sich heran.
Imon zögerte, er rechnete mit dem Schlimmsten - Dhuan sollte
nicht glauben, daß Imon sein gemeines Verhalten schon wieder
vergessen hatte, nur weil er jetzt nicht mehr darauf einging - aber
seine Neugier überwog, als Dhuan leise fragte: »Willst
du nicht wissen, warum ich auch noch dabei bin?«
Imon nickte wortlos und ließ es zu, daß Dhuan so nah
an ihn herankam, daß seine Lippen fast Imons Ohr
berührten und sein Atem zischte. Und dann lachte Dhuan,
daß Imon erschrocken seinen Kopf wegriß - es
dröhnte in seinen Ohren und tat weh, und Imon ärgerte
sich, daß er wieder auf Dhuan reingefallen war.
»Ich habe eine Rechnung offen«, sagte Dhuan.
»Aber nicht mit dir, Imon, keine Sorge, also muß es
dich nicht interessieren.« Er klopfte Imon auf die Schultern.
»Also, kümmer dich nicht groß um die anderen. Kavi
will Ruhm, Yun will Ehre, und Vali will das, was Yun will, weil er
mit den dreien, die abgehauen sind, nicht viel anfangen kann - aber
ich will dein Freund werden, merk dir das.«
Imon schaffte es zu lächeln. Er war nicht so klein und
verzweifelt, daß er sich solche Reden widerspruchslos
anhören mußte. »Dafür warst du gestern aber
ziemlich gemein«, sagte er.
Dhuan zuckte die Schultern. »Wen interessiert gestern?
Gestern ist zuviel passiert, was wir heute nicht wiederholen
müssen - oder willst du nochmal in den Sumpf
fallen?«
»Nein«, sagte Imon. »Aber -«
Dhuan ließ ihn nicht weiterreden. »Siehst du. Und
heute ist auch dieser seltsame Kerl nicht mehr dabei, wir
müssen uns keine Sorgen mehr machen, und wer weiß -
vielleicht kommen wir heute sogar aus dem Dunkel raus.«
Imon antwortete nicht. Raus aus dem Dunkel… Er wußte,
daß er das nicht konnte, und nicht durfte. Aber das Licht war
fern, Imon konnte es spüren. Es gab kein Licht hier,
außer an Imon selbst.
Sie brachen auf, nachdem sie
etwas gegessen hatten. Imon konnte ihnen nicht sagen, was das
für ein Gefühl war - etwas essen. Bestimmt war es nicht
das erste Mal in Imons Leben, daß er aß, aber es war
doch so neu und fremd, essen, kauen, schlucken, Imon wollte gar
nicht mehr damit aufhören: So fühlte es sich an zu leben.
Ein Mensch zu sein. Das erste Essen, der erste Traum - Imon
wußte nicht, wer er war oder woran er war. Aber er
genoß es.
»Licht nochmal, wieviel willst du denn noch essen?«
fragte Kavi entgeistert. »Das muß noch für uns
alle langen!« Einen Moment lang fürchtete Imon, Kavi
wolle ihm die Schüssel mit kaltem Brei wegnehmen, und
ließ schnell schuldbewußt den Löffel sinken.
»Es tut mir leid - ich wollte euch nicht…«
»Laß ihn!« sagte Dhuan laut. »Iß
soviel du willst, Imon.« Das waren also seine Versuche, sich
zu einem Freund zu machen. »Kavi hat gut reden, wenn du
nochmal umkippst, weil du nichts im Magen hast, ist er nicht
derjenige, der dich dann schleppen muß.«
Wieder nickte Imon, wieder schämte er sich. Weil er nichts
gegessen hatte… Dieses seltsame Gefühl, die Welt, die
sich ihm entgegendrehte, kurz bevor er in den Sumpf fiel… Am
Ende war alles nur Imons Schuld, weil er nicht wußte,
daß er essen mußte. Was wußte er überhaupt?
Gar nichts. Und ohne Shen sogar weniger als nichts.
»Jetzt iß schon.« Dhuan stieß ihn an.
»Komm, glaub doch nicht immer, daß ich dir böses
will. Ich foppe dich doch nur.«
Imon wußte nicht, was er antworten sollte, und daß die
anderen Jungen lachten, machte es nicht besser - er fühlte
sich fremd zwischen ihnen, und umso fremder, je mehr sie
untereinander zu verbinden schien. Ob diese vier einander mochten
oder nicht, sie gehörten zusammen, und Imon gehört nicht
zu ihnen, und sie wußten es alle. In ihrer gemeinsamen Welt
kam Imon nicht vor, was immer sie ihm oder sich jetzt auch einreden
mochten.
»Was ist eigentlich mit Devi und den anderen?« fragte
Kavi mit schiefgelegtem Kopf.
»Warum fragst du?« Yuns Stimme war schroff.
»Ganz einfach.« Kavi ignorierte die Unfreundlichkeit,
mit der ihm die anderen begegneten, so ungerührt, als ob er
sie gar nicht wahrnahm. Imon hätte sich irgendwo verkriechen
mögen, wenn sie mit ihm auch so umgegangen wären - dann
doch lieber diese seltsame Freundlichkeit. »Wenn sie unseren
Proviant mitgenommen haben, kriegen wir ein Problem. Wenn nicht,
kriegen sie eins.« Aber es war auch keine Besorgnis bei ihm
zu hören. Imon wußte, daß er diesen Jungen nicht
verstand, geschweige denn mochte - es war Kavi, der Shen gebannt
hatte, ohne Kavi wäre Imon jetzt in Sicherheit und nicht hier,
und er konnte sich nur wünschen, daß Shen ihnen folgen
konnte und sie bald, bald, bald einholte… Es war nur ein
kleiner Trost, daß die anderen drei Kavi ebensowenig
mochten.
»Wenn das deine einzige Sorge ist«, sagte Yun.
»Natürlich haben sie sich etwas zu Essen
mitgenommen.«
»Unterschätz das nicht!« schnaubte Kavi
triumphierend. »Es ist nicht meine Schuld, wenn ihr zu dumm
seid, um weiterzudenken als bis zur nächsten Kurve. Die drei
sind abgehauen, haben uns hier im Dunkel und im Stich gelassen, und
damit haben sie kein Anrecht mehr auf irgendwas von unserem
Proviant. Der ist für uns, die wir Nomi verfolgen. Imon
beschützen. Was auch immer.«
»Und darum sollen die drei von dir aus verhungern?«
fragte Dhuan mit unverholener Feindseligkeit.
»Glaubst du vielleicht, die halten lang genug durch um zu
verhungern?« Kavi schüttelte den Kopf. »Was meinst
du, was für ein Land das hier ist? Wenn ihr hier unterwegs
wärt, ohne Hüter, wißt ihr, wie schnell das Dunkel
euch erledigt hätte?«
»Auch nicht schneller als so«, antwortete Yun.
»Wenn wir einen richtigen Hüter dabei
hätten, vielleicht. Aber du bist nur ein kleiner Lehrling. Und
du hast es geschafft, die Hälfte deiner Zauber für nichts
wegzuschmeißen.«
»Als ob ich nur die Zauber hätte!« Jetzt wurde
auch Kavis Stimme zornig und dabei schriller. Imon rutsche ein
Stückweit nach hinten weg, um nicht direkt zwischen den
Streitenden zu sitzen. »Wenn ich Imon hier nicht gestern
gerettet hätte…« Und mit diesen Worten packte er
Imon bei der Schulter und zog ihn zurück in die Mitte.
»Los, sag es ihnen! Du lägst immer noch im Fieber, wenn
ich nicht wäre!«
»Ich weiß nicht«, sagte Imon. Das schien ihm in
dem Fall am Sichersten. Er wollte Kavi nicht Recht geben, er wollte
nicht gezwungen werden, aus Dankbarkeit jetzt Kavis Seite einnehmen
zu müssen, er wollte gar keine Seite, er wollte nur weg. Je
mehr die anderen stritten, desto unsicherer fühlte er sich
selbst.
»Du weißt es nicht!« wiederholte Kavi.
»Natürlich, das Fieber, ich verstehe schon, du hast
gestern nicht viel mitbekommen und so.« Aber Imon entging
nicht, daß Kavi dabei die Augen verdrehte und etwas anderes
meinte, als er sagte. »Aber das beweist doch schon alles,
oder?«
Danach hatte keiner mehr Lust, noch etwas zu sagen. Und auch Imon
brachte nichts mehr hinunter, die Freude am Essen war ihm
vergangen. Sie packten ihre Sachen zusammen, ohne noch viel zu
reden, auch nicht darüber, wo sie denn nun hingehen
wollten.
»Hier, das sind deine Sachen.« Vali durchbrach das
Schweigen und deutete auf einen unförmigen Haufen am Boden.
»Sie sind völlig noch durchweicht, aber wir sollten sie
mitnehmen, oder?«
»Meine Sachen?« Imon fühlte sich schrecklich
dumm. Waren das jetzt seine Sachen, oder doch nur die des anderen?
»Ja, ich nehme sie mit«, sagte er dann. Wenn es nicht
seine Kleider waren, stand es ihm auch nicht zu, sie jetzt einfach
zurückzulassen. »Aber was ist das hier…?«
Er blickte an sich hinunter. Diese Kleider hatte er noch nie
gesehen. Sie fühlten sich trocken und sauber an, und
fremd.
»Die sind von mir«, sagte Dhuan vergnügt.
»Wir haben dich gestern umgezogen, als du geschlafen hast -
nichts für ungut, aber du konntest dieses nasse Zeug ja nicht
einfach anbehalten, und ich weiß ja, daß wir
ungefähr gleich groß sind…«
Aber Imon hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sollte er reden
oder nicht reden, es war gleich. Imon wollte nicht noch eine lange
Diskussion, die wieder in einem Streit enden konnte. Er wollte nur,
daß sie endlich aufbrachen. Irgendwohin, tiefer ins Dunkel,
dorthin, wo sie Shen wiedertreffen konnten.
Aber es war nicht Shen, der im Dunkel auf sie wartete.
Imon wußte nicht, welchen
Weg sie da nahmen oder wohin er sie führen konnte, und er
spürte, daß die anderen noch weniger wußten als er
- warum sonst sahen sie dauernd zu ihm hin, versuchten immer, ihn
vorgehen zu lassen? Es machte ihm Angst - als er noch mit Shen
unterwegs war, hatte Shen ihn geführt, und es war gut. Aber
jetzt?
»Geh einfach«, sagte Kavi. »Kümmer dich
nicht um uns. Du kennst den Weg. Du weißt es nur
nicht.«
»Wie kommt ihr darauf?« fragte Imon. Er hielt seinen
Stab mit beiden Händen fest, es war gut, ihn noch zu haben -
es fühlte sich an, als ob der das einzige war, das noch
stimmte, das noch zu Imon gehörte, jetzt wo er fremde Kleider
trug barfuß über den rauhen Boden gehen
müßte. Seine Schuhe waren im Sumpf geblieben.
»Denk nicht nach. Geh einfach so, wie du gehen würdest.
Das kann doch nicht so schwer sein!«
Imon verstand nicht. Er wollte nicht verstehen. Er wollte keine
Erklärungen, in denen wieder Nomi vorkam, was würde Nomi
tun, was hatte er getan, was hätte er getan? Imon war nicht
Nomi. Er kannte keinen Weg. Er wußte nicht einmal, wo der Weg
hinführen sollte. Aber wenn sie das so wollten, daß es
irgendwo hin ging, und wenn es in die Irre war oder zurück in
den Sumpf - es konnte Imon egal sein. Er hatte niemanden, kein
Zuhause und kein Ziel. Er wollte sich nur bewegen können, und
das tat er. Er ging einfach geradeaus. Die anderen Jungen folgten
ihm.
»Das ist wahnsinnig, nicht wahr?« fragte Kavi. Er
versuchte immer wieder, Gespräche anzufangen, aber niemand
mochte darauf eingehen. »Wie schnell wir mit dem Licht
vorankommen! Wenn ich das vergleiche mit den letzten Tagen - Ganon
und Loya konnten wirklich nichts, wenn gestern nicht der
Glücksfall mit dem Sumpf gewesen wäre, wir hätten
Nomi doch verloren und im Leben nicht
wiedergefunden…«
Aber er blieb der einzige, der redete. Imon versuchte, noch einen
Schritt schneller zu gehen und die anderen hinter sich
abzuhängen, er ließ sein Licht nach vorne zeigen,
daß hinter ihm Dunkel war - so fühlte er sich sicherer,
er konnte sehen, wo er hintrat, auch wenn das Licht nicht weit
reichte. Was dahinter lag - er konnte es nicht sagen. Er konnte es
nicht sehen oder hören, es war zu laut, solange Kavi redete,
und selbst wenn nicht, waren ihre Schritte immer noch lauter als
alles Dunkel der Welt.
Imon hielt seinen Stab fester und machte längere Schritte.
Etwas machte ihm Angst, er konnte nicht sagen, wovor. Der Boden
unter seinen Sohlen war rauh und kühl, mit schartigen Steinen
und einem schmierigen Film, der an den Sumpf erinnerte und auf dem
man ausrutschen konnte, auch wenn ein Sturz hier folgenloser blieb
als auf den schmalen Sumpfpfaden. Imon fehlten seine Schuhe, aber
er wollte keinen der Jungen fragen, ob der ihm seine geben
würde - wenn Imon nicht selbst auf seine Sachen aufpassen
konnte, war er selbst schuld. Trotzdem, so unangenehm es auch war -
Imon fühlte, daß er sich um ganz andere Sachen sorgen
sollte als um seine schmerzenden und kalten Füße.
Imon fror. Er blieb stehen und versuchte zu lauschen. Im Dunkel
war etwas… Jemand… Imon konnte es nicht sehen und
nicht hören. Aber er wußte es. Er fühlte es bis in
die Spitzen seiner Finger, Zehen, Haare. Gefahr.
»Was ist?« fragte Vali an seiner Seite. »Stimmt
etwas nicht?« Er war von allen Jungen am dichtesten hinter
Imon, doch dies war das erste Mal, daß er etwas sagte.
Imon zuckte zusammen. »Nein«, antwortete er ohne
nachzudenken, und dann schüttelte er den Kopf und sagte es
doch: »Ich glaube, da ist -«
Dann war ein Zischen, ein Sirren in der Luft.
»Runter!« brüllte Vali. »Alle runter!
Sha-ura!« Er warf sich mit seinem ganzen Körper auf Imon
und riß ihn zu Boden. Im gleichen Moment fauchte er durch die
Zähne. »Verdammt!«
Imon rollte sich unter ihm heraus. Er hörte sein Herz
hämmern vor Angst, aber sein Körper handelte ganz von
selbst, griff im Aufstehen nach dem Stab - was auch immer da
draußen war, die Jungen waren bereit sich zu verteidigen, und
Imon war es auch.
»Imon, bleib unten, verdammt!« rief Vali. »Sie
haben… Pfeile.«
Mit zusammengekniffenen Augen, den Stab vor sich wie eine Waffe,
drehte Imon sich langsam um. Er suchte die Ränder des Lichts
ab - dort, wo es ausfranste und sich mit dem Dunkel vermengte. Er
konnte eine Gruppe von dunklen Gestalten dort ausmachen,
bedrohliche große Gestalten, Seite an Seite, daß einer
in den anderen überging und man nicht sagen konnte, ob es nun
fünf waren oder sechs oder sieben - aber sie bewegten sich,
langsam, sicher. Imon starrte sie an. Und sie starrten zurück.
Imon wußte, daß er derjenige war, den sie beobachteten.
Sie waren auf der Jagd. Er wußte nicht, warum. Aber sie
jagten ihn.
Hinter ihm war ein Klirren, ein Windstoß, ein Aufschrei.
»Vali, Dhuan, schützt Nomi!« rief Yun und
schoß an Imon vorbei, mit gezogenem Schwert, auf die Fremden
zu. Nur einen Schritt hinter ihm stürmte Kavi. Er trug kein
Schwert. Aber vielleicht brauchte er auch keines.
Imon wollte hinterher. Wenn Yun angriff und Kavi angriff, dann war
selbst angreifen das Beste, was er tun konnte - besser als
wegrennen, wenn er nicht wußte wohin und die Jäger ihn
früher oder später einholten. Imon wußte nicht,
warum oder für wen er kämpfen sollte - für sein
Leben? Um sein Leben? - aber er mußte es… Gegen
die Angst. Wenn er die Wahl hatte zwischen Angreifen und
Angsthaben, mußte er angreifen.
Dann gellte ein Schrei durch das Dunkel, heiser, hoch, hohl; Angst war darin und Tod, wie jemand schreit, der im Leben nichts anderes mehr tun kann als schreien und dann gar nicht mehr. Jemand, der kein Mensch war. Imon konnte sich kein Geschöpf vorstellen, von dem ein solcher Laut kommen sollte, und war froh darum - aber der Schrei sollte ihn verfolgen, er verharrte im Rand von Imons Ohr, lange nachdem er verklungen war. Imon zitterte, und das war alle Regung, die noch in ihm war. Er konnte nicht einmal die Augen schließen.
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