Es war fast wie früher -
wenn auch nur fast. Die Jungen saßen im Hof hinter Adams
Schule, tranken Kaxia und entspannten sich, so wie sie es gerne
taten, wenn sie nach der Schule noch etwas Zeit hatten. Meister
Adam hatte sie früh verlassen an diesem Tag, hatte noch andere
Dinge zu tun - seinen Schülern sollte das recht sein. Es waren
Momente wie diese, wo sie einfach nur eine Gruppe von Freunden sein
konnten, nicht ein Rudel von wilden Tieren, in dem keiner ein Ziel
kannte als besser zu sein als die anderen. Es war einer von den
Tagen, an dem Devi freiwillig ein paar freundliche Worte mit Yun
wechselte und Nomi besseres zu tun hatte, als mit seinem Lehrer zu
streiten - wie auch, wenn der nicht da war.
Sie saßen mit überkreuzten Beinen im Kreis, zwischen
sich den Krug mit dem Kaxia, und ließen es sich gut gehen.
Nur eines war anders als früher: Sie waren nur zu sechst.
Dhuan fehlte, aber falls das noch jemandem außer Nomi etwas
bedeutete, so sagte doch keiner etwas dazu. Und auch Nomi
verbrachte nur wenig Zeit damit, den alten Freund zu vermissen.
Dhuan hatte es verdient, in Vergessenheit zu geraten. Wie auch die
meisten anderen Leute, die Nomi umgaben… Und Kavi war nicht
da. Und wurde, anders als Dhuan, bitter vermißt - jedoch
nicht wegen seiner Qualitäten als Freund und
Mitschüler.
»Ist doch schade, daß Kavi nicht da ist«, sagte
Ganon und blickte bedauernd über die Runde.
»Also, mir fehlt er nicht«, entgegnete Loya - und es
war selten genug, daß er seinem Freund einmal widersprach,
zumindest wenn andere Leute dabeiwaren.
Ganon lachte. »Ach, Kavi fehlt mir doch auch nicht! Aber er
hat früher immer was von dem Rauch mitgebracht, das war doch
immer schön…« Er lehnte sich zurück,
streckte sich, und lachte laut.
Nomi hob nur eine Augenbraue. Eigentlich waren sie doch für
solchen Kinderkram viel zu alt. »Wer braucht Rauch, wenn er
Kaxia haben kann?« Er hob seine Schale und verneigte sich
leicht vor Yun, der als der größte von ihnen derjenige
war, dem sie diese Wohltat verdankten. Yun sah so ernst und streng
aus, daß niemand auf die Idee kam, ihn für zu jung zu
halten. Und Kaxia war Nomi tausendmal lieber als Bannrauch, es
berauschte vergleichsweise wenig und machte nicht so dusselig, und
vor allem war es erfrischend. Genau das brauchte man doch nach ein
paar anstrengenden Übungsstunden. Und es tröstete auch
darüber hinweg, daß Nomi mit dem Holzschwert jeden
einzelnen Übungskampf gegen Yun verloren hatte. Morgen konnte
ihm dann ruhig jeder Knochen schmerzen - morgen war noch weit.
»Was ist denn eigentlich mit Kavi?« frage Yun dann.
»Ist er sich zu gut für uns, oder warum läßt
er sich kaum noch bei uns blicken?«
Loya zuckte die Schultern. »Ganz ehrlich - was soll Adam ihm
denn noch beibringen? Drüben in der Halle haben die vielleicht
noch etwas für ihn zu tun.«
»Und sowieso«, übernahm Ganon den Faden für
ihn, »muß er sich doch am allerwenigsten von uns allen
Sorgen machen?«
Einen Moment lang hing betretenes Schweigen in der Luft. Es war
eine stille Übereinkunft zwischen Nomis Freunden, daß
sie nicht offen über ihren Konkurrenzkampf sprachen - Kavi war
der einzige, der es wagte, das Kind beim Namen zu nennen, und wo
Kavi nicht da war, sollten sie sich doch eigentlich freuen.
Zumindest Nomi freute sich. Nach dem, was in der Halle der Wirker
geschehen war an dem Tag, als der Flötenspieler ankam, machte
er, wenn möglich, einen Bogen um den Akoluten.
»Kavi ist ein Dummkopf«, sagte Devi abrupt.
Yun lachte. »Ich verstehe wohl, daß du neidisch
bist!«
»Nein, im Ernst«, erwiderte Devi und verzog das
Gesicht. »Ich meine, Kavi geht davon aus, daß ihm sein
Platz an Nomis Seite nicht mehr zu nehmen ist, weil er unter uns
eben der einzige Wirker ist. Merkt er das denn nicht?«
»Merkt was?« fragte Yun zurück.
Devi lachte. »Wer hat jemals irgendwo einen einzelnen Wirker
gesehen? Die gibt es immer nur als Paar, oder noch mehr von der
Sorte.«
Nomi nickte Devi anerkennend zu. Das war ihm selbst noch nicht
aufgefallen und daher eine Leistung, die er jemandem wie Devi
sicher nicht zugetraut hätte. Auch die anderen fielen in Devis
Lachen ein, bis auf Yun, natürlich.
»Also heißt das, Kavi hat sich völlig umsonst
gefreut?« fragte Ganon nach. »Entweder zwei Wirker oder
gar keiner?«
Aber Devi schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke schon,
daß er wirklich am Ende dabeisein wird - aber nicht als Kavi,
der große Wirker mit den mächtigen Zaubern, sondern als
Kavi, der kleine Akolut, der seinem Meister treu zur Hand
geht.« Er fand das ziemlich witzig, aber ab der Stelle
hörten die meisten anderen doch mit dem Lachen auf.
»Du meinst - wir bekommen irgend so einen alten Wirker mit
auf den Weg? Wir können das nicht allein machen?« Selbst
Vali, der sonst die Zähne kaum auseinander bekam, bevor der
Kaxia ihm die Zunge lockerte, war richtig außer sich.
»Wollen die uns denn für dumm verkaufen?«
Und in diese Stimmung hinein sagte Nomi: »Ja.«
Es war eigentlich das erste, was Nomi an diesem Nachmittag sagte.
Er ließ lieber die anderen reden, nicht weil er maulfaul und
ein bißchen langsam war wie Vali, sondern weil er keine Lust
hatte, sie ausgerechnet jetzt zu belügen. Er verbrauchte die
letzten Tage und Wochen über damit, ihnen einen guten Freund
vorzuspielen, so wie sie ihm vielleicht seit Jahren das gleiche
vormachten, aber an einem Tag wie diesem, wo sie wirklich nur
Freunde sein wollten, fühlte er sich falsch. Er wollte
eigentlich nichts sagen, aber jetzt platzte es einfach aus ihm
heraus. »Ja.«
Alle starten ihn an. Plötzlich war alle Bewegung eingefroren,
als hätte Nomi einen Papierzauber in ihre Mitte geschleudert.
Dann fragte Yun tonlos und vorsichtig: »Was ist? Was
weißt du?«
Nomi hing in der Luft. Jetzt konnte er ihnen entweder alles sagen
oder komplett zurückrudern, oder ihnen irgend eine Lüge
auftischen. Er schluckte, und dann sagte er: »Ich habe in der
letzten Zeit so ein paar Sachen erfahren - da ist soviel, das nicht
stimmt und das wir glauben sollen.«
Die anderen Jungen rückten näher um ihn zusammen.
»Was ist? Was ist los? Wer macht das?«
Nomi atmete tief durch. Er leerte seine Schale und ließ sie
sich von Yun noch einmal füllen, ehe er antwortete:
»Meister Hemon und die Wirker - die spielen ihr ganz eigenes
Spiel.« Er trank noch einen Schluck. »Was würdet
ihr sagen, wenn ich überhaupt nicht der Auserwählte
wäre?«
Kopfschütteln. »Red keinen Unsinn, Nomi«, sagte
Loya. »Wer soll es denn sonst sein?«
»Und was sollst du denn sonst sein?« setzte Ganon
hinterher. »Du hast einen Schatten. Kein anderer hat einen.
Also, wenn nicht du -«
Nomi wußte, daß er zuviel verraten hatte, und
haßte sich dafür. Er war zu weit gegangen, fast so weit,
daß er gefragt hätte ‘Wenn nicht, wärt ihr
dann immer noch meine Freunde’ Er wußte doch, zu was
das führte! Er hatte Dhuan auf die Weise verloren, jetzt
wollte er nicht auch noch alle anderen verlieren. Selbst wenn sie
falsche oder schlechte Freunde waren - das war immer noch besser
als gar keine. Wenn sie jetzt auch nur anfingen, an ihm zu
zweifeln… »Nicht so wichtig«, sagte er schnell.
»Ihr habt ja recht. Aber ich habe ein paar Sachen erfahren,
über Hemon - ich zweifle im Moment an allem.«
Die Lage war gerettet. Die anderen lachten wieder. »Na, das
ist zumindest nichts Neues«, sagte Yun. »Das ist der
Grund, warum du auch beim Kämpfen nie einen Fuß auf den
Boden bekommst. Du stehst dir immer nur selbst im Weg, du willst
alles kurz und klein denken - bis du damit fertig bist, bist du
tot.«
Nomi nickte schnell und dankbar. Er war gerade dabei, Yun zu
seinem neuen Freund zu machen - er hielt es für
wahrscheinlicher, daß Yun und nicht Devi sein
Schwertkämpfer werden sollte, und nach dem Verlust Dhuans
wollte er einen neuen besten Freund-Ersatz haben. Yun sprang gerne
darauf an, heilfroh, daß Nomi ihn vor seinem Rivalen
bevorzugte - und war daher auch gerne bereit, Nomi etwas an seinem
Wissen und Können teilhaben zu lassen. Die Holzschwerter lagen
immer noch irgendwo hinter ihnen. Sie wollten noch etwas weiter
trainieren, wenn der Kaxia alle war und sich die muntere Runde
auflöste. Yun war im Moment auch wohl der einzige, der sich
traute, Nomi zu widersprechen oder einen Versager zu nennen. Und er
hatte sicher Recht, in jedem einzelnen Punkt.
Leider ließ es Yun nicht dabei bewenden. Ob es an dem
schaumigen grünen Gebräu lag oder ob die Aufmerksamkeit,
die Nomi ihm jetzt angedeihen ließ, ihn übermütig
machte - er redete weiter: »Denn wenn du nicht der
Auserwählte wärst, hättest du hier in der Schule
nichts verloren.« Nomi verschluckte sich fast und hoffte
danach, daß jedes Wort Yuns letztes sein würde, aber den
Gefallen tat der ihm nicht. »Du kannst ja nichts - du bist
wohl halbwegs schlau, aber nicht so, daß es für einen
Wirker reichen würde, kämpfen kannst du nicht mit und
nicht ohne Waffen - gut, du hast den Schatten, aber was kann der
schon? Du bist der Auserwählte, oder du bist nichts. Also mach
dir bloß keinen Kopf, daß du es nicht sein
könntest.«
Dann lachte Yun. Was noch schlimmer war - alle lachten. Es war ein
anderes Lachen als vorher. Diesmal lachten sie Nomi aus.
»Komm, jetzt sei nicht so hart mit ihm«, sagte zwar
Ganon noch, doch das klang nicht halb so überzeugend wie das
Lachen der anderen.
»Wieso, wenn er doch Recht hat?« fragte einer der
anderen. Nomi achtete nicht mehr darauf, wer es war. Er hatte genug
gehört. Sicher hatte Yun Recht. Sie hatten alle Recht, und
nicht nur, weil Meister Adam Nomi nicht genug lernen ließ. Er
konnte einfach nicht genug. Aber gerade weil sie Recht hatten, tat
es weh. Nomi schüttelte den Kopf, trank seinen Kaxia aus und
stand auf.
»Ich gehe jetzt. Ich sehe schon, ihr kommt ohne mich besser
zurecht. Überhaupt, was habe ich hier verloren?«
Er sah, wie die anderen Jungen ihre Augen verdrehten. Es sah ihnen
ähnlich, und auch, daß sie Sachen sagten wie »Oh
nein, jetzt geht das schon wieder los!« Aber er hatte keine
Lust mehr auf sie, und er wußte auch nicht mehr, was er mit
ihnen reden sollte. Er hatte ohnehin schon zuviel gesagt. Sollten
sie ruhig über ihn lachen, wenn er weg war.
Nomi drehte sich um und ging.
Nomi fühlte sich seltsam,
als er auf die Straße trat. Wie betrunken, aber nicht
berauscht - gab es das überhaupt? Es fühlte sich nicht
gut an. Es war nichts halbes und nichts ganzes - genau wie Nomi. Er
lachte bitter. Das kam davon, wenn man sich jahrelang darauf
ausruhte, der Auserwählte zu sein und sowieso etwas
Besonderes: Irgendwann waren alle anderen etwas Besonderes, und er
selbst war nichts mehr. Und mußte sich das auch noch ins
Gesicht sagen lassen.
Nomi merkte, daß er wieder in der Stimmung war, auf den Turm
zu steigen. Wenn er hinunterspringen konnte ohne zu sterben, dann
war er wirklich etwas besonderes. Dann konnte er etwas, das niemand
außer ihm konnte.
Nomi wollte nicht in Wirklichkeit auf den Turm steigen, und erst
recht wollte er nicht in Wirklichkeit hinunterspringen, aber es war
niemand da, um ihn aufzuhalten. Wenn er heute seinen Schatten
über die Stadt warf, mußten sie alle Jungen aus der
Schule werfen, nicht nur einen… Nomi lachte bei der
Vorstellung und fühlte sich doch immer noch nicht berauscht.
Aber dann fühlte er einen Blick auf sich und fuhr herum.
Dort, neben dem Brunnen, saß der Flötenspieler.
Nomi zögerte, bevor er zu ihm ging. Er hatte nie gefragt, was
an jenem Tag noch zwischen Meister Hemon und Shen abgelaufen war,
es reichte ihm, daß beide die Hallen lebendig verlassen
hatten. Aber Nomis Drohung konnte er nicht mehr ungesprochen
machen, und in diesem Moment machte ihm der Anblick mehr Angst, als
daß er ihn freute. Also war der Flötenspieler in der
Stadt geblieben. Wo lebte er? Wovon lebte er? Und durfte er
überhaupt hier sein? Nomi blickte sich nach den Seiten um, und
erst als er keinen anderen Menschen sehen konnte, ging er mit
Knien, die plötzlich wackelten, zu dem Mann hinüber.
»Es tut mir leid«, sagte er statt einer
Begrüßung - er wollte immer noch vermeiden, den
erfolterten Namen zu benutzen, aber ihn mit ‘Fremder’
oder ‘Flötenspieler’ anzureden, erschien ihm
genauso falsch. »Ich habe Euch in Schwierigkeiten
gebracht.«
Shen schüttelte den Kopf. »Ich habe nur gesehen, wie du
dich selbst in Schwierigkeiten gebracht hast. Aber ich ahne, das
ist es, was du meinst?«
Nomi widersprach ihm nicht und erklärte sich nicht. Er ahnte
die Argumente schon - hätte Shen nicht freiwillig, alle Folgen
bereits erahnend, den Hut vor Kavi abgenommen, wäre all der
Ärger nicht passiert. Er zuckte nur die Schultern. Und in dem
Moment begriff er, daß er doch etwas konnte, etwas
besonderes. Shen trug seinen Hut auch jetzt. Und auch jetzt konnte
Nomi ihn sehen. Ein Glucksen stieg in ihm auf, und mit dem kam
diese leichte Rauschgefühl, das Nomi die ganze Zeit
vermißt hatte. Es war gut. Das Lachen brach aus ihm heraus,
und er konnte sich nur noch schnell zu dem Mann auf den Boden
hocken, bevor er das Gleichgewicht verloren hätte. »Tut
mir leid«, sagte er nochmal schnell, als er wieder atmen
konnte.
»Entschuldige dich nicht«, antwortete Shen.
»Entschuldige dich nie. Es gibt keine
Entschuldigung.«
Nomi nickte. »Es gibt nur gute und schlechte Entscheidungen,
ich weiß.« Er wußte nicht, woher, aber es
würde wohl stimmen. Und er mochte Entschuldigungen sowieso
nicht. »Aber - kann ich hier bei Euch sitzen bleiben? Ich
meine - ohne Euch wieder in Gefahr zu bringen?«
Der Flötenspieler wandte ihm den Kopf zu. Zumindest sein
Gesicht zeigte keine Zeichen mehr von dem, was die Wirker mit ihm
angerichtet hatten. »Warum fragst du?«
Dieser Mann konnte einem das Sprechen wirklich abgewöhnen!
Nomi hatte keine Lust, jetzt jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.
»Ich würde einfach gerne noch mal mit Euch reden«,
sagte er. Und fühlte sich, er wußte selbst nicht warum,
genötigt, hinzuzufügen: »Ich bin gerade betrunken,
müßt Ihr wissen.« Und weil das nicht richtig
stimmte und er es nicht so stehen lassen konnte: »Also, nicht
sehr - nur ein bißchen.«
Shen lächelte ein wenig, als er fragte: »Und du
erwartest, daß ich etwas dagegen unternehme?«
»Ich möchte einfach nur jemanden zum Reden«,
sagte Nomi leise und schämte sich plötzlich
fürchterlich. »Ich habe sonst keinen
dafür.«
»Und du hältst mich für einen guten Redner?«
fragte Shen. »Oder glaubst du nur, daß ich dich nicht
davon abhalten werde?«
An einem anderen Tag hätten solche Wortspielchen Nomi
vielleicht sogar Spaß gemacht, aber heute war kein anderer
Tag. Er schüttelte nur den Kopf. »Laßt mich
einfach nur einen Moment hier sitzen. Ich sag auch gar nicht
mehr.« Er hätte weniger von dem Kaxia trinken sollen,
oder nicht so schnell - jetzt wußte er nicht mehr, wo er
anfangen sollte. Und was er überhaupt wollte. »Warum
seid Ihr überhaupt noch hier? Und wie lange wollt Ihr
bleiben?« Jeder normale Mann hätte es doch nach der
Behandlung eilig gehabt, wieder aus Tolai zu verschwinden!
»Willst du, daß ich wieder gehe?« fragte Shen
zurück, eine Antwort war hier also auch nicht zu erwarten.
»Nein, natürlich nicht!« beeilte sich Nomi zu
sagen. »Ich habe mir nur Sorgen um Euch gemacht!« Ein
wenig war er fast ärgerlich, daß Shen ihm nicht mal ein
Bißchen für den Beistand im Verhör dankte, für
den Ärger, den Nomi seinetwegen auf sich genommen hatte - aber
für einen, für den es keine Entschuldigungen gab, gab es
vielleicht auch keinen Dank. So war Shen nun einmal. Alles geschah
auf eigene Verantwortung, und auf eigenes Risiko. Nomi
schüttelte den Kopf. »Warum kann ich Euch sehen?«
fragte er dann abrupt. »Ich meine, wenn niemand anderes es
kann?«
Shen lachte leise. »Vielleicht, weil es mir nichts ausmacht,
von dir gesehen zu werden?«
Aber Nomi wollte kein Vielleicht. Er wollte Antworten.
»Vielleicht wißt Ihr es ja auch gar nicht«, sagte
er listig. »Aber es ist im Moment das einzige, was ich kann,
und darum - tue ich es, weil ich es kann, oder weil Ihr es
wollt?« Es klang sehr konfus. Nomi hoffte, daß der Mann
ihn trotzdem verstand.
»Ich werde dir das nicht beantworten«, entgegnete
Shen. »Wenn du keine Fragen mehr hast, wirst du stumpf. Du
wirst es eines Tages selbst herausfinden, vielleicht. Wenn du an
den richtigen Stellen suchst.«
Nomi nickte halbherzig. Eine Antwort, eine richtige
Antwort, wäre ihm doch lieber gewesen. »Es hat keinen
Sinn, wenn ich Fragen stelle«, murmelte er. »Ich
bekomme entweder keine Antworten, oder man erzählt mir
Lügen.« Warum versuchte er es dann doch immer und immer
wieder?
»Ich werde dich auch nicht trösten«, sagte Shen.
»Ja, ich weiß, wer du bist. Ich weiß es schon,
seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Aber ich werde mich aus
all deinen Angelegenheiten heraushalten.« Er klang sehr
ernst, als er das sagte. Nomi schluckte. Ob die Wirker ihm dieses
Versprechen abgerungen hatten? Und wie hoch war der Preis
dafür?
»Dann seid Ihr der einzige«, antwortete Nomi.
»Alle anderen tun so, als ob ich ihnen gehöre - jeder
will etwas von mir, und gleichzeitig traut mir niemand etwas zu.
Meine Freunde - die besseren von ihnen verachten mich nur, und die
schlechteren hassen mich. Sie sind nur dabei, weil sie Helden
werden wollen.« Nomi versuchte nicht mehr, Ordnung in seine
Worte zu bringen. Sie wollten hinaus, und Nomi ließ sie.
»Sie wollen Helden werden, und ich kann nicht mal das.«
Er fühlte den fragenden Blick des Flötenspielers auf sich
liegen und erklärte schnell: »Ein Held ist jemand, der
im entscheidenden Moment über sich hinauswächst und es
allen zeigt, aber ich - selbst wenn ich das allerbeste gebe, was
ich habe, kann ich doch höchstens die Erwartung der Leute
erfüllen. Und am Ende schaffe ich nicht mal das.« Nomi
seufzte. »Ihr vergeßt am besten ganz schnell, daß
ich Euch das erzählt hat. Ich bin betrunken, sonst würde
ich das alles nicht sagen.«
Shen schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, lachte auch nicht,
und natürlich machte er Nomi keine Versprechungen. Er griff
nur neben sich und holte seine Flöte hervor. Einen Moment lang
hoffte Nomi, daß der Mann nun etwas darauf spielen würde
- er wollte so gerne wissen, wie eine Flöte von dieser
monströsen Größe klingen sollte - doch statt dessen
hielt Shen sie Nomi nur hin. Nicht zum Nehmen - aber zum
Anschauen.
»Also haben die Wirker sie Euch wiedergegeben!« sagte
Nomi erleichtert. Das war etwas, das ihm Sorgen bereitet hatte:
Aber sie sah noch aus wie zuvor, dunkles Holz mit einem
geschnitzten Muster, das Nomi nicht genau betrachten wollte - er
hatte sich einmal mit seinen Augen in einem Bannzeichen verlaufen,
das Kavi auf einen Papierstreifen malte: Seitdem wußte Nomi,
was er sich besser nicht genauer ansehen sollte. Kein Muster war so
unschuldig, wie es schien. »Was haben sie damit
getan?«
»Sie haben den Geist, der darin war, gebannt«,
antwortete Shen ruhig.
»Das tut -« ‘mir leid’, wollte Nomi schon
sagen, aber dann wußte er es besser. Wenn die Wirker diese
Flöte kaputtgebannt hätten, säße Shen hier
nicht so gelassen herum - er wäre am Boden zerstört.
»Aber es war kein Geist darin, nicht wahr?« sagte Nomi
statt dessen.
Shen schmunzelte. »Es braucht keinen Geist, um eine
Flöte klingen zu lassen«, sagte er. »Das habe ich
versucht, ihnen zu erklären. Aber sie waren nicht zufrieden,
als bis sie die Flöte viele lange Stunden lang untersucht
haben, mit Zeichen und Formeln.«
»Besser die Flöte als Euch.« Dumme,
unüberlegte Worte. Sie hatten mit dem Flötenspieler genug
getan. Trotzdem - keine Entschuldigung. Nomi sprach einfach weiter.
»Aber warum zeigt Ihr sie mir? Wollt Ihr, daß
ich… Darf ich sie berühren?«
Shen schüttelte den Kopf. »Es ist meine Flöte.
Niemand spielt auf ihr außer mir. Ich möchte sie dir nur
zeigen. Weißt du, was das ist?«
»Eure Flöte«, antwortete Nomi. »Ich habe
Euch noch nie darauf spielen gehört, aber ich weiß,
daß sie für Euch das wichtigste auf der Welt ist.«
Er hoffte, daß es so war.
Shen lächelte und hielt die Flöte immer noch fest in
beiden Händen, als hätte er Angst, sie noch einmal zu
verlieren. »Sie ist ein Instrument«, sagte er.
»Sonst nichts. Nur wenn ich darauf spiele, dann wird mein
Atem zu ihrem Geist, und sie gehorcht mir und folgt meinem
Willen.«
Nomi nickte. Er wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Er
kannte sich nicht mit Flöten aus und wußte nicht,
wieviel dazugehörte, auf einer zu spielen. Oder auf irgend
einem anderen Instrument.
»Und jetzt entscheide du, was du sein willst«, sagte
Shen mit sanfter Stimme. »Die Flöte, oder der
Flötenspieler?«
Auf diese Frage mußte Nomi nicht antworten. Sie war selbst
eine Antwort, die beste, die er von diesem Mann erwarten konnte.
Alles, was er dazu noch sagen konnte, war: »Danke.«
Dann stand Nomi auf. Er hatte lange genug gesessen, um sich nicht
mehr schwindelig zu fühlen. Es war an der Zeit, nach Hause zu
gehen. Nomi hatte genug zum Nachdenken, um sich nochmal für
drei Tage einzuschließen. »Ich gehe jetzt heim«,
sagte er. »Bitte, bleibt in dieser Stadt. Ich möchte
gern nochmal mit Euch reden können, wenn… ich nicht
betrunken bin, und wenn ich weiß, was ich will.«
»Das kann und werde ich dir nicht versprechen«,
antwortete Shen.
»Ich weiß«, sagte Nomi. »Trotzdem:
Bitte.« Und dann ging er nach Hause.
Nomi brauchte keine drei Tage,
um sich zu entscheiden. Eigentlich brauchte er nicht einmal einen
halben, oder auch nur eine Stunde. Die Tage brauchte er nur, um zu
überlegen, wie er es den anderen letztlich mitteilen sollte,
und um sich ein Herz zu fassen. Seinen Eltern sagte er nichts. Auch
nicht seinem Lehrer, seinen Mitschülern, oder Meister Hemon.
Sie alle würden es noch früh genug erfahren. Statt dessen
zog Nomi sich seine besten Sachen an - zumindest seine Mutter
nannte sie so, Nomi selbst war es egal, hauptsache, sie waren
sauber - und machte sich auf den Weg zur höchsten Instanz, die
er hier in der Stadt erreichen konnte: Er ging zum Than von
Tolai.
Sein Herz hüpfte mehr vor Vorfreude denn vor Aufregung, als
Nomi durch die Straßen hin zum Herz der Stadt wanderte. Ein
Tag, der all seine Probleme lösen sollte, und das auf einen
Schlag. Ein Tag, an dem Nomi sein eigenes Leben selbst in die Hand
nehmen sollte.
Das Herz der Stadt war ein Bezirk, den niemand betreten durfte,
außer den Leuten des Than natürlich und denjenigen, die
eine Audienz bei ihm hatte. Nomi wußte das, und ging
trotzdem. Er wußte auch, daß dort Wachen standen, die
große Waffen bei sich führten, und daß er nicht
einmal einen Dolch hatte. Auch das sollte ihn nicht mehr
erschrecken. Er trat einfach vor sie hin, ruhig und aufrecht, und
sagte: »Das Licht mit Euch. Geht und sagt dem Than, daß
ich ihn zu spreche wünsche.«
Sie brauchten einen Moment. Wache wurde, wer einen
Großspieß halten konnte und vermutlich auch damit
umgehen - andere Voraussetzungen gab es offensichtlich nicht. Doch,
eine übergroße Portion Humor schienen die Männer
auch zu besitzen. Sie wagten es nämlich zu lachen. Nomi
würde noch dafür sorgen, daß sie dafür
Ärger bekamen. »Und wer bist du, Junge, daß du das
wünschst?« Oh, sie fanden es sehr witzig!
Nomi dagegen verzog keine Miene. »Ich bin Nomi«, sagte
er. »Falls ihr meinen Namen nicht kennen solltet - ich bin
derjenige, der die Aufgabe hat, den immerwährenden Krieg
zwischen dem Licht und dem Dunkel zu beenden. Der Than kennt meinen
Namen. Und er wird interessiert sein, daß ich ihn sprechen
will.« Wenn Nomi in den vergangenen Jahren eines gelernt
hatte, dann, seine Autorität als Auserwählter spielen zu
lassen. In Sachen gepflegter Überheblichkeit konnte ihm so
schnell keiner das Wasser reichen. Und wer es schaffte, jemanden
wie Meister Hemon zu bedrohen - erfolgreich! - der kam damit auch
an den Wachen des Thans vorbei.
»Nomi, natürlich!« sagte der vordere Wachmann.
»Der mit den weißen Haaren - das hätte ich mir
natürlich denken müssen, bitte um
Entschuldigung.«
»Keine Ursache«, entgegnete Nomi. »Solange ihr
mich jetzt zum Than vorlaßt, werde ich Euch die
Nachlässigkeit nachsehen. Letzlich tut auch Ihr nur Eure
Arbeit, um diese Stadt zu beschützen.« Und weil das zu
freundlich klang, setzte er hinterher: »Aber nicht vor mir -
also beeilt Euch jetzt gefälligst.« Zumindest konnte er
sicher sein, daß ihn niemand vermissen würde, wenn er
denn fort war.
»Wir können dich nicht einfach durchlassen«,
sagte der Mann. »Auch wenn du es bist - der Than entscheidet
selbst, wenn er empfängt und wen nicht. Und…« -
hier zögerte der Mann - »man hört so’n paar
Geschichten über dich.«
»Mir ist egal, was man sich über mich
erzählt«, erwiderte Nomi kühl. »Und wenn Ihr
nicht gleich Bekanntschaft mit meinem Schatten machen wollt und
mich zu Dingen zwingen, die Euch hinterher leid tun würden,
dann bringt Ihr mich jetzt zu ihm.«
Nomi lächelte hinter dem Rücken des Wachmannes, als der
ihn durch das Gebäude führte. Manchmal war sein Leben
doch deutlich angenehmer als das der anderen!
Nur der arme Wachmann war alles andere als glücklich, er
schwitzte und schnaufte. »Hier ist der Sekretär des
Thans«, sagte er und nickte der massiven Holztür zu, vor
der er stehengeblieben war. »Weiter kann ich dich nicht
bringen, geht nicht.«
»Danke, das hilft mir schon sehr«, entgegnete Nomi und
bemühte sich, nicht zu zufrieden zu klingen. Der Sekretär
war sein Ziel, von Anfang an - der Than kam erst danach. Aber wenn
Nomi direkt gesagt hätte ‘Ich will den Sekretär des
Thans sprechen’, dann wäre er bei irgend einem
stellvertretenden Stellvertreter gelandet - warum also, wenn er das
auch einfacher haben konnte? »Ihr dürft Euch jetzt
entfernen«, sagte Nomi, und klopfte an. Dann, ohne
unnötig abzuwarten, trat er ein.
Er hatte selten einen Mann so schnell von seinem Schreibkissen
hochschießen sehen, wie es der Sekretär in diesem Moment
tat. Und das Entsetzen in dessen Augen hätte mehr Sinn
gemacht, wenn Nomi mit drohend erhobenem Schwert vor ihm gestanden
hätte. Davon, daß dieser Mann gerade einem unbewaffneten
Halbwüchsigen gegenüberstand, war nicht viel zu merken.
Nomi lächelte und verneigte sich.
»Ich sehe, Ihr wißt, wer ich bin«, sagte er
leise. »Und wenn nicht - ich bin Nomi, und ich bin gekommen,
um mit dem Than zu sprechen. Aber vorher habe ich eine Aufgabe
für euch.« Er bedeutete dem fassungslosen Mann,
daß der sich wieder setzen sollte, und nahm selbst Platz. Der
Boden sollte sauber sein - hoffentlich war es auch wirklich, denn
Nomis beste Kleider waren weiß und sollten es noch sein, wenn
er endlich vor dem Than stand. »Bitte entschudigt die
Unannehmlichkeiten, die ich Euch bereite. Dafür sollt Ihr auch
der erste sein, der es erfährt. Ich habe etwas wichtiges zu
verkünden.« So zu reden machte Spaß, aber der
strenge Blick war auf die Dauer anstrengend. Nomi hoffte, daß
jetzt alles nach Plan lief und er es schnell hinter sich hatte.
Der Sekretär war ein junger Mann, und er starrte Nomi an wie
den größten Schrecken seines Lebens. Vielleicht war er
das tatsächlich - wenn er nicht miterlebt hatte oder sich
nicht erinnern, wie damals die Sha-ura über Tolai
hereinbrachen, war er bestimmt einer der glücklichsten
Menschen der Stadt. Und konnte es auch sein, wenn er seine Tage
hier verbringen durfte - das Herz der Stadt war der sicherste Ort,
den man sich nur vorstellen konnte. Und wäre bestimmt auch der
beste Ort gewesen, um den neugeborenen Nomi und seine Familie vor
den Schwarzen Jägern zu schützen. Aber diese Sicherheit
gehörte dann doch nur dem Than allein und vielleicht noch
seinen Dienern… Nomi schluckte den Zorn hinunter. Er konnte
sich nicht erinnern, dem Than jemals begegnet zu sein, aber er
wußte jetzt schon, daß er ihn nicht leiden konnte. Aber
wie auch immer, dieser arme Mann hier konnte nichts dafür.
»Aber du bist… aber du kannst…«,
stammelte der Sekretär. Er mochte gut mit Worten sein, wenn es
ums Schreiben ging, aber beim Reden war offensichtlich Nomi
besser.
»Beruhigt Euch!« sagte Nomi. Das war ein Befehl. Es
half ihm wirklich nicht, wenn dieser Mann vor ihm zitterte.
»Die Wachen haben mich hereingelassen, und der Than wird
interessiert sein, was ich zu sagen habe - er ist der wichtigste
Mann dieser Stadt, darum soll er es als Erster erfahren und nicht
als letzter. Ich werde weder Euch, noch sonst irgend jemandem in
dieser Stätte oder dieser Stadt etwas tun, das verspreche ich
Euch. Tut nur jetzt, was ich Euch sage, und Ihr seid der Rettung
des Lichts einen Schritt näher gekommen.« Vor diesem
jämmerlichen Mann mochte Nomi noch nicht einmal daran
denken, sich für die andere Seite zu entscheiden. Er
wollte nicht daran Schuld sein, wenn dieses schreckhafte
Geschöpf tot umfiel. Gnade das Licht ihm, daß er nie den
Wirkern in die Hände geriet! Aber dann wieder mußte man
den sicher nicht einmal foltern…
»Was - was willst du von mir?« fragte der
Sekretär, immer noch mit zitternder Stimme.
»Erst einmal sagt mir Euren Namen«, sagte Nomi so
freundlich er konnte.
»Kaito«, erwiderte der Schreiber.
»Gut, Kaito-to. Nehmt jetzt Papier. Setzt eine Depesche an
den Than auf, daß ich hier bin und er mich in seinem
Audienzsaal empfangen soll. Dann schickt Boten zu den Personen, die
ich Euch gleich nennen werde, damit auch Sie hören
können, was ich mitzuteilen habe. Was ich zu sagen habe, ist
von äußerster Wichtigkeit, darum habe ich auch diesen
wichtigen Ort dafür ausgewählt.« Hastig nahm der
Sekretär seinen Schreibpinsel zur Hand. Nomi nickte.
»Gut. Informiert folgende Personen: Meister Hemon und Meister
Andor, anzutreffen in der Halle der Wirker. Meister Adam,
anzutreffen in seiner Schule. Ferner die Schüler des Meister
Adam - Kavi Maron-o, Yun Laion-o, Devi Kamu-o, Ganon Toma-o, Loya
Sami-o und Vali Anka-o. Zu guter Letzt meine Eltern, Dai-to und
Lumi-mu.«
Der Sekretär blickte auf. Seine Angst schien verflogen, als
er fragte: »Auch deine… Eltern?«
Nomi blickte ihn abschätzig an. Das Zögern mußte
nicht bedeuten, daß er wußte, daß es nicht Nomis
richtige Eltern waren. Es war mehr so ein ‘Willst du mich
etwa foppen?’-Zögern. Mit großem Ernst nickte
Nomi. »Ja, auch die.« Er hätte ihnen selbst
Bescheid sagen können, bevor er ging. Aber dann hätten
sie ihn nicht ernst genommen, versucht, ihm das ganze Unterfangen
wieder auszureden, und alles daran getan, ihm die
Selbständigkeit zu nehmen - nicht auszudenken, wenn Nomi in
Begleitung seiner Eltern vor den Torwachen aufgetaucht wäre!
Niemand nahm einen Jungen ernst, dessen Mutter direkt hinter ihm
stand. »Ich danke Euch für Eure Arbeit«, sagte er
dann. »Ich werde hier warten, bis Ihr fertig seid und der
Bote seine Arbeit verrichtet hat.«
In Wirklichkeit war er nicht mehr halb so selbstsicher, wie er
sich gab. In Wirklichkeit war es die dümmste aller Ideen, alle
Leute hier zu versammeln, statt in Ruhe mit jedem einzelnen zu
Reden. Das einzig gute war, daß er so nur einmal riskieren
mußte, sich umstimmen zu lassen. Dafür aber von so viel
mehr Leuten - nein, egal wie er es drehte und wendete, es blieb
eine wirklich schlechte Idee.
»Ach, eine Sache noch«, sagte Nomi. Der Sekretär
blickte auf, und jetzt war der ängstliche Gesichtsausdruck
endgültig der Wut gewichen, die der Mann nicht aussprechen
durfte. »Ich weiß nicht, wo in dieser Stadt sich Shen
der Flötenspieler aufhält - aber wenn Euer Bote seiner
habhaft werden kann, wäre ich froh, wenn auch er eine
Einladung erhielte.«
Kaito legte den Pinsel beiseite. »Lieber Junge«, sagte
er. »Die ersten Namen, die du genannt hast, sind die von
geschätzten Bürgern unserer Stadt beziehungsweise deren
Söhne. Sie sind Personen, die in diesen Mauern durchaus
willkommen sind, und darum folge ich deiner Bitte, auch wenn ich
nicht weiß, wo sie mich hinbringen wird. Aber was diese
letzte Person angeht - mir ist zwar zu Ohren gekommen, daß es
einen Fremden dieses Namens gibt, der sich innerhalb der Befriedung
Tolais aufhält. Aber er ist hier nicht willkommen, weder in
der Stadt, noch in diesen Mauern.«
Nomi nahm alles zurück, was er über die Redekünste
des Sekretärs gesagt oder gedacht hatte. Er konnte also auch
sprechen. Nur überrumpeln durfte man ihn nicht, und mam
mußte ihm Zeit geben, seine Sätze vorzubereiten.
»Wie Ihr meint«, sagte er leise. »Dann nur die
anderen.« Shen sollte noch früh genug von Nomis
Entscheidung erfahren. Auch wenn er ihm doch vielleicht besser
vorher Bescheid gesagt hätte. »Und dem Than
natürlich als allererstes«, sagte er noch. Aber er war
sicher, daß dies der Sekretär auch ohne ihn gewußt
hätte.
»So«, sagte der
Than. »Du bist also Nomi?« Nomi nickte und verbeugte
sich, auch wenn er das sicher tiefer gekonnt hätte, und fragte
sich, ob er umgekehrt fragen konnte ‘So? Du bist also der
Than?’ »Du bist groß geworden, seit ich dich das
letzte Mal gesehen hatte.«
An dieses letzte Mal konnte sich Nomi nicht erinnern. Es
mußte wirklich lange zurückliegen, und dann hatte der
Mann ohne Zweifel Recht. Er war so alt, daß man ihm nicht
mehr widersprechen mochte - er mußte in einem Alter wie
Meister Hemon sein, jemand, der seine beste Zeit schon hinter sich
hatte, aber er hatte sich besser gehalten als der alte Wirker.
Weniger Rauch und weniger Barfußlaufen machten dann schon
einen Unterschied… Aber auch das sagte Nomi nicht. Er nickte
nur.
»Es freut mich, daß du zu mir kommst«, sagte der
Than. Und log dabei ganz offensichtlich. »Trotzdem muß
ich dich bitten, beim nächsten Mal das Protokoll einzuhalten.
Ich allein spreche Einladungen aus.«
»Es wird kein nächstes Mal geben«, antwortete
Nomi. »Wenn ich diese Mauern verlasse, werdet Ihr wieder der
mächtigste und wichtigste Mann von Tolai sein.« Er
durfte keinen Zweifel aufkommen lassen, daß es im Moment
nicht so war - sofern Nomi es wagte, sich schon als Mann zu
bezeichnen, hieß das. »Aber ich habe Wichtiges zu
verkünden, und das will ich hier tun, nicht im unbedeutenden
Haus meiner Eltern oder in der zu voreingenommenen Halle der
Wirker.« Er senkte den Blick. »Da ich jahrelang
vergeblich gewartet habe, von Euch eingeladen zu werden, habe ich
es nun in die eigene Hand genommen.« Nomi biß die
Lippen zusammen. »Ich rechne Euch das hoch an«, sagte
er leise. »Ich halte Euch für einen ehrlichen Mann, der
sich nicht in die Lügen verstricken wollte, wie es der Rest
der Stadt getan hat.« Das war die eine Möglichkeit, die
freundliche. Die andere, die Nomi für wahrscheinlicher hielt,
war Neid.
Der Than ging darauf nicht ein. »Deine Erziehung lag nicht
in meinen Händen, das ist alles«, sagte er langsam.
»Deine Eltern genießen mein vollstes Vertrauen, deinen
Lehrer habe ich selbst ausgewählt - aber es ist nicht an mir,
mich in die Wege der Prophezeiung einzumischen.« Es war etwas
in seiner Stimme, das Nomi hellhörig machte - eine gewisse
Abscheu, als er auf die Prophezeiung zu sprechen kam.
Nomi blickte auf und lächelte. »Ihr habt Euch gefreut,
daß der Auserwählte geboren wurde«, flüsterte
er. »Aber nicht, daß er es ausgerechnet in Eurer Stadt
tun mußte. Ihr saht nicht die Ehre, die ich Euch bringe -
sondern die Gefahr.«
Der Than zwinkerte. Schwieg, und zwinkerte noch einmal. Wie viele
Menschen waren noch ums Leben gekommen, als die Sha-ura auf der
Suche nach Nomi die Stadt überfielen? Nur Nomis Eltern? Das
mochte man nicht glauben. Aber der Than wußte es. Und sagte
schließlich: »Ich höre, daß die
anderen… Gäste inzwischen eingetroffen sind. Ich bin
bereit für den Empfang. Aber ich werde dir das Wort
überlassen.«
Nomi nickte. Er mußte zugeben, daß ihm der Than
deutlich besser gefiel als erwartet. Vielleicht tat er ihm Unrecht,
als er dem Mann nur Neid unterstellte. Er war der Than. Nomi mochte
nicht mit ihm tauschen. Außer in diesem Moment. Da hätte
er am liebsten mit jedem getauscht, der nicht er war. Sein Herz
hämmerte, als Diener die Doppelflügeltür des
Audienzsaals öffneten und seine herbei zitierten Gäste
tatsächlich dort standen - und keiner von ihnen auch nur ein
Bißchen nach Vorfreude aussah. Er atmete tief durch und
versuchte sich an einem selbstsicheren Lächeln.
Als erstes kamen seine Eltern - das verwunderte Nomi fast, er
hatte nicht wirklich damit gerechnet, daß sie erscheinen
würden. Aber da waren sie, sein Vater mit vor Wut
gerötetem Gesicht; bei Nomis Mutter war das schwer zu sagen
hinter ihrem Shalar - doch was von ihren Augen zu sehen war,
paßte zu den Augen ihres Mannes. Aber sie sagte
natürlich nichts, sondern überließ das Sprechen
Nomis Vater. Und der war dann auch laut für zwei.
»Nomi! Was hat das zu bedeuten? Was soll diese
Posse?«
»Keine Posse, Tan«, sagte Nomi - kurz stand er davor,
diesen Mann statt dessen mit seinem Namen anzureden, aber er konnte
es nicht - er dachte von ihnen immer noch als seinen Eltern, trotz
allem was geschehen war und was er in Erfahrung gebracht hatte.
»Bitte nehmt Platz.«
Aber da war sein Vater auch schon bei ihm und packte ihn beim Arm.
»Nichts werden wir tun, Nomi! Du kommst jetzt mit uns,
sofort, bevor du noch mehr Schande über uns bringst!« Er
nickte den anderen Leuten, die sich am Eingang drängten und
sich vielleicht nicht hinein wagten, um diese familiäre Szene
nicht zu stören, mit unterwürfiger Verlegenheit zu.
»Ich bitte dies zu entschuldigen - unser Junge weiß
nicht, was er tut.«
»Ich bin nicht euer Junge«, sagte Nomi schneidend,
»und ich weiß, was ich tue - und ihr setzt euch jetzt
hin, denn die einzigen, denen ihr im Moment Schande macht, seid ihr
selbst.« Und um diese Worte Hohn zu strafen, verneigte sich
Nomi dann vor seinen Eltern, ganz wie es sich gebührte.
Sein Vater zögerte noch immer, und sein Griff um Nomis Arm
war so kräftig, daß es fast weh tat.
»Laß mich los und setz dich hin!« zischte Nomi
so leise, daß es sonst niemand hören konnte. »Oder
ich werde dir zeigen, wie sich Schande wirklich
anfühlt.«
Mit einem ausgesprochen bösen Blick ließ sein Vater ihn
los und trat zusammen mit seiner reglos verschleierten Frau zur
Seite - und Nomi war zuversichtlich, daß sich die beiden dann
auch wirklich bald hinsetzen würden. Und wenn er hinterher
nach Hause kam, sollte es Ärger geben, großen Ärger
- die Frage war nur, für wen.
Die nächsten, die hereinkam, waren dann die Wirker, ganz in
weiß und barfuß, wie es sich gehörte. Auch Kavi
trat zusammen mit ihnen ein, mit einem Schritt respektvollem
Abstand hinter den Meistern, wie es sich gehörte, aber doch
demonstrativ nicht zusammen mit seinen Mitschülern und dem
Lehrer. Er hatte sich auch die Zeit genommen, seine hellgrauen
Akolutenroben anzulegen - Nomi mochte nicht glauben, daß der
Junge den ganzen Tag so herumlief. Sonst schimpfte er nämlich
gern über die Roben und wie schwer und warm sie doch
waren…
»Ich nehme an, das ist kein Scherz?« fragte Meister
Hemon, und nickte und lächelte dabei vor sich hin.
»Denn wenn dies wieder eines von deinen üblichen
Kinkerlitzchen ist«, setzte Meister Andor hinzu, »wirst
du noch bereuen, unsere Zeit vergeudet zu haben.«
Nomi lächelte zurück und erfreute sich daran, daß
Kavi nichts sagen durfte - das war der Preis, als Akolut zu kommen
und nicht als Mitschüler. »Das ist ganz einfach«,
sagte er leise. »Wenn ich nicht sage, was Euch gefällt,
könnt Ihr mich ja immer noch zwingen…« Er bleckte
kurz die Zähne. »Schade nur, daß hier kein Salz
liegt, nicht wahr, Andor?«
Die Wirker zogen es daraufhin vor, sich ohne weitere Worte zu
ihren Sitzplätzen zu begeben. Kavi konnte nur noch einmal den
Kopf schütteln und Nomi fragend anblicken. Nomi machte eine
beschwichtigende Geste. Der Junge sollte sich nur genügen. Er
sollte heute noch auf seine Kosten kommen.
Meister Adam dagegen wußte, was sich für einen guten
Lehrer gehörte: Er erkannte seine Rolle als einfacher Diener
vor dieser Gesellschaft an, verneigte sich vor Eltern und Wirkern
und scheuchte dann seine Schüler mit strenger Miene und der
stummen Ermahnung, nur ja still zu bleiben, auf ihre Plätze.
Es fehlte eigentlich nur Dhuan, aber den hatte Nomi mit Absicht
nicht eingeladen. Dhuan hätte seine Freude daran gehabt,
zuzusehen, wie die anderen gedemütigt wurden. Und diese Freude
wollte Nomi ihm nicht machen.
»Ich freue mich, daß ihr alle meiner Einladung gefolgt
seid«, sagte er und schluckte, weil ihm plötzlich der
Mund trocken wurde und ihm die Stimme versagte. »Und vor
allem bin ich dem Than dankbar, daß er dies möglich
gemacht hat. Ich habe… eine wichtige Mitteilung zu
machen.« Die Pause, die er nun einlegte, diente nicht zum
Nach-Luft-Schnappen und entstand auch nicht aus Verlegenheit auf
der Suche nach den richtigen Wörtern. Aber wenn Nomi diese
Leute nur für diese eine Aussage hergeholt hatte, wollte er
das doch ein wenig dramatischer machen. »Ich habe eine
Entscheidung getroffen«, sagte er dann, »und es war die
wichtigste Entscheidung meines Lebens.« Er machte noch eine
Pause. Niemand unterbrach ihn. Wenn das jetzt für die
nächsten Sätze so blieb, konnte er zufrieden sein. Nomi
atmete noch ein letztes Mal tief durch. »Wichtiger als die
Entscheidung, ob ich für das Licht oder für das Dunkel
kämpfen werde. Nein, was ich jetzt sage, wird keinem von euch
gefallen, außer mir natürlich. Ich habe erkannt,
daß ich der Auserwählte bin. Ich bin kein Werkzeug in
euren Händen und auch in keinen anderen. Es ist mein
Schicksal, meines allein, und niemand hat ein Recht darüber zu
entscheiden als ich selbst.« Jetzt redete er weiter. Solange
er redete, mußten sie ihm zuhören. »Ich werde die
Entscheidung, wer mich auf meiner Suche begleitet, nicht meinen
Eltern, meinem Lehrer oder Euch, Meister Hemon, überlassen. Es
ist meine Suche. Und wenn ich sage, Entscheidung, dann
heißt das nicht, ob mich nun Yun oder Devi als
Schwertkämpfer begleiten und wer von den beiden Kandidaten der
Kundschafter an meiner Seite sein wird. Ich entscheide selbst, und
nicht aus einer Vorauswahl, die man mir präsentiert - ich
suche mir meine Gefährten selbst.«
Nomi starrte ins Leere, während er sprach. Er wollte nicht
sehen, wie Meister Adam zusammenbrach, wie seine Eltern im Boden
versanken, wie seine Freunde ihre Masken fallen ließen und
begannen, ihn zu hassen. Sie mußten es wissen, und Nomi war
ihnen Ehrlichkeit schuldig, aber es machte ihn nicht
glücklich.
»Ich habe zu lange andere über mich entscheiden lassen,
und ich weiß, daß jeder einzelne von ihnen - von euch -
nur das beste wollte, für das Licht, für Tolai, für
sich selbst, und vielleicht auch irgendwo für mich. Aber es
bedeutete, daß ich niemals ich selbst sein durfte, daß
ich belogen wurde und gezwungen war, mich selbst zu verleugnen und
den Schatten, der ein Teil meiner Natur ist. Ich habe vieles
gelernt, nur nicht, aus mir selbst Stärke zu ziehen. Darum
werde ich jetzt aufbrechen. Nicht irgendwann, nicht in ein paar
Jahren, nicht wenn irgend ein anderer entscheidet, daß ich
reif dafür bin. Sondern sofort. Es steht viel auf dem Spiel,
und nicht nur für mich. Dieser Krieg widert mich an. Ich will
ihm ein Ende setzen, und es ist mir sogar egal, wer gewinnt, wenn
nicht noch mehr Leute unnötig für die eine oder andere
Seite ihr Leben lassen. Irgendwo ist ein Gläsernes Schwert,
das auf mich wartet. Und ich werde gehen und es mir holen.«
Er mußte Luft holen und schlucken. »Morgen breche ich
auf. Und niemand wird mich davon abhalten.«
Nomi schloß die Augen und preßte die Handflächen
gegeneinander. Erst jetzt merkte er, wie sehr er schwitzte, und
schwindelig war ihm noch dazu. Er hatte gesagt, was er sagen
wollte. Jetzt wollte er nur noch wegrennen. Und zwar, bevor irgend
einer der anderen den Mund öffnete. Warum konnte nicht die
Leute bannen, wenn ihm danach war? Warum konnten das nur diese
verdammten Wirker?
»Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit«, sagte
er noch. Das sollte Aufforderung genug sein, die Versammlung wieder
zu beenden.
»Bist du fertig?« fragte Meister Adam. Und er klang
nicht gut. »Ich werde jetzt zu diesem hochtrabenden Gefasel
nichts sagen - aber das Licht sei dir gnädig, wenn ich dich
morgen in der Schule zur Besinnung bringen werde - schon allein,
weil du heute nicht zum Unterricht erschienen bist!«
»Ich glaube, Ihr habt mir nicht zugehört«, sagte
Nomi. »Ich werde ab morgen nicht mehr zur Schule
kommen.« Er sah seinen alten Lehrer nicht mehr an, sondern
blickte nur noch auf seine Eltern. Sie saßen am Boden, nahezu
reglos, und völlig aus der Fassung - der Vater hielt seine
Frau im Arm, schüttelte den Kopf, und starrte auf seine
Hände. Keiner von beiden erwiderte Nomis Blick. Sie konnten
noch froh sein, daß niemand sonst auf sie achtete.
»Nomi.« Mit väterlicher Gemächlichkeit trat
Meister Hemon an ihn heran, freundlich, verständnisvoll,
verlogen. »Nomi, ich verstehe ja, daß du ungeduldig
wirst. Seit so vielen Jahren wirst du auf deine Aufgabe
vorbereitet, und niemand verübelt dir, daß dich der
Tatendrang packt, und daß dies mit jugendlichem Ungestüm
vorgeht und du nun plötzlich alles selbst entscheiden
mußt, ist nicht weiter verwunderlich, wenn man dein Alter
bedenkt. Aber du kannst noch nicht aufbrechen. Es ist noch zu
früh.«
»Und ich sagte bereits«, sagte Nomi und
verschränkte die Arme vor der Brust, »daß ich auf
diese Sätze nichts mehr geben werden. Ich weiß,
daß die Zeit jetzt gekommen ist.«
»Nein, Nomi, du verstehst nicht.« Jetzt wurde Hemons
Stimme etwas schärfer. »Wie willst du das Gläserne
Schwert suchen? Und wo? Seit Jahren sind meine besten Seher und
weisesten Forscher auf der Suche nach seiner Heimstatt. Willst du
ziellos ins Dunkel rennen? Das kann ich, um deiner selbst willen,
nicht zulassen.«
Nomi schüttelte den Kopf. »Nein. Eure Mühen sind
nicht vonnöten. Ich bin derjenige, der das Gläserne
Schwert finden wird. Weil ich der einzige bin, der es finden
kann. Sollen sich Eure Seher die Augen verrenken und die
Zähne ausbeißen - es wird zu nichts führen. Oder
glaubt Ihr, daß ihn den Jahrhunderten, seit die Prophezeiung
vermacht wurde, noch niemand auf die Idee gekommen ist, selbst nach
dem Schwert zu suchen?« Er lachte, als er sah, wie Meister
Hemons Lächeln einen Moment lang starb. »Ihr könnt
nichts mehr für mich tun, Meister Hemon. Seid mit dem
zufrieden, was Ihr aus mir gemacht habt, und laßt mich
gehen.« Lauter fügte er hinzu: »Und das gilt auch
für Euch, Meister Adam! Ohne Euch hätte ich nie die Kraft
gefunden, heute hier zu stehen. Aber der Tag wird kommen, da kann
ich nicht mehr auf andere angewiesen sein. Da muß ich meine
ganze Kraft aus mir selbst ziehen.«
Meister Hemon nickte säuerlich. »Gut, Nomi, wie du
willst. Dann brich auf, morgen, von mir aus. Ich werde das
nötige vorbereiten. Andor und Kavi werden dich
begleiten.«
»Ich sagte: Nein.« Nomi beobachtete Kavi, wie der mit
verkniffenen Lippen die Hände zu Fäusten ballte und eine
solche Wolke an Haß abstrahlte, daß es ihm allein schon
genug Tien für mehrere Stunden Bannens einbringen
sollte. »Ich will keine Begleiter, die ich nicht selbst
suchen kann. Ich bin der Auserwählte. Und der
Auserwähler. Ob es euch paßt oder nicht. Oder dir, Kavi.
Oder euch anderen.« Er nickte den anderen Jungen zu, die als
Grüppchen zusammenstanden und vermutlich gerade darüber
diskutierten, ob Nomi nun endgültig den Verstand verloren
hatte und was sie dagegen tun konnten. »Ich habe mich
für meinen Begleiter bereits entscheiden«, sagte Nomi.
»Ich werde nur ihn mitnehmen und sonst niemanden.«
Kavi verzog gehässig das Gesicht. »Und wer soll das
sein, hä? Etwa dein feiner Freund Dhuan?« Allen Anstand
vergessend, spuckte er aus oder deutete es zumindest an. »Du
wirst schon sehen, was du von dem hast!«
»Du irrst«, sagte Nomi ruhig. »Ihr irrt
alle.« Er blickte von einem zum anderen. Er hatte sie so
schwer und tief getroffen, wie es nur irgendwie ging - jetzt konnte
er sich an ihren leeren Gesichtern schon fast wieder erfreuen.
»Und wer soll es dann sein?« fragte Meister Adam
leise, stellvertretend für alle anderen, die nicht mehr zu
fragen wagten.
Nomi lächelte. »Ich entscheide mich für
Shen«, sagte er. »Der Flötenspieler wird mich
begleiten auf meinem Weg ins Dunkel.« Und dies zu sagen,
wäre ein echter Triumph gewesen - wenn da nicht noch eine
kleine unerledigte Kleinigkeit gewesen wäre: Der
geheimnisvolle Fremde ahnte noch nichts von seinem Glück.
Aber diese Kleinigkeit konnte warten auf später. Erst einmal
mußte Nomi es schaffen, diese Mauern wieder zu verlassen,
lebendig. Denn in diesem Moment war niemand im Saal, der Nomi nicht
am liebsten erschlagen hätte.
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